Überland

Als ich losfahre, hat sich in der Wandelhalle am Bahnhof ein Posaunenchor aufgebaut. Vier Bläser stehen oben auf der Galerie zu den weiteren Geschäften, und so spielen sie "Ihr Kinderlein kommet" im Wechselgesang, eine Strophe zart von oben, dann antwortet das satt gestimmte Orchester von unten im vollem Brass und Bass. Tatsächlich bleiben viele stehen, hören zu, und hält die Zeit für ein paar Momente inne, kehrt eine Ruhe ein.

Der ICE schneidet sich durch die verschneite norddeutsche Tiefebene, passiert die kleinen Orte Richtung Osnabrück, links und rechts Wiesen und kleine Wäldchen, überfrorene Gräben, weiß überzogen. Mir gegenüber sitzt ein Mädchen mit aufregend asymmetrisch geschnittenen Haaren, man vergräbt sich tief in die MP3-Player, neben mir sitzt ein Mann und liest das Yacht-Magazin. Nun weiß ich also, wer heimlich davon träumt, Segel zu setzen.

Wenn sich die Landschaft endlich ändert, irgendwo hinter Lünen vielleicht, wenn der eiszeitlich glattgeschmirgelte Boden Wellen wirft, die ersten metallenen Monumente auftauchen, tritt eine neue Wehmut ein. Die Häuser bekommen eine andere Farbe, rücken enger zusammen, links und rechts der Gleise türmen sich plötzlich Wälle auf, am Horizont die ersten Hügel, schmutziges Grau, Nacht senkt sich langsam über zerbombte Fassaden, diesmal ist es nicht der Engländer, nicht die Stadtplanung, diesmal ist es Strukturwandel und schieres Vergessensein. Wir rauschen ins Tal, zwischen Häuserschluchten, nackt und beschriftet, getaggt, verkümmerte Reste der Gründerzeit.

Ich brauche hier keinen Promi-Tip, wo "man hingehen muss". Hier sind einfach die Orte, die mir wichtig sind, der Klingelknopf, auf dem mein Name steht. Hallo, zurück daheim. Eine Stadt, für die es eine besondere Liebe braucht. (Und immer der Gedanke, daß die Liebe für die große Stadt vielleicht nicht groß genug war. Wie sie mit ihren Armen und Rührungen nicht hineinreichte und nicht in die letzten Winkel griff und Räume, sie nicht ausfüllte, die verborgene Kammer, die über Jahre so seltsam verschlossen blieb. Als wäre darin ein Geheimnis gewesen, eine Erklärung vielleicht oder dieses verborgene Leben.) Nein, diese Stadt ist anders. Ist eine unharmonische Obertonwaise. Stiller.

Ausfallschritt | 11:25h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
vert - Dienstag, 29. Dezember 2009, 12:12
wenn man weiß, dass das magazin zum segelsetzen in bielefeld herausgebracht wird, relativiert sich doch einiges, weil: auch dieser stadt mag man so einiges entgegenbringen wollen - aber am wasser liegt sie nun mal nicht.
(ich verkneife mir jetzt unter schmerzen jede anspielung auf bauvorhaben in der nähe von.)

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kid37 - Dienstag, 29. Dezember 2009, 12:29
Die Redaktion sitzt aber in Hamburg (für die Zahlen in der URL kann ich nichts!). Das weiß ich, weil ich mich dort vor Jahren fast mal beworben hätte. Aus Spaß.

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vert - Dienstag, 29. Dezember 2009, 12:38
na gut. und als was? leichtmatrose? smutje? gnihihi.

(und für "powerslave" können sie schon etwas? interessant.)

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kid37 - Dienstag, 29. Dezember 2009, 13:50
Meine Käsebrote sind sturmerprobt! ("Bei Sturm und größer Not, hilft...")

(Deviante URL-Benennungen, ein weites Feld der Kulturforschung.)

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anousch o. - Dienstag, 29. Dezember 2009, 21:59
Ein ganz zauberischer Text.-
Ich kann nichts dergleichen berichten. Bin im Dunkeln Zug gefahren.

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gaga - Dienstag, 29. Dezember 2009, 23:37
Ein ganz zauberischer Text.-
Ich kann nichts dergleichen berichten. Bin in keinem Zug gefahren.

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kid37 - Dienstag, 29. Dezember 2009, 23:54
Hier geht's ja Zug um Zug!

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modeste - Donnerstag, 31. Dezember 2009, 01:55
Das hört sich zärtlich an. Ich wünschte manchmal, ich wäre irgendwo so daheim.

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kid37 - Donnerstag, 31. Dezember 2009, 15:04
Es liegt auch eine große Zwiespältigkeit in diesen Dingen.

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