Seite um Seite

Nachdem ich heute bereits das Foto des Jahres gesehen und danach gleich beschämt beschlossen habe, selbst nie wieder ein Foto zu machen, nach all den zurückliegenden Wochen aber auch, die fast bis in die letzten Zeitwinkel mit Getue und Gebrause, Hin- und Herfahren, Behördengängen, Tadi und Tada gefüllt waren, ist heute der erste Tag, an dem ich mal zwei, drei Stunden auf dem Sofa liegen und durch die quasi sich selbst akkumulierenden Stapel Zeitschriften und Bücher blättern kann. Fast wie früher! oder Wie es sein sollte! grunzt wohlig der innere Schweinehund, während ich immerhin noch so pflichtbewußt bin, nach erster Sichtung der Zeitschriften drei Stapel zu bilden mit "Muß ich noch lesen", "Könnte ich noch lesen", "Sofort weg damit!" Danach dann ein Blick in die drei Bücher, die ich mir zu Weihnachten selbst geschenkt habe (man weiß ja schließlich nie, was sonst so kommt, und nachher sitzt man mit leeren Händen unterm Baum, mühsam die Tränen zurückhaltend!) Eine erste Enttäuschung bereits hat mir jedoch David Brownes Biografie über Sonic Youth bereitet. Das Vorwort zu Goodbye 20th Century kommt leider sehr geschwätzig und in einem aufgeplusterten Amerikanisch daher, das durch die Übersetzung nicht viel besser geworden ist - zu sehr kann man beim Lesen jede betulich-gestelzte Wendung im Kopf Wort für Wort rückübersetzen. Banalste Beobachtungen ("...jeder [hat] seine eigenen Vorstellungen von Sonic Youth") und Sätze wie "Es ist eine Geschichte darüber, wie man seine Integrität bewahrt, während das Leben einen vor immer größere Herausforderungen stellt und man selbst älter wird" nehmen mir eigentlich die Lust, überhaupt weiterzulesen. Aber es ist bloß das Vorwort, mal sehen, welche mißstimmige Laune die weiteren Kapitel erzeugen werden.

Großartig und eine wirkliche Empfehlung ist allerdings der Bildband über Tracey Emin, der zur Zeit in den Buchhandlungen eures Vertrauens für die Hälfte des Originalpreises verramscht wird. Emin ist für mich ja die Aufregendste unter den Selbstentblößungskünstlern, unbequem, monströs, ungelenk auch, anstrengend und immer wieder ungeheuer bewegend. Beim Blättern durch ihre Quilts (siehe hier) sind es regelmäßig die schmerzhaften Rechtschreibfehler in den aufgestickten Truisms und Gedankenaustreibungen, die wie die groben Nähte entlang der Buchstaben die brüchigen Demarkationslinien eines gewaltvoll zerstoppleten Lebens spüren lassen. Ihre Autobiografie Strangeland ist übrigens ebenfalls endlich auf Deutsch erschienen. Nervtötend interessant und mit einem kurzen, für mich sehr anrührenden, Nachwort:

I feel it would be unreasonable for anyone to read a book that had spelling mistakes throughout. It was my decision to have my spelling corrected, and I'm now in the process of learning to spell.

Eine Lektion also über das Aufrappeln und Wiederaufstehen - wie hieß das noch in einem dieser Blogs so nervtötend repetetiv: Immer weitermachen.

Dazwischen David Lynch. Worüber man nicht sprechen kann.

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- David Browne. Goodbye 20th Century: Die Geschichte von Sonic Youth. (Köln, 2009.)
- Tracey Emin: Works 1963 - 2006. (New York, 2006)
- Werner Spies (Hrsg.). David Lynch: Dark Splendor. (Ostfildern, 2009.)

Ex Libris | 20:00h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
kaltmamsell - Freitag, 1. Januar 2010, 21:52
Ich habe mit einer Dame studiert, die sich seinerzeit einmal quer durch die Musikanten von Sonic Youth geschlafen hat, angefangen - glaube ich - mit dem Bassisten.
Wie sich deren Musik anhört, weiß ich allerdings nicht. Dem Geschmack besagter Dame gemäß schätze ich: Laut.

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kid37 - Freitag, 1. Januar 2010, 22:24
Claim to fame! Diese Dame schuf somit auch eine Art Lebenswerk, man kann daneben nur verblassen (als Mann & Blogger, jetzt). Sie zeigte aber Geschmack, ich kenne da Beispiele, wo sich Frauen mit Musikern (oder gar Schauspielern!) einließen, deren Qualität (also im künstlerischen Bereich) bei weitem nicht so unstrittig ist.

Hier übrigens intonieren SY von Sylvia Plath befeuert, am Ende wird es tatsächlich etwas laut. Aber: Groß! Und in dem Alter! (Muß man mittlerweile hinzufügen.)

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kaltmamsell - Samstag, 2. Januar 2010, 09:31
Ah, danke. "Laut" war natürlich ganz falsch; "strukturierter Lärm" bringt es auf den Punkt.

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vert - Sonntag, 3. Januar 2010, 03:54
was mich in diesem zusammenhang doch interessieren würde: schreibt man so etwas in sein doofiVz-profil? oder erzählt man das bei stammessen2 in der mensa rum?

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kid37 - Sonntag, 3. Januar 2010, 07:05
Herr Vert, haben Sie denn etwa kein Nähkästchen?

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vert - Montag, 4. Januar 2010, 02:41
da sagen sie was. ich muss morgen gleich los.

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nnier - Montag, 4. Januar 2010, 10:32
Diese jungen Dinger heute sind doch alle völlig schamlos. Einmal fahre ich Bus - und muss mir Sachen anhören, sage ich Ihnen, von einer Studentin, die den Kommilitoninnen ihre Beischlafgeschichten vorträgt, also, unerhört, und leider war es ziemlich laut in dem Bus, so dass ich mich manchmal sehr anstrengen musste, um alles zu verstehen.

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kid37 - Montag, 4. Januar 2010, 11:25
Na ja, und um das Thema mal abzuschließen, für solche Dinge hat man schließlich das Unterhosenbloggen erfunden. (Ich bin aber trotzdem erstaunt, daß das jetzt solch ein Erstaunen hervorgerufen hat.)

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vert - Montag, 4. Januar 2010, 21:42
naja, wir haben schon alle solche geschichten auf lager. aber wir erzählen sie nicht.

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kid37 - Montag, 4. Januar 2010, 21:47
ABER DANN PLATZT MAN DOCH!

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kid37 - Montag, 4. Januar 2010, 22:00
(Da ich die Protagonisten nicht kenne, finde ich das eine hübsche Anekdote. Ich weiß ja auch, daß Anita Pallenberg... egal ;-))

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modeste - Samstag, 2. Januar 2010, 02:41
Ah, vielen Dank für den Tipp. Schon bestellt. Und: Ein schönes Jahr 2010 wünsche ich Ihnen.

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kid37 - Sonntag, 3. Januar 2010, 07:08
Das Beste Ihnen!

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