Mittwoch, 13. Januar 2010


Heymwerken

Das Wetter ist ja hervorragend geeignet zum Schneeengelmachen. Oder lesen. Die alten Vertrauten, Georg Heym - ich bin da ein großer Freund - Schöpfer solch unvergessen reflektierter Tagebuchzeilen wie "Mag die juristische Scheiße links liegen bleiben, mag ich durch das Scheiß-Lause-Sau Examen durchscheißen, das ist ja schließlich nicht so wesentlich - Es ist viel wesentlicher, daß ich mir treu bleibe." [Eintrag vom 18.11.1910] Der kleine Berliner Literaturrabauke gab sich offensichtlich privatschreibend eher nicht so als der Feinziselierte, aber Gott, er war jung - und wie waren denn zum Beispiel die Sex Pistols in dem Alter drauf. Dafür, wir schlagen den Schlenker zur Jahreszeit, versuchte er, seinen Freund Balcke aus dem Eis zu ziehen, ist wie so vieles im Leben eben manchmal trügerisch, das war am 16. Januar und danach waren gleich beide tot. Viele Seiten einer Person also und viele noch nicht recht fertig. Aber die Gedichte, Mann! Knaller.




Pathos wirkt ja, so hört man, leicht peinlich, man soll in unserer Ich-bin-meine-eigene-Pressemitteilung-Gesellschaft ja alles locker weglächeln und nicht einen auf Krawallbruder machen oder Rumgreinen. Aber das dunkle Grollen! Der hämmernde Ton eines düster mahlenden Aufgestanden ist er/Welcher lange schlief! (Jeden Morgen!) Das möchte man sich ungeschützt gar nicht von der Bühne herunterdeklamieren lassen. Da möchte man anschließend doch gleich mit jemandem Schlitten fahren! Leider, man begreift jetzt langsam meinen tiefen Kummer, besaß ich keine adäquate Ausgabe der Werke des jungen Explosionsdichters. Irgendwas Hübsches, Gebundenes, Haltbares zum gelegentlichen Nachlesen, Nachsprechen, Bilder klauen. Schaut man aber bei den einschlägigen Antiquariaten vorbei, sieht man, daß die Preise dort leicht in kongenial pathetische Höhen gehen.

So blieb mir dieser Klotz von 2001, der zwar alles enthält, aber unhandlich ist wie ein Telefonbuch, höchstens in den Augen seiner Mutter schön aussieht und die Anmutung eines Abreißkalenders ausstrahlt. Jetzt jedoch erreichte mich dieses tolle Geschenk: der Reprint von Umbra vitae, die Ausgabe von 1924 mit den Holzschnitten von Ernst Ludwig Kirchner, liebevoll betreut und gemeinsam mit einem fußnotenbewehrten Materialbändchen in einen schicken Schuber gepackt. Zu loben ist der Reclam-Verlag, der sich für dieses Wagnis auf unternehmerisch dünnes Eis begab, denn Bestseller sehen natürlich anders aus. Hätte Heym Bücher geschrieben wie Geh, wohin das Eis dich trägt oder Nachteis in Lissabon... es wäre eine andere Geschichte. So ist es ein großer, seltener Schatz zum Blättern und Staunen, zum Nachlesen und sich selbst halblaut in den Schlaf deklamieren.