
Dienstag, 12. April 2005
Michael Hussar malt morbid-erotische Bilder von gefährlichen Mädchen und Köchen, die wie Dalí aussehen. Eine barock-surreale Welt, in der ich mich gleich zuhause fühle.
Freunde der pronografischen Kunst werden in diesem Röntgenraum weiter schauen können als jemals zuvor. Wim Delvoye setzt Eros und Thanatos in ziemlich aufregende Bilder, die - wie soll man es anders sagen? - unter die Haut gehen. X-Ray-Sex löst uns endlich von der Gefangenheit unserer Haut und den bloßen Äußerlichkeiten der Oberfläche. "Tiefer, tiefer" bekommt eine neue Bedeutung, transgressive Akte, radikal-pronografische Körpereröffnung eben- falls. Doch bislang gilt, don't try this at home!
(Ich hingegen habe mir soeben über eine Zeitungsanzeige so eine Röntgenbrille mit roten Spiralen vorne drauf bestellt. Damit kann man alle nackt sehen, wenn ich den Text richtig verstanden habe!)

Now my sweet knife rusts tomorrow
On my confession that is waiting to be heard
(Marilyn Manson, "Spade")
Der dunklere Zwilling lacht sein groteskes Lachen, Zähne frei, beiß gleich rein, hier mein Arm. Ruchlos, reuelos, mit Stolz sogar, von sich berauscht, stumpf.
"Man sucht sich diese Menschen", sagt sie und weiß das besser als ich selbst. Was also lernt man, braucht man, was sind die Nullstellen, die Löcher, die gefüllt werden müssen ausgerechnet durch solche Menschen. Die Intensität, das Drama, die "Reibung", sagt sie. Sie erzählt von sich. Gemessen daran, war ich auf einem Waldspaziergang. Aber Schmerz ist nicht teilbar, nicht vergleichbar. Wir sind hier nicht zum Wettkampf, kein Stierkampf, zum Glück. Wir sitzen hier nur so.

Montag, 11. April 2005
ich würde ja gerne mal einen Studenten aus dem Westen bei Ihnen sehen, der ausschließlich Fragen wie "Wer war der Herausgeber des Eulenspiegel?" oder
"Wie heißen die Abrafaxe?" beantworten muß.
Mit freundlichen Grüßen,
Ihr gelegentlicher Zuschauer Herr Kid

Wenn das Volk weg ist, wie wähle ich mir dann ein neues?
Schwarzgeteerte Fässer, gefüllt mit Erinnerungen, die zum Teil noch nicht einmal die eigenen sind. Dich halten, dich verletzen, eine Hand reichen, ein Messer verstecken. Wenn du weg bist, wohin wende ich mich dann? Abends stehe ich oft am Bahnhof, ein kalter Wind weht über den Bahnsteig, zerschneidet die Stimme aus dem Lautsprecher, trägt die Stümmelwörter fort über die Gleise. Ich gebe vor, auf jemanden zu warten.
Jemand, der doch nicht aus dem Fernzug steigt. Die Blume in meiner Hand, ich gebe sie weg, ich schenke sie dem jungen Mann, der um den Wagenstandsanzeiger kreist, aufgeregt, wie ein Hund vor der Jagd. Immer wieder schaut er auf die Uhr, vergleicht sie mit der Anzeige auf Gleis 11. Ich weiß, er hat die Blumen vergessen, und ich brauche sie sowieso nicht mehr.
Wir sitzen zusammen hinten im Bus und ich denke an The Sun Also Rises, den Kriegsverletzten und der Hungrigen und den Stierkämpfer. "Kriege, die ich gesehen habe", zitiere ich und spüre zwischen den Blumen deine Hand auf meinem Bein. Wir fahren zur Beerdigung, und ich versuche mich an die alten Bilder zu erinnern. Es war das letzte, was uns verband. Sie schickte mir regel- mäßig Bilder, immer neue Varianten, immer neue Versprechen. Sehe ich sie heute, das bedingungslose Kaspertheater, meine ich sie zu spüren, ein Geist, ein verschollenes Bataillon, das sich dem Feind ergeben hat.
Manche Dinge erlebt man nur einmal. Bei manchen Dingen ist dies auch genug. Was aber, wenn man merkt, daß man nichts anderes gelernt hat? Geht man dann zum Veteranentreff? Zeigt man seine Narben, flucht man auf die Monarchisten oder die Republikaner? Was, wenn man am Ende gar nicht mehr weiß, wer auf welcher Seite stand? War man Gegner, Alliierter oder wenigstens Komplize? Oder wie so oft doch nur Kanonenfutter?
Am Ende geht es nicht mehr um Sieger und Besiegte, denn der Sieger geht immer leer aus. Am Ende, dann nämlich, wenn die Party vorbei ist, das Fest fürs Leben, legt man die Stierhoden achtlos beiseite. Diese Trophäen auf dem Teller, wem bedeuten sie noch etwas. Längst ist man in einem anderen Land.

Freitag, 8. April 2005
I won't desert you
I don't know what to say
I really hurt you
I nearly gave it all the way
(New Order, "Waiting For The Sirens' Call")
Nachdem ich seit Tagen den Stream des Albums gehört habe, mußte ich heute mal die musikalische Wochenendgrund- versorgung sicherstellen. "Get Ready" gefiel damals besser, denn es enthielt großartige Zeilen wie "You've got to pull yourself together man" und ließ mich einige Male über- leben, wenn ich einge- schlossen in meinem Zimmer in Verzweiflung und Selbstmitleid zu zerfließen drohte.
Es gibt Menschen, die sagen, durch New Order geriete man überhaupt erst in solche Zustände, aber ich versichere, die Herrschaft, der ich damals ausgesetzt war, kam nicht mit solch freundlich-melancholischen Baß-, sondern eher enthemmten Amokläufen daher. Aber was plappere ich aus dem Keller.
That was then, and this is now. Heute heißt es, ein helles, bestimmtes "NO" in freundlichem Orange zu genießen. "We all want some kind of love/But sometimes it's not enough" - kommt es uns lakonisch. New Order muß man immer sehr laut hören, weil man sonst diese großartigen Baßlinien nur im Ohr und nicht im Herzen spürt. Die vibrierenden Baßsaiten schlingen sich nämlich immer enger ums Herz, bis sie es langsam zerschneiden, und zwei blutige Klumpen hervorpressen. Und geweint wird stets am Ende, durch die Nacht dann gejagt, wenn es zu spät ist. Schon deshalb kennen sich New Order gut aus in meiner Welt. "I need a second chance/This time I'm gonna make it right" - You think!, rufen einige. Aber das sind auch die, die "I'll never let you go" als Bedrohung empfinden. Ja, nein, kein Zurück. Es kann immer nur ein Neuanfang sein.
"Guilt Is A Useless Emotion." Reue aber die Basis für Vertrauen.

Donnerstag, 7. April 2005
In Londoner Telefon- zellen tapezieren sie die Wände: Visitenkarten freundlicher Damen, die für Geld und gute Worte verschiedene Dienste anbieten. Dieses, jenes und auch das andere.
Ähnlich mannigfaltig wie die offerierten Gefälligkeiten ist die Gestaltung der pikanten Aufmerksamkeits- heischer: Von simplen, fotokopierten Blättchen bis zu aufwendigen Hochglanzkarten im 4-Farb-Druck ist alles dabei. Auf einem Flohmarkt kaufte ich vor ein paar Jahren einem Sammler einige seiner verlockenden Karten ab - er hatte Kartons davon. Ich selbst kann nun nicht anfangen alles zu sammeln. Aber eine Auswahl dieser Flyer sind wirklich so liebreizend nett, die sollten in einem gut sortierten Haushalt nicht fehlen. Ob Mary, Jane oder die Bilder von Lily - sie sind niemals herablassend. Nein, sie sind freundlich, kommunikativ und lassen mich nachts gut schlafen.

Mittwoch, 6. April 2005
Ich war nie ein besonderer Fan von Saul Bellow. Ich habe einige seiner Romane gelesen, konnte aber zu seinem Stil nie recht den Zugang gewinnen. In Herzog (1960) erzählt er die Geschichte eines kleinen, verzweifelten Geschichtsprofessors. Von seiner bösartigen Frau verlassen, stürzt er in tiefe Verzweiflung und beginnt als therapeutische Maßnahme, Briefe zu schreiben.
Ein pikareskes Treiben, ziellos das Schicksal befragend, um die Themen Sex, Macht, Tod und Erfolg kreisend. Heute hätte Herzog ein Blog, so weit ist das klar. Ein Held in der Krise, tragikomisch verstrickt im Chaos, nie am Ziel.
Jetzt ist Saul Bellow angekommen.

Was Dich schmerzt, ich sag es im Bösen:
Und uns quält ein fremdes Wort.
Unsere Hände werden im Dunkeln sich lösen,
Und mein Herz wird sein wie ein kalter Ort.
(Georg Heym)
7.2. bis 1.4.2005 (Dazu Die Ärzte: "Teenagerliebe".)
Haben die beiden kein Blog? Vielleicht hätte auch ein Blick in meine neue Broschüre das Schlimmste verhindern können.
Haltet Euer Herz fest, gerade jetzt im Frühling!
[Nachtrag: Seit dem 1. Mai scheint Olli wieder herzlicher geworden zu sein. Wie ich immer sage: Geduld und Distanz wirken oft Wunder. Ich wünsche viel Glück.]

Dienstag, 5. April 2005
Jede Geschichte hat drei Seiten.
Deine. Meine. Die Wahrheit.
(Robert Evans, The Kid Stays In The Picture.)

Under Byen im Molotow
Ihr Album heißt übersetzt ungefähr so viel wie "Ich bin es, der die Bäume zusammenhält". Heute ließen Under Byen (Unter den Städten) Klanglandschaften im Molotow wachsen, wabernde Nebel und gierige Triebe und Tentakel, die sich durchs Halbdunkel schlängelten. Vielleicht nicht ganz so vampirisch, wie Herr Sweetmaker meint, aber definitiv eine düstere Erotik, von skandinavischer Schwermut durchtränkt.
Das Album höre ich seit ein paar Wochen. Es wächst. Wie die Bäume.

Montag, 4. April 2005
What's that? Punk? You wanna fuck up the system? Go to business school!
Haha, großartig. Ghost World. Thora Birch, absolutely loveable. Heirate ich übermorgen.
(Ghost World. USA 2000. Regie: Terry Zwigoff)
