Dienstag, 26. April 2022
Immer, wenn irgendwo ein Wassertropfen fiel, raunte eine frühere Freundin dunkel und bedeutungsschwer von der "zerstörerischen Kraft des Wassers". Manche Dinge wollen eben nur mit Vorsicht und Maß ertragen sein. Menschen mit Wasserschaden werden andererseits die überfließende, dauerverregnete Geschichte des eingebetteten kurzen Films Tabula Rasa wiedererkennen und sich fragen, wie Regisseur Matthew Rankin die bereits 2011 mit bemerkenswertem Realismus, Melancholie und einem Auftritt der bekannten Sängerin Grimes verfilmen konnte.
Rankin stammt aus Winnipeg in Kanada, offenbar einem Nest von interessanten Künstlern, wie wir hier bei Marcel Dzama und Guy Maddin bereits feststellten. Rankin ist so eine Art Schüler Maddins, fand nach einem Geschichtsstudium zum Film und zeigte in bislang einigen Kurz- und einem Langfilm oft eine Maddin nicht unähnliche Handschrift aus Handarbeit, absichtlich zerkratztem und anderweitig zerstörtem 16mm-Filmmaterial, einer zitierten Stummfilm-Ästhetik und dem Hang zu Camp und Pathos. Besonders in dem fantastischen Tesla World Light und dem epischen Kriegsabenteuer Mynarski Death Plummet, eine melodramatische Ode auf den tatsächlichen "Ball Turret Gunner" Andrew Mynarski (1916-1944), der im zweiten Weltkrieg ums Leben kam, ist die Nähe zum großen Vorbild deutlich.
Anregend. Und Zeit, die alte Kamera auf dem Rechner zu simulieren vom Speicher zu holen, kühn gemalte Kindergartenhintergründe aufzustellen und die kommenden lauen und schlaflosen Sommernächte für erschöpfende Animationsarbeiten zu nutzen. Themen gibt es genug.
>>> Interview auf Arte Tracks
Freitag, 5. November 2021
90 Prozent aller Filme aus der Stummfilmzeit gelten als verschollen. Originale zählten nicht viel, Film war ein Gebrauchsgegenstand, ein großer Teil des Materials fiel Unglücken, Vernachlässigung, Krieg, Bränden oder Selbstentzündung zum Opfer. Die Kopien wanderten teils Jahre von Kino zu Kino, wurden beschädigt, abgenudelt, gekürzt und umgeschnitten und landeten dann auf ihren letzten Stationen am Ende der (damaligen) Welt in der Mülltonne. Manchmal aber auch im Permafrostboden Alaskas, wohin sie vergraben wurden, oder auf irgendwelchen Speichern, wo sie aufgstöbert und auf Flohmärkte gelangten und schließlich in die Hände von Hoardern oder Sammlern. Oder eben Instituten, die sich um eine Restaurierung bemühen.
So wie dieser Film von einer Expedition ins Nordmeer im Jahre 1919. Ein junger Forscher, offenbar ein Humboldt seiner Zeit, macht sich mit seinem treuen Hund auf ins arktische Eis, um verschiedene Arten von Schnee zu untersuchen und erlebt ein dramatisches Abenteuer um Sprachverwirrung und einen gefährlichen Eisbären. Leider sind von diesem Werk in Spielfilmlänge nur wenige Informationen und noch weniger Material erhalten. Ganze anderthalb Minuten hat man aufwendig restaurieren können, eine gleichwohl imposante Leistung, für die moderne Computertechnologie (sprich: irgendwas Kompliziertes) verwendet wurde.
Als Hoarder Sammler obskurer Artefakte kam ich an eine Kopie diese eindrucksvollen, hoch spannenden Werks, das ich hier präsentieren möchte. Das Barmbeker Filmorchester spielte live eine Neuvertonung der Filmmusik ein, die als Schellackplatte mit 78/Rpm später einmal separat erhältlich sein soll.
Freitag, 17. September 2021
Expl. I: veringwerter Axolotl
Habe mich jetzt ein paar Tage nicht rasiert, und würde ich mir den Bart anzünden, könnte ich quasi aus einem brennenden Dornbusch sprechen, aber so richtig klug wäre das nicht. Also, um einen Witz zu machen und mächtig Eindruck zu schinden, wäre der Preis zu hoch. Ich könnte aber.
Darf mir nur nichts auf die Ohren schlagen, weil ich auf den Ruf warte, der mich noch nicht ereilt hat. Ich halte tagsüber die Fenster geöffnet, damit ich es besser höre, sollte der Ruf erklingen, der meinen Ruf begründen soll. Bislang aber gilt: Es ist alles ruflose Kunst in diesem Haus!
Es gibt es aber auch gute Nachrichten. ONE hat meinen Ruf gehört, und meine heimliche Lieblingsserie, die ich hier in den letzten Jahren immer und immer wieder berufen habe, endlich ins deutsche TV geholt. Murdoch Mysteries laufen nun mittwochs abends und sollen angeblich auch in der Mediathek auftauchen (davon ist allerdings bislang, ein rätselhafter Kriminalfall für sich selbst, trotz Ankündigung noch nichts zu merken). Die mit Auftritten zahlreicher zeitgenössischer Persönlichkeiten wie Literaten und Politiker und Anspielungen auf Literatur und Fim gespickte viktorianische Polizeiserie zeigt die Fälle eines Detective der Torontoer Polizei Ende des 19. Jahrhunderts. Sein (auch im Büro ausgeübtes) Hobby: wahnwitzige technische Erfindungen, die rasch die Geschichte der Forensik voranschreiben und dabei augenzwinkernd in unsere Gegenwart vorausdeuten. Als Gegengewicht steht ihm eine engagierte, zum Widerspruch neigende Gerichtsmedizinerin zur Seite ("Akte X" lässt grüßen). Ich selbst bin bereits in Staffel 12, die deutschen Synchronstimmen hören sich folglich merkwürdig an. Was stört: offenbar hat man sich für die deutsche Schnittfassung dazu entschlossen, die entspannte Reihe aufzupeppen und mit Tempo zu versehen. Jetzt nerven in regelmäßigen Abständen mit "Zuuuuusch"-Geräusch unterlegte Inserts einer Edison-Glühbirne bei Szenenübergängen. Ein alberner Gimmick. Unnötig.
Bin gespannt, wie sich die doch sehr kanadisch und z.b. vom ewigen Duell mit dem großen Nachbarland USA geprägte Serie in Deutschland schlägt. Ist ja schließlich nicht jeder Experimentalwissenschaftler wie ich. Ich habe jetzt in dieser Tätigkeit ein Phänomen entdeckt, daß bedeutsam für die Medizin werden könnte. Der Axolotl, ein mangels Metamorphose ewiger "Kid" unter den Lurchen, zeigt neben vielen anderen bemerkenswerten Eigenschaften eine weitere erstaunliche: Bei längerer emotionaler Vernachlässigung (mad scientist voice: Details über mein Experiment will niemand wissen! /mad scientist voice) verwandelt es sich in eine Ingwerknolle! (s. Belegexemplar oben) Auch anschließendes sogenanntes "gutes Zureden" holen es nicht zurück aus seinem schrumpeligen Stadium. Es besitzt aber augenscheinlich heilende und vor allem anti-entzündliche Eigenschaften, die es weiter zu untersuchen gilt.
[pre-print Studie]
Samstag, 24. Juli 2021
Wenn Schokolade ihren Aggregatzustand verliert, weiß man, daß die schlimme Zeit des Sommers beginnt. "Melt! My lover melt", sangen Siouxsie and the Banshees einst in einem schwülen, thanatos-erotischen Beerdigungslied. Zum Finger lecken. Neulich gab es sogar frische Erdbeeren zum dahinschmelzenden Vanilleeis. Das wird Menschen interessieren.
Besitze jetzt, das wird Menschen eher nicht so interessieren, die DVD-Sammlung mit allen (?) Folgen der legendären TV-Serie The Twilight Zone, die hier in HD restauriert vorliegt. Irrtümlicherwese dachte ich, daß eine Serie aus der Dinosaurierzeit des Fernsehens (1959 - 1965) nur noch eine verflimmerte, grau-pulpige Masse ist, also Sehen unter Schmerzen. Weit gefehlt, das Bild ist klar, scharf, kontrastreich und alles so aufwendig produziert, daß man meint, kleine Noir-B-Filme zu sehen. Das liegt natürlich am beteiligten Personal. Regisseure wie Jacques Tourneur ("Katzenmenschen"), Don Siegel oder Richard Donner ("Superman") liefern hier mehr als Fingerübungen ab, die Musik besorgten Größen wie Franz Waxman ("Boulevard der Dämmerung"), Bernhard Herrmann (Hitchcock) oder Jerry Goldsmith (u.a. "Chinatown"). Als Schauspieler sieht man den jungen Martin Landau ("Der unsichtbare Dritte"), Ida Lupino, Buster Keaton, Robert Redford, Jack Klugman ("Quincy") oder Peter "Columbo" Falk.
Eine tolle Schau, die hier in kurzgefaßten 20-Minütern zu betrachten ist. Die Geschichten, darunter viele vom Serien-Erfinder Don Serling (Skript zu "Planet der Affen") und Klassiker-Adaptionen, sind frei von Nebensträngen, in sich abgeschlossen und umwegslos zur Pointe hin erzählt. Manchmal bloß amüsant, dann wieder recht spooky, funktioniert die eine Geschichte besser für das knappe Format als andere. Immer wieder atmet Kalte-Kriegs-Paranoioa, die Furcht vor gesellschaftlichen Umbrüchen und seltener Spukgestalten-im-Wandschrank durch die Episoden.
Ein filmischer Brutschrank für spätere Serien wie Akte X, das in den 90ern einiges aus The Twilight Zone zitierte. Kalte Schauer in nächtlicher Sommerhitze, was könnte es besseres geben?
Montag, 14. Juni 2021
Der Nähkasten meiner Mutter wäre auch ein schöner Titel für meinen Debütroman, dachte ich neulich und höre schon das Kritzeln auf den Notizblöcken der Freudianer hier im Publikum. Jedenfalls aus der Zeit, als ich als Kind im Nähkasten meiner Mutter kramte, kannte ich natürlich den Namen "Riri", nicht aber die - auch freudianisch - überaus interessante Geschichte dahinter. Es gab ihn also: den Reißverschlußkönig!
Sogar nach Wuppertal führt seine Spur, damals an den Anfang des 20. Jahrhunderts, als ein Dr. Winterhalter ein Patent aufkaufte, Maschinen entwickelte und im Tal der Wupper eine Fabrik für Reißverschlüsse gründete. Der Rest ist Wirtschaftsgeschichte. Hinter der steckt abert eine viel interessantere, die vom Aufstieg und Fall eines exzentrischen Patriarchen. In der 3sat-Mediathek gibt es eine faszinierende Doku über den Mann (bis 10.7.).
Reichtum, Glanz, Gloria, Autos, Frauen, Krisen, "Ausschweifungen", Wahn und filmreife Flucht aus der Psychiatrie, empörte Katholiken, familiäre Intrigen - alles drin und dran. Ritsch, ratsch, wie beim Reißverschluß.
Freitag, 21. Mai 2021
Coleen Gray als "Electra" in "Nightmare Alley" (1947)
"Good deeds and prayers should de done in silence" heißt es in Nightmare Alley, einem fantastisch fotografierten (Kamera: Lee Garmes, "Shanghai Express") Noir-Drama über den Aufstieg und Fall eines Mentalisten, der über sein Netz aus Lügen, Schuldgefühlen, aber auch über seinen Hochmut stolpert. Tyrone Power spielt den ehrgeizigen Egoisten, der ein dunkles Geheimnis zu verdängen sucht, weshalb er sich später bei einer zwielichtigen Psychologin zur Analyse auf die Couch legt. Dabei ist er mit der wunderbaren "Miss Electra" verheiratet, die auf der Bühne 10.000 Volt brizzeln lassen kann, privat aber sanft wie ein Lamm ist.
Guillermo del Toro hat gerade ein Remake (u.a. mit Cate Blanchett) fertig, aber ich bleibe vorerst bei der Version von 1947. In der Jahrmarkt- und Schaubudenwelt des Films gibt es nämlich einige gute Berufsideen abzugreifen. Als Elektromann im Powerdress könnte ich vielleicht bella figura machen, aber Mentalist geht auch gut im Abendanzug. Anonsten braucht man dazu nur eine Assistentin und einen linguistischen Code, weil man ja verbundene Augen hat und wissen muß, welchen Gegenstand die Assistentin im Publikum in die Höhe hält. Wenn also mal jemand skeptisch fragt, Aha, du studierst also irgendwas mit Geisteswissenschaften - und was macht man damit später so? kann man lässig entwaffnend antworten: "Zum Beispiel Mentalist werden".
Derzeit entwerfe ich schick gestylte Visitenkarten für die ein oder andere solche Existenzgründung. "Kid37 - Thaumaturg", "Kid37 - Sammler" oder eben "Kid37 - Mentalist" gehören dazu. Wer noch die Serie "Detektiv Rockford" kennt, weiß, was ich meine. Klappern gehört zum Handwerk - oder zum natürlichen Drang, kann aber ursprünglich sehr gut gemeinten öffentlichkeitswirksamen Aktionen zum Beigeschmack verhelfen. In Hamburg wurden bereits erste Impfpflaster mit "Eure Impfarmut kotzt mich an!" gesichtet. Die kann man, wenn sie sich schrumpelig vom Arm pellen, auf die Heckscheibe vom VW Golf kleben, wenn es brumm-brumm in den Urlaub drängelt. In Pinneberg grölt es: "Hoch die Impfarme - Wochenende!" und statt "Abi 2021" eben "Astra 2021". Als Mentalist sehe ich es glasklar vor mir: Ein Verkaufshit! Wie auf einer exzessiven Party, die bereits einen Tag zu lange (für Euch da draußen: 1 Stunde) dauert, mischt sich etwas Fratzenhaftes in die glücksberauschte Stimmung. Erste ironische Anmerkungen wie von Satire-Influencerin Cassandra Cash oder Beiklänge in einer Kolumne im Monopol-Magazin zeigen, hier kippt langsam was.
Das Impfpflaster wird zum Arschgeweih unserer Zeit. Ein Gegenstand kommender kulturphilosophischer Betrachtungen, begleitet von Ausstellungen - Entschuldigung: "kuratierten" Ausstellungen - Fotobänden und Wahlen zur "Miss Impfarm". Es folgt der Sport und dann das Wetter.
Samstag, 1. Mai 2021
Bei meinen Nelken zum 1. Mai herrscht offenbar Ausgangssperre, vielleicht habe ich da im Vorfeld nicht genügend agitiert. Neulich habe ich Hyazinthen geschenkt bekommen, die halten sich etwas angeschlagen, aber wacker. Hoffentlich nehmen sich die Nelken daran ein Beispiel. Es heißt jetzt: Durchalten!
In diesem Jahr wurde Walpurgisnacht wohl digital gefeiert, das hätten sich die Hexen früher auch nicht vorstellen können. Eingerieben mit Quarantänesalbe und Abstandspilzen im Tee fliegt man dann mit dem Microsoft Flugsimulator auf dem Digibesen um den Brocken.
Ich bin stattdessen, den Zauberhut keck über dem Kopf, auf ZDFneo bei Derby Girl hängengeblieben und habe dann gleich alle zehn (kurzen) Folgen weggeguckt. [Trailer, alle zehn Folgen in der Mediathek] Es geht um eine junge Eiskunstlaufvizeweltmeisterin mit Aggressionsproblem in der französischen Provinz und eine Clique Roller Girls, deren talentloses Team nicht gegen den örtlichen Dauermeister anstinken kann, aber vom großen Derby in Paris träumt. Die Handlung ist wohlwollend vorhersehbar, aber ausgestopft mit vielen skurrilen Details, schwungvoller Regie, vielen Filmanspielungen, angenehmer Unbefangenheit und comichafter Überdrehtheit, liebevollen Charakteren und offenbar ein paar Cameos, die ich aber nicht auflösen konnte. Gern hätte ich ja meine eigenen Schuhe geschnallt. Aber nun ja, man muß wissen, wann die eigenen Grenzen erreicht ist. Selbstschutz ist das Motto dieser Tage.
Samstag, 27. Februar 2021
Wären die Brüder Quay, unsere aller Lieblingstrickfilmer aus der dunklen "Straße der Krokodile", ein wenig schneller, sie hätten mit ihrem neuen Filmprojekt eine Punktlandung in Pandemie- und Lockdownzeiten landen können. Seit Jahren (übliches Tempo bei den beiden) werkeln sie an ihrer Version von Bruno Schulz' Erzählung "Sanatorium zur Todesanzeige". Es wäre ihr dritter Langfilm. Da die Frage, wovon die US-amerikanischen Zwillingsbrüder eigentlich leben, auch im mittlerweile selbst schon ein paar Jahre alten Atelierbesuch (bei denen sieht es so aus wie bei mir) von Christopher Nolan nicht beantwortet wurde und den beiden sicher selbst ein ewiges Rätsel bleibt, muß man sich mit der Fertigstellung wohl gedulden.
Nun aber sind von der Weltöffentlichkeit und daher auch von mir weitgehend unbeachtet im letzten Sommer sechs Minuten Material vom Anfang der Erzählung aufgetaucht. Ein Lebenszeichen. Sieht bereits sehr stimmungsvoll aus, abgetragene schwarze Anzüge, ungeputzte Zugfenster (ich sagte ja, sieht aus wie bei mir), ominös dronender Sound. Wer nicht warten will, verliert sich bis dahin in der bravourös verzückenden polnischen (Sur-)Realverfilmung von Wojciech Has, die es seit ein paar Jahren auch in restaurierter, von Martin Scorsese angetriebener Fassung gibt.
Bis dahin, liebe Quays, immer weitermachen!
Donnerstag, 21. Januar 2021
An einem kalten Herbstag im Jahr 1959 kam der junge Tommy Slobonczyk vom Spielen nicht nach Hause. Zuletzt wurde er an der Hand seiner Nachbarin Sylvia Masciacz gesehen, seither sind beide verschwunden.
Es sind die Rätsel, die uns wachhalten. Schleier, hinter die man schauen will, Türen, die man mit gestohlenen Schlüsseln öffnet. Lichter am Himmel, Kreuze auf der Straße, vergessene Notizen in alten Büchern. Jemand hatte Kekse gebacken, jemand hatte ein Auto angelassen. Kleinigkeiten, Indizien. Hinter dem Bild im Rahmen steckt eine Notiz, der Gruß eines geheimen Liebhabers in krakeliger Schrift.
Da ich nicht so gut darin bin, einen verdammt guten Kuchen zu backen, habe ich mir dieses kleine bewegte Gemälde erlaubt zum 75. Geburtstag von David Lynch. Der hat gestern allen einen großartigen Tag gewünscht, feiern konnte er wohl ansonsten in Ruhe, alle Augen waren auf Washington gerichtet. Auch wenn der Twin Peaks-Schöpfer neulich in einem Interview erklärte, er hätte zwar ein voll ausgestattes Studio im Haus, aber kein Geld, einen Techniker zu bezahlen, wird es wohl zu einem kleinen Sekt gereicht haben, schätze ich. Denn allein der Stapel seiner Bücher ist in meiner nicht ganz so voll ausgestatteten Wohnung ungefähr so hoch, daß ein Kleinwüchsiger aus einem seiner Filmen gerade so eben darüberschauen könnte.
Als ich in den 90er-Jahren an Walton's Mountain studierte, gab es dort eine Gruppe sehr kluger Studentinnen, die eifrig die mysteriösen oder einfach auch nur überzuckerten Geschehnisse von Twin Peaks diskutierten und versuchten, den Mörder zu entlarven. Ab und an, wenn ich mit Stubenfegen durch war, warf auch ich mal eine Bemerkung ein oder lobte Kirschkuchen, was mich irgendwann einer schönen jungen Frau näherbrachte, mit der ich später auch eine andere mysteriöse TV-Serie nachspielte analysierte. Es gab auch mal gute Zeiten, falls jemand fragt. Das habe ich alles David Lynch zu verdanken! Andere danken auch. Die Norwegerin Ingvild Eiring hat zum Beispiel ein wundervolles und aufwendiges Diorama zum roten Zimmer in Twin Peaks geschaffen. Ich selbst, vermute ich, werde mit 75 längst nicht so einflußreich sein wie dieser Auteur, der seit längerem wieder regelmäßig den Wetterbericht auf Youtube verkündet und die Zahl des Tages auslost. Die 37 7 ist nie dabei, aber dabei könnte es sich um ein Geheimnis handeln.
>>> Geräusch des Tages: David Lynch, Good Day
Mittwoch, 9. September 2020
"Emma Peel kann Karate" war in meiner Kindheit ein offenbar bedeutsamer, obgleich für mich etwas unverständlicher Spruch. Zwar hatte ich auch gelegentlich, erlaubt oder auch nicht, Folgen von "Mit Schirm, Charme und Melone" gesehen. Da kämpften und kombinierten zwei Agenten, paritätisch ein Mann und eine Frau, durchs schwarzweiße Kaltkriegsengland und jagten geheimnisvolle Schurken. So weit, so klar. Aber wenn Onkel und Tanten bei Tisch saßen und beim Sebstgebrannten angelangt waren, hieß es mitunter "Emma Peel kann Karate" - und dann wurde gelacht. das fand ich verwirrend, aber Onkel und Tanten taten zufrieden.
Nun führten Hamburger Nieselregen (innerlich und äußerlich) dazu, aus meinem erratisch geführten DVD-Archiv ein paar Folgen The Avengers, so der Originaltitel, mit Diana Rigg als Emma Peel zu schauen. Hier ihr erster Auftritt, bei dem man sieht, daß Ms Rigg eine zumindest rudimentäre Fechtausbildung genossen hatte. Bei Patrick Macnee bin ich mir da nicht so sicher, aber er wehrt sich so gut er kann. Ich wehre mich auch immer, so gut ich kann, deshalb habe ich eine gewisse Verbindung zur Serie aufbauen können.
In der Folge "The Cybernauts" geht es um böse Roboter, die mit Lochkarten programmiert und von künstlicher Intelligenz gesteuert, als Todesmaschinen durchs Land ziehen. Sehr vorausschauend, wirkt wie heute. Ganz im Gegensatz zu einer leicht verhascht wirkenden Folge aus dem an den Skurrilitäten nicht armen ländlichen Britannien. In einem Krankenhaus für Eisenbahner werden von einer fremden Macht heimlich Störsender gebaut, während auf dem Landsitz nebenan der spinnerte Earl of Soundso einen Eisenbahnthemenpark im Wohnzimmer unterhält und ansonsten mit einem Minizug (ähnlich der im Prater) übers weitläufige Gelände tuckert. Dabei werden schöne Kinoverweise präsentiert. Man sieht wie eine künstliche Landschaft am Zugfenster im Wohnzimmer vorbeigezogen wird, um den Eindruck von Bewegung zu erzeugen (ein Grammophon liefert dazu die Geräusche, und ein Blasebalg bläst Rauch vorbei), während der Hausdiener außen am Waggon wackelt. Der Earl ist zufrieden.
Auf der Strecke aber wartet unterdessen die arme Ms Peel mit bebendem Busen auf ihren Retter. Ganz Damsel in Distress wurde sie in ihrem wirklich sehr engen Lederoutfit von Schurken geknebelt und an die Gleise gefesselt. Die bösen Buben haben die Garteneisenbahn in Bewegung gesetzt und rasen auf die Arme zu. Zum Glück eilt Kollege Steed herbei, und es entwickelt sich, unterlegt mit wilder Klaviermusik und in hackeligem Tempo gefilmt eine Zugkeilerei in bester Stummfilmmanier. Die Dame wird in letzter Sekunde gerettet. Kid37 ist zufrieden.
Alles gar nicht so dumm, und man sieht auch, daß Emma Peel wirklich Karate kann. (Im Tweedkostüm sogar.)