Haben und nicht haben


Wenn das Volk weg ist, wie wähle ich mir dann ein neues?

Schwarzgeteerte Fässer, gefüllt mit Erinnerungen, die zum Teil noch nicht einmal die eigenen sind. Dich halten, dich verletzen, eine Hand reichen, ein Messer verstecken. Wenn du weg bist, wohin wende ich mich dann? Abends stehe ich oft am Bahnhof, ein kalter Wind weht über den Bahnsteig, zerschneidet die Stimme aus dem Lautsprecher, trägt die Stümmelwörter fort über die Gleise. Ich gebe vor, auf jemanden zu warten.

Jemand, der doch nicht aus dem Fernzug steigt. Die Blume in meiner Hand, ich gebe sie weg, ich schenke sie dem jungen Mann, der um den Wagenstandsanzeiger kreist, aufgeregt, wie ein Hund vor der Jagd. Immer wieder schaut er auf die Uhr, vergleicht sie mit der Anzeige auf Gleis 11. Ich weiß, er hat die Blumen vergessen, und ich brauche sie sowieso nicht mehr.

Wir sitzen zusammen hinten im Bus und ich denke an The Sun Also Rises, den Kriegsverletzten und der Hungrigen und den Stierkämpfer. "Kriege, die ich gesehen habe", zitiere ich und spüre zwischen den Blumen deine Hand auf meinem Bein. Wir fahren zur Beerdigung, und ich versuche mich an die alten Bilder zu erinnern. Es war das letzte, was uns verband. Sie schickte mir regel- mäßig Bilder, immer neue Varianten, immer neue Versprechen. Sehe ich sie heute, das bedingungslose Kaspertheater, meine ich sie zu spüren, ein Geist, ein verschollenes Bataillon, das sich dem Feind ergeben hat.

Manche Dinge erlebt man nur einmal. Bei manchen Dingen ist dies auch genug. Was aber, wenn man merkt, daß man nichts anderes gelernt hat? Geht man dann zum Veteranentreff? Zeigt man seine Narben, flucht man auf die Monarchisten oder die Republikaner? Was, wenn man am Ende gar nicht mehr weiß, wer auf welcher Seite stand? War man Gegner, Alliierter oder wenigstens Komplize? Oder wie so oft doch nur Kanonenfutter?

Am Ende geht es nicht mehr um Sieger und Besiegte, denn der Sieger geht immer leer aus. Am Ende, dann nämlich, wenn die Party vorbei ist, das Fest fürs Leben, legt man die Stierhoden achtlos beiseite. Diese Trophäen auf dem Teller, wem bedeuten sie noch etwas. Längst ist man in einem anderen Land.

Homestory | 03:06h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
arboretum - Montag, 11. April 2005, 11:51
Man hat überlebt. Den Irrsinn, den Krieg. Letztendlich ist das das einzige, was zählt.

Und wer kein altes Leben hatte, in das er zurückkehren konnte - und wer hatte das schon, dort war das Leben schließlich auch weitergegangen -, der fing ein anderes an. Manchmal gelang das mit denselben vertrauten Menschen. Oder eben mit anderen.
Denn auch wenn man nichts anderes gelernt hat, lernt man trotzdem immer etwas dazu, nicht wahr?

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kid37 - Montag, 11. April 2005, 12:07
Überlebt haben ist eine wertvolle Eigenschaft. Das Bombensplitter-Trauma und das nervöse Zucken machen manchmal noch Probleme. Dann strauchel ich, um den Nihilismus der Lost Generation zu überwinden. Es kann nicht sein, daß alle Ideale und moralischen Kategorien wertlos geworden sind, nur weil sie im Krieg besudelt und mißbraucht wurden. Man redet dann viel Blödsinn.

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arboretum - Montag, 11. April 2005, 12:46
Nein, sie sind nicht wertlos. Vielleicht gelten sie sogar um so mehr, weil man das andere, die Kriege mit eigenen Augen gesehen hat.

Auf jeden Fall sollte man sie sich bewahren. Man braucht sie noch. Vielleicht ist es sogar so, dass man ohne sie nicht in das andere Leben findet.

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mark793 - Montag, 11. April 2005, 12:53
Die schlimmen Träume
sind treue Begleiter durch den Friedensalltag. So oft träume ich noch davon, wie ich mitten im Feuergefecht den rotglühenden Lauf meines MGs auswechseln muss und wie es den Kameraden zerlegt, der mir Munitions-Nachschub in das Sandsacknest bringt. Man kann nur drauf hoffen, dass die next generation nicht ganz so lost ist.

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modeste - Montag, 11. April 2005, 16:05
Die Nachkriegszeiten, sagen ja Kenner der menschlichen Seele, würden übergangslos abgelöst von einer neuen Vorkriegszeit. Ein neues Land durchpflügen, und hoffen, das man irgendwo mit Blumen und Bannern empfangen wird. In einem fremden Land König werden und bleiben.

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kid37 - Montag, 11. April 2005, 22:39
Als hoffnungslos unbelehrbarer Romantiker gebe ich die Questen nicht auf. Bunte Girlanden und tanzende Jungfrauen, die aus Weidenkörbchen Blumen streuen - das wäre mal was. Die müssen ja auch nicht wissen, daß ich in Wahrheit ein Diktator bin.

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gert - Montag, 11. April 2005, 23:34
He Kid...
Einige deiner Beiträge haben mir gefallen. War mal auf der Seite von "Modeste". Hab mich daneben benommen. Nu ist es zu spät. Kann den Schaden nicht mehr flicken. Die redet mit mir nicht mehr. Egal. Aber sie hatte einen Beitrag, von einem Österreicher. Die hatten da ein Philosophie-Net. Ich find den Beitrag nicht mehr. Vieleicht hast du die Connection. Wenn ja, dann schreib sie doch als Kommentar bei "Modeste" hin. Oder tu sie hier rein. Würd mich interressieren, was dort abging.
Grüsse.

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kid37 - Dienstag, 12. April 2005, 00:03
He Gert
Mir wäre es nicht "egal", wenn Frau Modeste nicht mehr mir reden würde. Insofern klingt Ihr Beitrag, sollte dieser Zerknirschung ausdrücken sollen, nicht sehr glaubwürdig.
Aber egal, in der Tat.

Völlig uninteressant hingegen finde ich das Gespamme für dieses merkwürdige Forum, das zur Zeit die Blogs überzieht. Ich fürchte, ich kann Ihnen leider gar nicht helfen.

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gert - Dienstag, 12. April 2005, 21:14
He Kid
Schade.

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kid37 - Donnerstag, 14. April 2005, 01:31
Sag, was soll es bedeuten...
Da arbeiten sich aber welche dran ab. Haha, köstlich. Endlich mal was zu lachen hier im Keller.

(Mal wieder Hemingway lesen?)

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modeste - Donnerstag, 14. April 2005, 01:42
Wo haben Sie die denn her?

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mark793 - Donnerstag, 14. April 2005, 01:45
Köstlich
In welchem Heim für schwer erziehbare Jugendliche haben Sie denn diese aufschlussreiche Konversation mitgeschnitten? Und wie kommen die überhaupt an Ihren Beitrag?

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kid37 - Donnerstag, 14. April 2005, 01:46
Trudelte als Referrer bei mir ein. Dachte bei dem Namen erst, die verkaufen mir jetzt Verlängerungen oder blaue Pillen, aber so war es auch schön. ;-)

Der mit dem Ringelnatz-Zitat kam der Sache wenigstens nahe.

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