Donnerstag, 7. Januar 2010


My Bike Is Black, Your Bike Is Blue

Dem neuen Jahr geht es nicht anders als einem selbst, natürlich fragt alle Welt, wie es so ist als älterer Herr, so als ob die Finanzkrise nicht bewiesen hätte, wie wenig Zahlen zu trauen ist, wie sich Trillionen plötzlich kaum noch von Fantastilliarden unterscheiden und 20 nicht von 37 oder 16. Ich halte es ganz wie ein Benjamin-Button-Blogger so wie die Zinssätze auf meinem Tagesgeldkonto - es geht stetig zurück. Was heißt auch schon Alter? Wenn der Körper für Rock'n'Roll nicht mehr kräftig genug gebaut ist, dann immer noch für den Blues, und ich finde, ich mache da keine so schlechte Figur. (Verzeihen Sie, daß ich die Pantoffeln anbehalten mußte, aber fußkalt wird mir neuerdings schon.) Musik, Motorrad und kesse Mädchen - sicher finden das einige jetzt ganz schön schlicht, aber meine Güte, da bin ich ganz ehrlich, das ist eine Frage des Gemüts. (Abends wird natürlich gegenseitig aus den Werken skandinavischer Meister vorgetragen, Kierkegaard, Strindberg, usw.)

Ich gebe zu, das wäre nur ich, zöge ich zum Beispiel nach Finnland um, ein Land, in dem auch die Damen fetzige Musik zu schätzen wissen. Ich möchte damit nur andeuten, wie das Leben selbst in der Krise voller Möglichkeiten steckt. Man muß (sich) nur umziehen und sie ergreifen. 2010, mach mal die Tasche auf.

>>> via Tykkyläinen, ganz große kleine Kunst.

Radau | von kid37 um 12:12h | 11 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Mittwoch, 6. Januar 2010


Hierhin gucken, dorthin

In diesen weißgrimmigen Tagen kann man morgens nur prall verpackt wie eine Kegelrobbe aus dem Haus torkeln, Schicht um Schicht in kältehemmendes Material gewickelt, einen unförmigen Mantel wie eine extradicke Fettschicht übergeworfen, mit irgendwie stummelig gewordenen Armen unbeholfen um die Hausecke rudern und pinguinflossenförmige Handschuhe mit einem tonlosen "fluff-fluff-fluff" aneinanderklatschen.

Man könnte sich wärmeres denken, in jedem Sinne natürlich, auf jeden Fall eine mildere Zeit. Abends bei einem oberflächenentspannten Bordeaux, Frankreich wäre auch mal wieder ein Ziel, denk ich das Jahr schon einmal zeitig voran. Kelly lenkte zuletzt die Kompaßnadel gen Süden: Sein Reisebericht über Lissabon ist wie gewohnt beinahe akribisch informativ und gespickt mit tollen Bildern - das soll mir eine Mahnung sein, nicht immer so faul von eigenen kleinen Ausflügen zu berichten. Ein echter Genuss in zwölf randvoll gefüllten Teilen.

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Hinflug
Über den Dächern
Expogelände
Shopping
Nostalgische Bahnfahrten
Am Tejo
In der Stadt der Toten
Rossio
Mit der Fähre
Azulejos
Abendspaziergänge
Rückflug


 


Montag, 4. Januar 2010


This Immortal Soul

Gut, überrascht bin ich nicht. Vielleicht, daß er immerhin 50 wurde. Rowland S. Howard, genialer Gitarrist und Songschreiber der Post-Punk- und Indieszene. Ich sah ihn 1991 auf der Tour von Shotgun Wedding, damals im Kölner Rose Club. Meine Freundin und ich sind eigentlich wegen Lydia Lunch dort hin, aber dieser spindeldürre, whiskeyschlürfende Typ mit dem Rattengesicht machte nachhaltigen Eindruck. Und Lärm. Im Grunde hielten sich die Brachialtiraden von Ms. Lunch und sein feedbackbedröhntes Gitarrenspiel ziemlich die Waage, zwei durchgeladene Schrotflinten eben, die da grundsympathisch auf der Bühne standen und einen dreckigen New-Orleans-Voodoo-Drogen-Cajun-Bourbon-Blues auf eine Weise runterdroschen, neben der Nachfolger wie die White Stripes eher wie Andre Rieus des Südstaatenfiedelns wirken. (So ähnlich war das. Nur unheimlicher. Betäubter und betäubender.)

Howard, seit den Birthday-Party-Tagen an der Seite von Bunny Munro Nick Cave nicht nur an Kamillentee gewöhnt, führte seinen nöligen, exaltiert-schrägen Gitarrenkrach mit These Immortal Souls und zahlreichen (Solo-)Projekten fort und hinterließ als Geschenk an die Welt unter anderem den begnadeten Klassiker "Marry Me (Lie! Lie!)", ein Song, für den manche schon töten und andere unsereins vom Klavier verjagen.

Rowland S. Howard starb am 30.12.2009.

>>> Nachruf bei Coilhouse

>>> "Marry Me (Lie! Lie!)" auf Youtube. Und ja, wir sahen damals alle so ungesund aus.

>>> Shotgun Wedding, In My Time Of Dying.

Radau | von kid37 um 14:50h | 2 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 



Schneewehen






Fröhlicher Frost voraus, stundenlang kann man stapfen, wie verlorene Waisenkinder über endlose Deiche Muster schlurfen, Eiszapfen lutschen, die Strickmütze bis über die Nase ziehen. Absurde Anekdoten, Schnee von gestern, kullern den Hang zum Ufer hinunter, knirschenden Schritts aber tollt man wie ein spielender Hund in die andere Richtung. Man kann so lange gehen, über Schnee und Eis, immer weiter bis hinab zum Wasser. Dort dann wartet eine einfache Erkenntnis: Es gibt nur eines, über das man nicht hinwegkommt, und das ist die Unverfrorenheit.

Nach drei oder vier Stunden ist die Kälte durch die letzten Hühnerknochen gezogen, Dämmerung und eine gewisse Müdigkeit setzen ein und man spürt, warum der Kältetod ein angenehmer sein soll. Vom Robert-Walser-Gedächtnismarsch aber kehrt man besser zeitig zurück zu einem Heißgetränk für Tisch Nr 6. Das Knistern hören, wenn die gefrorenen Gefäße tauen.


 


Freitag, 1. Januar 2010


Seite um Seite

Nachdem ich heute bereits das Foto des Jahres gesehen und danach gleich beschämt beschlossen habe, selbst nie wieder ein Foto zu machen, nach all den zurückliegenden Wochen aber auch, die fast bis in die letzten Zeitwinkel mit Getue und Gebrause, Hin- und Herfahren, Behördengängen, Tadi und Tada gefüllt waren, ist heute der erste Tag, an dem ich mal zwei, drei Stunden auf dem Sofa liegen und durch die quasi sich selbst akkumulierenden Stapel Zeitschriften und Bücher blättern kann. Fast wie früher! oder Wie es sein sollte! grunzt wohlig der innere Schweinehund, während ich immerhin noch so pflichtbewußt bin, nach erster Sichtung der Zeitschriften drei Stapel zu bilden mit "Muß ich noch lesen", "Könnte ich noch lesen", "Sofort weg damit!" Danach dann ein Blick in die drei Bücher, die ich mir zu Weihnachten selbst geschenkt habe (man weiß ja schließlich nie, was sonst so kommt, und nachher sitzt man mit leeren Händen unterm Baum, mühsam die Tränen zurückhaltend!) Eine erste Enttäuschung bereits hat mir jedoch David Brownes Biografie über Sonic Youth bereitet. Das Vorwort zu Goodbye 20th Century kommt leider sehr geschwätzig und in einem aufgeplusterten Amerikanisch daher, das durch die Übersetzung nicht viel besser geworden ist - zu sehr kann man beim Lesen jede betulich-gestelzte Wendung im Kopf Wort für Wort rückübersetzen. Banalste Beobachtungen ("...jeder [hat] seine eigenen Vorstellungen von Sonic Youth") und Sätze wie "Es ist eine Geschichte darüber, wie man seine Integrität bewahrt, während das Leben einen vor immer größere Herausforderungen stellt und man selbst älter wird" nehmen mir eigentlich die Lust, überhaupt weiterzulesen. Aber es ist bloß das Vorwort, mal sehen, welche mißstimmige Laune die weiteren Kapitel erzeugen werden.

Großartig und eine wirkliche Empfehlung ist allerdings der Bildband über Tracey Emin, der zur Zeit in den Buchhandlungen eures Vertrauens für die Hälfte des Originalpreises verramscht wird. Emin ist für mich ja die Aufregendste unter den Selbstentblößungskünstlern, unbequem, monströs, ungelenk auch, anstrengend und immer wieder ungeheuer bewegend. Beim Blättern durch ihre Quilts (siehe hier) sind es regelmäßig die schmerzhaften Rechtschreibfehler in den aufgestickten Truisms und Gedankenaustreibungen, die wie die groben Nähte entlang der Buchstaben die brüchigen Demarkationslinien eines gewaltvoll zerstoppleten Lebens spüren lassen. Ihre Autobiografie Strangeland ist übrigens ebenfalls endlich auf Deutsch erschienen. Nervtötend interessant und mit einem kurzen, für mich sehr anrührenden, Nachwort:

I feel it would be unreasonable for anyone to read a book that had spelling mistakes throughout. It was my decision to have my spelling corrected, and I'm now in the process of learning to spell.

Eine Lektion also über das Aufrappeln und Wiederaufstehen - wie hieß das noch in einem dieser Blogs so nervtötend repetetiv: Immer weitermachen.

Dazwischen David Lynch. Worüber man nicht sprechen kann.

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- David Browne. Goodbye 20th Century: Die Geschichte von Sonic Youth. (Köln, 2009.)
- Tracey Emin: Works 1963 - 2006. (New York, 2006)
- Werner Spies (Hrsg.). David Lynch: Dark Splendor. (Ostfildern, 2009.)


 


Donnerstag, 31. Dezember 2009


Hat-hat



Gefeudelt und gewischt, Fenster lasse ich mal gut sein, ich denke, es ist soweit geschafft. Ich reite also gleich hinaus aus diesem seltsamen, überraschenden Jahr, das vielleicht gut daran tat, nicht die ganz großen Geschenke rüberzureichen. Man wäre ja sonst gleich wieder durchgedreht.

Doucement, das ist auch ein Motto. Seht zu, daß ihr um Mitternacht mit jemandem anstößt, der es mit euch auch will und nicht lieber mit irgendwelchen Fremden. Notfalls mit euch selbst, man kann da ruhig erfinderisch sein. Dann raus, mit leichtem Gepäck, links den Hügel runter und dann immer weiter.


 


Mittwoch, 30. Dezember 2009


Bilder & Bücher

Eine müsste freundlich zu ihm sein,
denn seht, er ist immer allein.
Eine müsste ihn lachen lehren
und den schrulligen Grillen wehren.
Eine und dieser gemeinsam
wären nicht mehr einsam.

(Hannah Höch, "Graumann".)


Hannah Höch, Dada-Mama, hatte 1945 erfolglos versucht, Collagen und Gedichte, die sie für ihre Kinder gemacht hatte, als Buch herauszubringen. Nun ist ihr "Dummy" als liebevoll gestalteter Faksimile-Print herausgebracht worden. Höch, die am 1. November ihren 120. Geburtstag gefeiert hätte, zeigt sich von ihrer vergnüglich-hintersinnigen Seite, reimte knappe Gedichte über die Tücken von Alltag und Moral und illustrierte diese mit witzigen Collagen. Zahmer als ihre bösen Schnitzereien gegen die Bierbäuche der Weimarer Republik. Ganz wundervoll. Höchs Wohnhaus steht übrigens immer noch in Heiligensee, und irgendwann werde ich es hoffentlich zu einem Besuch dorthin schaffen.



Frau Mona Lisa war so freundlich, mir dieses schöne Buch zu schenken. Grafiken der Chemnitzer Grafikerin und Tübke-Schülerin Dagmar Ranft-Schinke. Versponnene Strand-, Meer- und Überlandgeschichten, manche vielleicht ein wenig im naiven Aquarell verhaftet, andere dann mit freiem, witzigen Strich, eine Welt im Fluß befindlich. Schön zum entspannten Blättern, wenn ich mal Zeit für mein hermetisches Sofa finde. Vielen Dank!

- Hannah Höch. Bilderbuch. Orig. 1945. Reprint 2008. The Green Box, Berlin.

- Dagmar Ranft-Schinke. Hermetisches Mosaik. Galerie Weise, Chemitz.


 


Dienstag, 29. Dezember 2009


Überland

Als ich losfahre, hat sich in der Wandelhalle am Bahnhof ein Posaunenchor aufgebaut. Vier Bläser stehen oben auf der Galerie zu den weiteren Geschäften, und so spielen sie "Ihr Kinderlein kommet" im Wechselgesang, eine Strophe zart von oben, dann antwortet das satt gestimmte Orchester von unten im vollem Brass und Bass. Tatsächlich bleiben viele stehen, hören zu, und hält die Zeit für ein paar Momente inne, kehrt eine Ruhe ein.

Der ICE schneidet sich durch die verschneite norddeutsche Tiefebene, passiert die kleinen Orte Richtung Osnabrück, links und rechts Wiesen und kleine Wäldchen, überfrorene Gräben, weiß überzogen. Mir gegenüber sitzt ein Mädchen mit aufregend asymmetrisch geschnittenen Haaren, man vergräbt sich tief in die MP3-Player, neben mir sitzt ein Mann und liest das Yacht-Magazin. Nun weiß ich also, wer heimlich davon träumt, Segel zu setzen.

Wenn sich die Landschaft endlich ändert, irgendwo hinter Lünen vielleicht, wenn der eiszeitlich glattgeschmirgelte Boden Wellen wirft, die ersten metallenen Monumente auftauchen, tritt eine neue Wehmut ein. Die Häuser bekommen eine andere Farbe, rücken enger zusammen, links und rechts der Gleise türmen sich plötzlich Wälle auf, am Horizont die ersten Hügel, schmutziges Grau, Nacht senkt sich langsam über zerbombte Fassaden, diesmal ist es nicht der Engländer, nicht die Stadtplanung, diesmal ist es Strukturwandel und schieres Vergessensein. Wir rauschen ins Tal, zwischen Häuserschluchten, nackt und beschriftet, getaggt, verkümmerte Reste der Gründerzeit.

Ich brauche hier keinen Promi-Tip, wo "man hingehen muss". Hier sind einfach die Orte, die mir wichtig sind, der Klingelknopf, auf dem mein Name steht. Hallo, zurück daheim. Eine Stadt, für die es eine besondere Liebe braucht. (Und immer der Gedanke, daß die Liebe für die große Stadt vielleicht nicht groß genug war. Wie sie mit ihren Armen und Rührungen nicht hineinreichte und nicht in die letzten Winkel griff und Räume, sie nicht ausfüllte, die verborgene Kammer, die über Jahre so seltsam verschlossen blieb. Als wäre darin ein Geheimnis gewesen, eine Erklärung vielleicht oder dieses verborgene Leben.) Nein, diese Stadt ist anders. Ist eine unharmonische Obertonwaise. Stiller.