Montag, 4. November 2024
In meinem humoristischen Sammelband mit Erzählungen Ein Vorfall in Aspik gibt es eine Geschichte über eine Nacktschneckenplage, die über die Stadt hereinbrach, nachdem es regnete und regnete und nach kurzer Pause wieder regnete und regnete. Feuchtigkeit kroch in die Wände, die Bücher und in die Seelen, die Nachbarn tropften die hölzernen Stiegen hinauf, aßen in ihren klammen Küchen Wassersuppe und verdünnten Tee, die Fensterscheiben waren von innen und außen mit einem feuchten Film beschlagen und die Schnecken krochen überall auf schleimig-zähen Spuren umher.
Man musste Geräte, Apparate und Tastaturen auf Hochbeete stellen, so schlimm war es. Der Schriftsteller im dritten Stock kam mit seiner Abhandlung über die Küchenschublade kaum voran, weil es ihn, einem überästhetischen Menschen von schwacher Gesundheit, ekelte und Schweiß auf die Stirne trieb, der auf die Manuskripte tropfte und alles noch feuchter machte.
Der Diakon Heinrich F. Werthebrecht gilt gemeinhin als Erfinder der Küchenschublade, in der alle nicht weiter sortierbaren Gegenstände eines Haushalts wandern. Korken, Verschlüsse, eine halb-abgebrannte Kerze, Streichhölzer, Untersetzer, ein paar Münzen und ein Schraubendreher, Batterien für die Küchenuhr, eine Ersatzbirne für den Herd und alte Keramiksicherungen zum Einschrauben, für die es keine Verwendung mehr gibt. Nicht alles war zu Werthebrechts Zeiten schon verbreitet, aber er hatte erkannt, dass... Weiter gelang es ihm nicht, weil eine dicke, schwarze Schnecke von der Decke fiel, auf die Tasten, auf die seine knochigen Finger gerade schlagen wollten.
Man kann froh sein, dass dies alles nur symbolbehaftete Erfindungen sind, schlüpfrige Fieberfantasien wie bei den Surrealisten, denen immerzu Nacktschnecken in Schuhe kriechen. Bei mir dementgegen die Handwerker, die mal eben in die Wohnung wollen, Räume sehen, die nie ein Mensch betrat, jedenfalls selten und jedenfalls länger ein paar Tage schon nicht mit Aufräuminteresse und einem Schrubbgerät. Nicht immer nämlich kommt alles Gute von oben, denn es tropft aus der Decke unter mir. Man rammt die Dornen von Feuchtigkeitsmessern in die Wände, gleitet mit metallischen Kugelsensoren über die Bodenfugen, prüft Rohre und Abflüsse, zeigt mit dem Finger auf meine Spülmaschine. Ich schließe alles aus. Der Handwerker sagt kryptisch: "Ich kenne das. Ich kenne das alles. Ich habe Dinge gesehen."
Umzugspläne schießen durch meinen Kopf, und ich schiebe unauffällig mit dem Fuß eine Nacktschnecke außer Sichtweite. Ein gut gedämmtes Häuschen mit Wärmepumpe, drei Hühnern, einer Ziege und einem Hund in Menschenferne (DSL gerne). Ein alter Turm mit Balkon, auf dem ich mit missmutigem Gesicht ein spätes Frühstück nehme (sofern die Tiere das erlauben) und Wind und Wasser trotze. Missmut nun beim Handwerker, der die Sockelleiste der Küche nicht abbekommt und "erst mal nichts kaputtmachen" möchte. Fühle mich selbst bereits jetzt kaputt. Als gebe es nicht Baustellen genug im Leben! Immerhin, die Nachbarn unter mir sind entspannt, und das Leck mag auch in deren Wohnung sein. Junge Leute, gute Menschen, selten da.
Ob ich auch Schnecken gesehen hätte, fragen sie. Ich lüge freundlich lächelnd "nein" und erwähne eine schöne Geschichte von Patricia Highsmith um einen nicht immer ganz gewissenhaften Privatforscher auf diesem Gebiet. Es führt uns nicht weiter, aber wir bleiben in Kontakt.
Montag, 28. Oktober 2024
Heute hat Stephen Morris Geburtstag, Schlagzeuger bei Joy Division und New Order, von dem ein Bandmitglied einst sagte, er sei "daft as a broomstick", was in Manchester so viel bedeutet wie "eigentlich ein dufter Typ". So meine Gedankengänge unter anderem, während ich auf meiner Chaiselongue liege, die Regentropfen auf der Fensterscheibe zähle und ein bisschen unschuldiges Indiegeschrammel höre, als sei ich ein junger Mensch, der besser einen Besenstil greifen sollte und die Stube kehren.
Nun kann man aber auch mit und auf der Chaiselongue Karriere machen, wie die britsche Band Wet Leg belegt. Eigentlich ein Duo aus zwei Freundinnen mit Gitarren, die sich zur weiteren Rhythmusverstärkung ein paar Jungs als Backingband geholt haben, zeigen ihre kleinen Miniaturen, wie es Großbritannien seit Jahrzehnten immer wieder auf verblüffende Weise schafft, Welle um Welle an kleinen Indiebewegungen hervorzubringen, wie die letzten Jahre um frauendominierte Bands wie Dry Cleaning, King Hannah und eben Wet Leg beweisen.
Deren Geschichte geht ungefähr so: Besagte zwei Freundinnen machen eher für sich selbst und ihre Freunde in der Provinz der Isle of Wight Singer-Songwritermusik mit unbekümmert frivolen Texten und unschuldig-rotzigen Witzen ("Is your muffin buttered?"), poofen gegenseitig auf ihren Sofas, trinken Bier und essen Kekse, gehen ihren unaufregenden Alltagsjobs nach - und zack, ich weiß nicht genau, wieso (ich glaube, ein Song wurde bei Futurama gespielt), finden sie sich im Zirkus der großen britischen Festivals wieder, spielen ihren Hit "Chaise Longue" vor unfassbar 50.000 Leuten in Glastonbury, die alle ihre Texte mitsingen. "Excuse me! - What?" wird da zum Mitmachspiel, alle sind guter Laune, die beiden Inselfrauen haben warmes Bier, einen Degree ("I went to school and got the big D") eine Chaiselongue und die Zeit ihres Lebens, können es wahrscheinlich selber nicht fassen, ändern anderswo Zeilen wie "suck my dick" ins angebrachtere "suck my clit", was die BBC nervös einen Einklinker "Strong language" einblenden lässt, aber nicht die Übertragung [YT] verhindert. Aber gut, wir haben Schlagerfestivals im TV.
Neben der sich munter verströmenden Vitalität der Jugend spielen die zwei aber vor allem in ihren Videos ganz interessant mit der Gothic-Tradition des englischen Hinterlandes. Dazu schaue man sich mal breit, laut und in Farbe (ich meine die Einstellungen des TV-Geräts) den fantastischen Auftritt [YT] bei den Brit Awards 2023 an. Der Tanz heißt wohl "Morris", wie ich erfuhr, und das Ganze ist natürlich pures The Wicker-Man - und zwar die Originalversion von 1973. Erntetanz mit Tiermasken, der ein Opfer fordert, ein unschuldig-gefährlicher Wirbel also, der einem da im fruchtigen Grün der rauen Landschaft unter der Türschwelle durchkriecht.
Solcherart also die Gedanken, während ich gerade noch so eine Kerze ausblase auf meine alten Tage, Sacher-Torte und handgeschöpfte Schokolade betrachte und weiter den Regen, wie er auf der Fensterscheibe herunterläuft.
Donnerstag, 17. Oktober 2024
Auf den Bahnsteigen des Hamburger Hauptbahnhofs wurden die Sitzbänke entfernt, denn der Rast Bedürftige fahren nicht Bahn. Die frühzeitig Erschienenen nicht, die Alten nicht und auch keine Behinderten. Nur junge, frische Menschen mit Muskeln, Rucksack und Zugbindungssparpreistickets. Die können sich gegen die ersatzweise aufgestellten angeschrägten Anlehnhilfen stellen. Wer nicht stehen kann, sinkt kniend hin zu Boden und klaget seinem Bahncard-Gott. Eine provokante Gedankenlosigkeit..
Im Waggon stolpern und blockieren und ebenfalls wehklagen die, die zu stur für eine Reservierung waren und nun den Koffer- und Personenverstauverkehr aufhalten wie Menschen, die einen Regenschirm einmal im Haus geöffnet haben oder sonstwie vom Pech verfolgt sind. Darunter welche, die nicht begreifen, dass in dem Satz "Entschuldigen Sie bitte, wir haben reserviert" eine Handlungsaufforderung liegt. Wer sitzt, darf aus dem Fenster schauen. Eine gleichförmige Landschaft rauscht vorbei, das platte Land des Nordens. Das sanfte Tak-Tak der Räder wie anschwellender Bockigkeitsgesang auf den Schienen. Arkadien des Ruhebereichs. Ein Knirps, der kaum sprechen kann, sitzt bei seinem Vater auf dem Schoß und spielt auf dem Tablet ein sogenanntes Lernprogramm. Bilderrätsel, von kleinen Fingern schneller gelöst als ich erkennen kann, um was es dabei eigentlich geht. Der künftige König der Captchas ist geboren!
Auf Arte läuft eine Doku zur Frage Revival des Zugfahrens? mit Comiczeichner François Schuiten ("Die geheimnisvollen Städte") und seinem Hund Jim. Darin das Wort von der Banalisierung des Bahnfahrens (also "Bahnalsierung"), was der Herabwirtschaftung erst recht die Weiche gestellt hat. Bahnhöfe, die nicht mehr Kathedralen, sondern (ruheplatzlose) Abfertigungshallen gleichen, Fahrpläne mit Empfehlungscharakter, Verbindungen auf gut Glück. Zehn Minuten Verspätung auf der Hinfahrt, 20 bei der Rückkehr. Das geht doch. Es waren aber auch Direktverbindungen ohne Anschlussprobleme.
Ein von mir gestalteter Zug der Träume, so meditierte ich in einem dieser engen Sitze mit den schmalen Lehnen, besäße einen Waggon mit einer Maniküre und einem Frisör - damit man nicht derangiert zum Geschäftstermin oder Familienfest erscheint. Für adäquate Kleidung sorgte ein Waggon mit Mister Minit und Änderungsschneiderei, fürs Wohlbefinden sorgte ein Rückenmasseur. Nachmittags würde von einem Konditor portugiesisches Süßgebäck verteilt, im Bordnetz liefen Beiträge aus der Antville- und Blogger.de-Welt.
Sonntag, 6. Oktober 2024
Selbstbild in frostiger Stimmung
Kleine Statusmeldung: Die Heizperiode hat (für die Meisten) begonnen, hier unterm Dach aber ist davon noch nichts zu spüren. Eine Einstellungssache, wie meistens im Leben. Die Anlage hier im Haus hat ihre Eigentümlichkeiten, braucht ein wenig Zuspruch, vielleicht auch Druck, einen unbefangenen, interessierten Zugang und obendrein Techniker, die outside of the box (jetzt aber!) denken können. Ich schreibe also Nachrichten an die Hausverwaltung, manche gereimt, manche auch gut gemeint, bitte um Nachsicht und Nachjustage, aber bislang ohne Erfolg. Fröstelige Abende sind das, die man keinem wünschen möchte. Glücklicherweise bin ich arriviert und besitze gleich zwei Wärmflaschen - und was soll ich sagen: Ich setze sie ein!
Unerfreuliche Lage also, vor allem, da ich nachdenken muss. Wärme ist im Norddeutschen selten zu finden, daher kann das mit diesen Urlaubsfiaskos in meinem Leben nicht weitergehen. Ein Plan muss her, und diesmal rechtzeitig. Da ich bislang nur eine einzige Fernreise unternommen habe (in eine große Stadt in den USA), habe ich noch eine gut, denke ich, ehe Klimaaktivisten ihren Thailandurlaub unterbrechen und mir auf die Pelle rücken. Jünger werde ich zudem auch nicht, meine Schulter ebensowenig, also sollte ich da nicht zu lange warten. Zwei grobe Ziele habe ich daher mal ohne Arg und übertriebenes Herzpumpen für 2025 ins Auge gefasst. Entwder noch einmal nach New York, denn überraschenderweise fand ich es beim ersten Mal doch recht interessant und auch verwinkelt genug, die ein oder andere Gasse noch mal genauer zu erkunden, vielleicht etwas Touristisches dort zu machen, vielleicht nicht ganz so blind an historischen Orten (das sind dort alle) vorbeizulaufen, keinesfalls aber "Kreditkarten glühen lasen", wie das manche so machen, sondern den Luxus genießen, einfach nur Rumzusitzen, Hinzuschauen, Hinzuhören, Atmosphäre atmen.
Man könnte auch in die andere Richtung. Seit den 90er-Jahren interessiere ich mich ja bekanntlich für Japan - das war damals grell geschminkt, oder wie sagt man, hip - wobei ich mittlerweile die inneren Bilder zwischen Otaku und Lost in Translation abgestreift habe und mich auch zu alt für Moshimoshi in Harajuku fühle. (Wer aber weiß, Reisen macht jung.) Damals war das für mich aber leider viel zu teuer und Mitreisen wollte schon aus diesem Grund auch niemand. Jetzt ist es nicht billiger, aber ich dachte, komm, letztes Hemd, keine Taschen, es ist ein alter Traum, vier Worte Japanisch kennst du auch, und du kannst doch dort Deutschkurse zum Thema der/die/das Blog geben. Oder als Deutschlandexperte in TV-Shows auftreten. Mir fällt ja laufend was ein, und solange wieder keiner sagt, das sei aber Käse, was mir da einfällt und alle jungen Blätter herzlos zupft, sind das auch regelmäßig super Ideen. Auch diese Reise mit unbefangenem Ansatz, dann halt allein und dafür im eigenen Tempo. Vieles weiß ich ja schon über dieses fremde Land. Kein Wasser in Häusern trinken, auf deren Dach ein alter Wasserspeicher steht und lange, schwarze Haare aus der Leitung kommen. Keine Spiralen anstarren. Keine alten Videokassetten abspielen. Ich bin im Kino gewesen, mir macht keiner was vor.
Andererseits kann man auch in New York gut Japanisch essen. Und schon sind sie wieder da, die Gedankenpendel nach links und rechts, hin und her. Darüber will ich eigentlich nachdenken, Heizung oder nicht. Wie ginge es besser als mit kühlem Kopf? Das ist kein Wartungsmangel, das ist eine Chance.
Sonntag, 29. September 2024
Wenn ich morgens nach dem Erwachen mein Tagewerk beginne, rufe ich mir gut zu "Immer in den Schmerz reingehen" und meine damit nicht die conditio humana oder die gesellschaftliche Gesamtsituation, sondern ganz profan mein Schultergelenk, das seit einiger Zeit (Sehnenverkürzung, Werkbankarbeit, sog. Fehlhaltung) Probleme macht auf einer Skala von eins bis zehn. Sport soll da helfen, Medizinbälle hochstemmen, am Türrahmen dehnen, Gegenläufigkeit bis ins Stichhaltige des Gelenkaufschreis, das mich mittlerweile nachts aus wohligen Albträumen reißt und nach Salbung oder Kühlpacks verlangt. Nichts, was man auf die leichte Schulter nehmen kann.
Dabei wollte ich an meinem Debütroman Graupelschauer der Liebe schreiben, ein Stadtroman über das Liebesauf und -ab und -hin und her, bis der Protagonist ausruft: "Ach, Fuck. Ich hab' Schulter." (Schlusssatz.) Denn - Interpretationshilfe für spätere Mittelstufenschüler:innen - irgendwann sollte der in der Schulter der einzige Schmerz sein. Das Schreiben musste heute aber ruhen.
Ruhe ist sowieso gut für die inneren und äußeren Gelenke. Schonen, sich nicht überheben.
Dienstag, 24. September 2024
Fluffig und gut erzogen: Artbooks im Park
Ich bin ja in dem Alter, wo man sich gemeinhin einen Hund anschafft, und sei es einen imaginären. Man kommt raus bei Wind und Wetter, heißt es, spricht mit anderen und bleibt in Bewegung. Mir ist das zuviel Verantwortung und Erziehungsmühe, aber ich gehe dafür schon mal mit einem Karton voller Kunstbücher rüber in den kleinen Park, sitze gemütlich auf einer Bank und mache ein Päuschen. Regelmäßig treffen sich dort auch kleine informelle Gruppen wie "Die lauschigen Fünf e.V." oder "Die lustigen Alkopopser". Die haben entweder Hunde mit Erziehungsrückstand zwischen sich oder auch einen oder zwei Kasten Bier und lassen alle einen guten Tag haben. Außer es gibt Stress. So ging neulich ein aufgeregter und offenbar schwer einzuhegender Hund der Huskybauart einem kleineren ans Fell, das verschob die Harmonie in der Gruppendynamik und so zog der Besitzer samt aufbockendem Schlittenhund grummelnd in meine Richtung. Nun war aber kurz zuvor ein, ich sage mal laienhaft, "Problemhund" mit Maulkorb und seinem symapthischem Gassigeher entspannt an mir vorbeigezogen und hatte ein paar Bänke weiter im Schatten zum Wasserpäuschen Quartier bezogen.
Ich also weitgehend ungefragt dem Huskymann geraten, vielleicht besser "außenrum" zu gehen, weil dort ein Problemhund mit Maulkorbpause getränkt würde... aber das Grummeln am vorderen Ende der Leine veränderte sich nur minimal in der Tonhöhe - Schritt und Richtung blieben unbeirrt. "Das gibt bestimmt Ärger", sagte ich zu meinen Artbooks und tätschelte beruhigend den Karton. Und, ich kürze mal ab, Problemhund zeigte Territorialverhalten, Mann und Husky schlugen sich in de Büsche, alle hatten Stress, Stimmung dahin.
"Muss ja nicht", heißt es in Kapitel zwei meines großen Hamburgromans Gern., der eigentlich Dafür nich heißen sollte, aber der Verlag wollte es (gern) knackiger.
Ich arbeite weiter am Manuskript meines Hamburgromans. Der sollte zunächst "Dafür nich" heißen, der Verlag drängte aber auf einen kürzeren, prägnanteren Titel. Das mache ich natürlich gern, das sind ja konstruktive Vorschläge. Im Buch verarbeite ich Geschichten über Hunde und Schiffe im Nebel, Görls mit Matjesbrötchen und Rock'n'Roller in Hafenkneipen (letzteres eigentlich nur wegen Erwartungshaltung des erwarteten Publikums). Usw., will nicht geschwätzig werden. In der Schicht darunter entpuppt sich das schmale Werk als empfindsamer Entwicklungsroman über einen Mann im Park mit eingebildetem, also imaginärem Hund. Ach ja, so ein Titelgenerator befindet sich hier.
Rebecca Horn: Katalog zur Ausstellung in Wien, 2022
Rebecca Horn ist gestorben. Mit 80 Jahren, nach langer Erkrankung, dann aber doch irgendwie überraschend. In München im Haus der Kunst hat sie vor Kurzem noch ihre Retrospektive besichtigen können, die dort noch bis zum 13.10. läuft. Elektrisch britzelnde Nashornhörer aus Metall, Videos spektakulär eindringlicher Performances (hier ein Zusammenschnitt auf Youtube), krachende Klaviere über Kopf, die Horn hat menschliche Zustände und Bedingungen oft schmerzhaft hinterfragt und in ihren oft sehr körperlichen Werken und magischen Maschinen Wunder und Wirklichkeit, Gesellschaft, Krisen und Utopien meist ohne soziologische Gedankenanweisung und immer poetisch verschmolzen.
(Rebecca Horn. Katalog zur Ausstellung im Kunstforum Wien. Hatje Cantz, 2021.)
Sonntag, 15. September 2024
Im 19. Jahrhundert durften Frauen nur wenige Berufe ergreifen. Das Leben im städtischen Bürgertum verdammte die wohlhabenderen unter ihnen zu einem Leben im Haus und in damit verbundener Eintönigkeit. Vor diesem nebligen Hintergrund aus Langeweile und Unterforderung entwickelten sich allerlei Marotten, die Flucht in Opiate etwa, besessene Sammelleidenschaften profaner Dinge, die morbide Stickkunst aus den Haaren Verflossener, das Schreiben von Büchern.
Abwechslung brachten aber auch Moden wie der Besitz exotischer Tiere oder Pflanzen (dazu später einmal mehr), esoterischer Spinstereien oder das Spielen harmloser bis anzüglicher Gesellschaftsspiele. In die Zeit dazwischen, also die ohne Gesellschaft, brach um 1852 herum eine launige Erfindung, die halb London in einen Rausch versetzte. Der Ingenieur Daniel F. Rube erfand Würfel, bald bekannt als Rube's Cubes, mit bedruckten Symbolen, Zahlen oder einfach Buchstaben, die miteinander in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen waren.
Die Würfel mussten gestapelt werden, was heutzutage im Rückblick fast banal leicht klingt, in der viktorianischen Zeit aber eine Herausforderung war. Zumal nicht alle Damen des Hauses so belesen waren, wie man denkt oder auch nur das Alphabet von A bis Z kannten. Eine gedruckte, ausführliche Anleitung sollte helfen, wie man mehrere Würfel zu Türmen und Pyramiden schichten und gleichzeitig zeichensystemische Zusammenhänge wahrt. Also Zahlenräume abbildet oder eben das Alphabet.
Das konnte vorwärts oder rückwärts oder in erratischen Sprüngen getan werden, und so waren viele Frauen von der Vielfalt der Möglichkeiten und ihrer Entdeckung entzückt und rasch auch verlottert. Kaum war der Hausherr auf dem Weg ins Kontor, eilten ihre Gattinnen (oder die Töchter des Hauses) in den Salon, manchmal noch kaum angekleidet oder gekämmt, und versanken für Stunden in ihr Würfelspiel.
Die Vernachlässigung der häuslichen (und manchmal auch so genannter ehelicher) Pflichten blieb mit der Zeit auch den eher mit sich selbst beschäftigten Herren nicht unbemerkt. Moralisch entrüstete Artikel erschienen in der Zeitung, satirische Karikaturen überspitzten die Auswüchse der neuen Mode, erboste Pfarrer erbitterten sich von der Kanzel herab. Gleichwohl erschienen immer neue Varianten der verhexten Würfel in allen Größen und Farben. Manche lösten ihre Rätsel schnell, andere überhaupt nicht, aber die Begeisterung hatte die meisten erfasst. Von einigen wird berichtet, dass sie die Würfel auch abends am Familientisch oder sogar im ehelichen Bette nicht aus der Hand legen konnten oder nur darauf warteten, dass der Gatte schlief, um die heimlich versteckten Quader unter dem Kopfkissen hervorzuziehen.
Um 1860 herum begann die Manie abzuflauen. Die Würfel wurden in der Familie weitergereicht, die meisten landeten im Kinderzimmer und wurden von Kleinstkindern schon gestapelt - freilich zumeist ohne Sinn für strukturelle Zusammenhänge oder auch nur den Grundlagen der Physik und insbesondere der Schwerkraft. Es kümmerte aber niemanden mehr, die bourgeoise Gesellschaft hatte sich längst anderen Trends und Ablenkungen zugewandt.
Leider aber blieben manche auch "hängen", wie man so sagte. Die "Würfelkrankheit", wie sie ein Nervenarzt aus dieser Zeit beschrieb, hatte keine geringe Zahl von Frauen befallen. Von einer trübseligen cube mood erfasst, saßen sie wie antriebslos vor ihren Würfeln, unfähig zu Stapeln oder Sortieren und auch sonst nur schwer für andere Dinge zu begeistern, die außerhalb von gradlinig strukturierten Kästchen lagen. Die am schwersten betroffenen Würfelkranken konnten nicht mehr "out of the box"* denken, wie man damals sagte. Traurige Fälle, die man meist schnell aus dem Familienalbum entfernte, weshalb es davon nur noch wenige erhaltene Fotografien gibt.