
Freitag, 25. November 2005
Als Kind, also damals, mochte ich die Filme mit Doris Day sehr. Das waren Sonntagnachmittagsmomente, turbulentes Boulevard mit domestizierten Problemen, angekreischten Kostümen, überschnappenden Empörungsstimmen ("Oh! Oh! Ooooh!") und augenrollendem Ham-acting.
Filme ihrer Zeit, mit all dem Mief und Muff, der damals die frisch-deodorierte Vorstadtwelt zusammenhielt.
Aber wenn mir jetzt eine Schmonzette wie Bridget Jones 2 dasselbe Frauenbild als "witzig" und "modern" verkaufen will, dann sage ich jetzt, 13:46 Uhr, schon mal gute Nacht. Dieser reaktionäre, dumme und unglaublich erfolgreiche Aschenputtelkäse erklärt wiederum, wie sie ist. Unsere Zeit.
Deshalb zum Ausklang der Hartbrandwoche lieber weiche Blicke auf die Arbeiten von Marco Wiegers und Arnoud Bakker werfen. Und sich zart berühren lassen.

As Velvets fans we thought it was a great coup to have got her,
but, because our audience was mostly pop, they hated her
and her harmonium. She only did half a dozen dates before she
got sick of being booed offstage and quit.
(Mark Paytress. Siouxsie and the Banshees:
The Authorised Biography. London, 2003.)
Wenn die Abende dunkler und die Nächte richtig kalt werden, spürt man es deutlicher. Es ist das Wasser, das eher gefriert und nicht das Blut. Eine Haut aus Eis wächst über alles und überzieht am Ende selbst das Telefon. Eine zeitlang mag man noch mit klammen Fingerspitzen über die brüchige Fläche glitschen und feuchte Spuren in der frostigen Schicht hinterlassen. Doch irgendwann, wenn der Atem längst schon nicht mehr als warmer Nebel in der frostigen Luft hängt, fühlen sich dieselben Finger an wie kalte Knochen, die über eine Schiefertafel kratzen.
Dann ist die Freundschaft vorbei, und die Versprechen der Jahre, der Dauer, der Verbundenheit bloß Buchstaben und Laute, deren Klang fremd und deren Bedeutung entrückt sind. Worte, die niemals so sind wie das dickere Blut, das in den Adern frieren mag. Aber erst, wenn auch das Herz nicht mehr schlägt. Das eigene.
"It became like an illness at the end. That's the perfect word." (Kenny Morris)
1979, als sie gerade ein paar Tage auf Tour waren, flohen Drummer Kenny Morris und Gitarrist John McKay wortlos und abrupt aus Aberdeen, während der Rest der Band und das Publikum zunehmend nervöser werdend in der Konzerthalle auf sie warteten. Die Vorband The Cure sprang ein, Robert Smith ersetzte McKay für den Rest der Tour - und die Banshees machten irgendwie weiter. Muß man ja immer tun.
Immer weitermachen.

Dienstag, 22. November 2005
Als Frau Gaga neulich in alten Tagebüchern kramte, dachte ich erst noch keck, ach, das kannst du doch auch mal machen. Doch heute belehrte mich ein kurzer Blick und zunehmend mißmutiger werdendes Blättern eines besseren.
Das ist ja alles indiskutabel. Oder aus anderen Gründen nicht zitierfähig. Nur selten gab es Perlen wie:
Sie bemüht sich, nett zu sein. Du bemühst dich, nett zu sein. Und hinterher fühlst du dich zum Kotzen.
Schön auch ein Eintrag von 1986: Alles ist aus. S. hat einen neuen Freund. Ende. Melodramatische Pause, zwei leere Blätter. Dann der nächste Eintrag:
Aldi hat Wein im Angebot für 1,59 DM.
Morgen wird das alles verbrannt.

Sonntag, 20. November 2005
Wir fanden uns ganz schön bedeutend.
(Die Sterne, "Trrrmmer")
Drei Monate bastel ich schon an meinem zweiten Wohnzimmer herum, und finde doch keine Zeit, mehr als die Wände vorzustreichen.
Manchmal denken, ach, nimm doch Sack und Pack und zieh in neues Heim. Verrate niemanden deine Hausnummer und kaufe auch kein Telefon. Mach doch mal in Ruinen. Bei dir ist es so langweilig geworden. Nein, nur unpersönlich. Und man ahnt doch auch warum. After the Goldrush.
Blicke. Was sagte der Rabe? Nevermore, und das mit einem Achselzucken. Gedankenverloren spiele ich mit dem losen Sicherungsstift, halte den Bügel in der Hand, warte, ob ich niesen muß. Gekommen, um zu bleiben. Gott, seid ihr naiv. Gekommen, um zu leiden. Dann muß man weiterziehen.
Alles unterzieht er einer mitleidslosen Prüfung, und der Mähdrescher, der die neue Zeit ankündigt, steht schon auf dem Feld. Dann hält der Sänger inne, weil er weiß, daß es für ihn nur eines gibt - weitergehen. (Edo Reents anläßlich Neil Youngs 60. Geburtstag am 12.11. in der FAZ.)
Wenn ich mit Jüngeren spreche, und mittlerweile kann ich das, erkenne ich mich selbst. Nein: Erinnere ich mich. An ein Selbst.
Warum man ward, wie man ist. Und meistens nicht so schön, wie man dachte, daß man ist. Die Musik immer zu leise, der Film ein verzerrtes Licht.
Und nun, fragte ich. Damals. Wo gehen wir hin? Was fangen wir an. Und Worte versickern in einem echolosen Raum. Ein trockenes Plopp, und dann waren die 80er vorbei.
Interessiert es dich nicht, was sie macht?
Nein, sage ich. Ich habe in all der Zeit schließlich nur eines gelernt.
In Dekaden zu denken.

Freitag, 18. November 2005
Am Ende einer arbeitsreichen Woche und zu Beginn eines reduzierten (alle bitte: schluchz!) Wochenendes, ist der Bedarf nach einer kleinen Wohltat nahezu grundrechtsfähig. Seit gestern ist ja nun endlich mein Mund mit einem Implantat rückgefüllt - nun aber schmeckt mir Schokolade nicht mehr! Offenbar eine Kreuzreaktion auf das Ersatzmaterial. Warme Gefühle wollen in meiner Wohnung auch ansonsten nicht aufkommen, seit gestern abend, pünktlich zum Beginn der schneidigen Jahreszeit, die Heizung ausfiel. So kalt war es nicht mehr seit den seligen Zeiten im Pathologischen Institut des Barmer Klinikums (dear dead days!), in dem ich mir während des Studiums meinen (Achtung:) Lebensunterhalt verdiente.

So war es heute eine warme Freude, zufällig beim besinnungsleeren Stöbern im Medienregal eine verschollene Perle aus meinen 80er-Jahren herauszufingern. Damals nämlich gelang ich über krude und krumme, befreundete und nicht so befreundete Kanäle an die Kopie einer Kopie einer Kopie einer Kopie der gesammelten Werke des schrecklichen Kindes Richard Kern.
Über die USA, Köln und Solingen gelang das gesuchte Stück schließlich zu mir. Kern, einer der bekanntesten Vertreter des Cinema of Transgression, hatte in seinen jungen Jahren eifrigst die Super8 auf befreundete Künstler und Musiker aus der New Yorker Off-Szene (spell: Subkultur!) gehalten und einige amüsante, meist aber verstörende Kurzfilme inszeniert. Da wälzen sich Menschen wie Henry Rollins durch Blut und Schlamm und spielen Underground-Models wie Lung Leg mit Geckos, Knarren, Messern und allerlei Spielzeugen zur Erweiterung des sexuellen Horizonts - untermalt von Musik der Butthole Surfers oder Jim Foetus/James G. Thirlwell und Co.
Am heißesten klopfte mein Herz allerdings für eine andere ikonografische Szenegestalt, die in vielen Filmen von Richard Kern unbestrittener Star und Kollaborateurin war und von der ich beschlossen hatte, mich dereinst entjungfern zu lassen (ich konnte nicht so lange warten, sorry): Lydia Lunch.
Die zornige junge Frau war damals Star von berüchtigten Werken wie Fingered oder The Right Side of My Brain. Kern und Lunch hoben in ihren Filmen die verkommene Welt des "White Trash" auf die Leinwand - und wenn ein Zeigefinger erhoben wurde, dann zumeist nur, um diesen sogleich in die nächstgelegene natürliche oder auch unnatürliche Körperöffnung zu stecken. Moralisch verkommen, emotionsgestört, ohne Sinn, Verstand und höhere Ziele zeigt sich hier das düstere Zwillingsbild zu der mittlerweile recht mainstreamigen und burlesken Themenwelt eines John Waters.
Irgendwann fand ich heraus, daß Ms. Lunch mit bewußtseinserweiternden Substanzen experimentierte - von da an war natürlich Schluß mit unserer Liaison, die sie vielleicht auch ganz anders wahrgenommen hat als ich, wenn überhaupt. (Ich bin aber sicher, bei einigen Auftritten hier in Deutschland hat sie mich angesehen. Und einmal, da war es aber schon vorbei, hätte ich sie fast getroffen, aber sie hat mich versetzt, diese kleine Trailer-Trash-Schlampe! Muß ich noch mal in Ruhe erzählen.)
Jedenfalls hat auch Richard Kern seine interessantesten Tage hinter sich, macht jetzt eher wenig originelle Mädchen-Fotografie, hinterließ der Welt aber immerhin sein bizarres Œuvre, darunter auch einige Sonic-Youth-Videos wie das zu "Death Valley 69". Hardcore? Ach was. Rückblickend betrachtet bloß ein harmloser Spaß unter Freunden.
Sobald ich also das Eis von meinem DVD-Player abgekratzt habe, heißt es dieses Wochenende nur noch:

Pop-Art ist gemeinhin nicht so mein Ding. Knallig, flächig, häufig seriell - und selbstredend viel zu bunt - so kann mein herbstliches Herz nicht pochen. Der Luxemburger Michel Majerus (1967 - 2002) hat demnach kein Heimspiel auf meinem Aufmerksamkeitsradar. Sein Sampling von moderner "POP"-Ikonographie, so Robert Fleck von den Deichtorhallen auf der Vernissage, mag neue Technologien nutzen, digital genährt und dann doch gemalt sein - eine "Überführung der Malerei in ein neues Jahrhundert" drängt sich mir nicht als vordergründige Assoziation auf.
Vielleicht ist mir zu wenig Sex in diesen Bildern, vielleicht betont Fleck auch zu sehr die Momente des "Konstruierten" und des "Aufwendigen" der aktuellen Hängung. Geschenkt. Es ist groß, monumental (einzelne Werke erreichen 10 Meter Kantenlänge), bunt und oft genug ein Schlag ins Gesicht. Doch der Supermarkt visueller Codes ist mir spontan zu sehr mit dem Kopf und zu wenig mit Bauch, Herz und Lenden entworfen. Malerei, die nicht den Akt des Malens repräsentiert, sondern eine reflektierte Welt, die selbst schon hohl ist. Platt und zweidimensional. Dritte Hand.
Aber dann: Muß man diese Bilder sehen und davorstehen, klein nämlich, kleiner als die niedliche Katze und die großen Augen. Dort, in der Rezeption, liegt die eigentliche sinnliche Erfahrung dieser Bilder. Kleingemacht, demütig unter den schäbigen Resten billiger Klebebildchen-Ästhetik, wie ein Wurm im Angesicht des Brillo-Boxen-Turms - entfaltet die ZEICHEN-Kunst ihre Kraft. Erdrückt von Ikonen und Versatzbildern wie Titeln von The Face oder Postern von Marilyn Manson mag man den täglichen Beschuß mit Pixeln, Infografiken, Werbung und Kunstzitaten , die Dialektik aus Fassade und Sein körperlich nah erfahren. Nur neu, neu finde ich das alles nicht. Man muß nur einen Gang durchs Museum Ludwig in Köln unternehmen, um zwischen warholisch-rauschenberg'schen Lichtensteinen und dem vostellpaik'schen Fluxus-Zirkus ganz ähnliche Ansätze zu finden.
Michel Majerus kam 2002 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Seine Bilder jedoch sind überlebensgroß.
(Michael Majerus - demand the best, don't accept excuses.
Hamburg, Deichtorhallen - 18.11.2005 - 26.1.2006)

Donnerstag, 17. November 2005
"Find out who you are, and then do it like mad."
(Quentin Crisp)

Dienstag, 15. November 2005
Persönliches Tageshoroskop von Dienstag, 15. November 2005
Unüberlegtes Handeln provoziert ernste Störungen im emotionalen und häuslichen Leben oder auch bei der Arbeit, da Sie jetzt nur ungenaue Vorstellungen über sich selbst und Ihre Bedürfnisse haben. [...] Vermeiden Sie langfristige Engagements, damit Sie später nicht die Konsequenzen unbedachter Handlungen ausbaden müssen, die Sie unter dem Einfluß kurzzeitiger Illusionen begangen haben.
In diesem Sinne dann in das Vorstellungsgespräch morgen früh.

Sonntag, 13. November 2005
You should know by now.
Be careful what you put them through.
(Editors, "Munich")
In meinem extendierten Wohnzimmer spielten am Samstag die Editors, neuester britischer Düsterpop über no-nonsense Postpunk-Rhythmen. Die Jungs aus Birmingham haben angenehmerweise Joy Division und die Bunnymen zum Pausenbrot ihrer Elementary School gehabt und schwitzen das nun aus jeder zwanzigjährigen Pore.
Im vollgepackten Molotow (Ah, bring your own air!) war die Spannung allerdings nicht für jeden zu ertragen. Ein kleiner Trupp nervte durch wildes Gehampel ziemlich ab.
Ist eben doof, wenn man zu weit hinten steht. So ein Gehemmt-Aggressiver fand zwar nichts dabei, alle anzurempeln (Oh, Pogo, [m], der: Hüpftanz mit Anfassen), als es bei Munich ein wenig wilder wurde und ich zurückhüpfte, mochte der das aber gar nicht. Eher ansatzlos sprang mir zum zweiten Mal innerhalb zweier Wochen ein Typ fast an die Gurgel. Erst verstand ich nur was von "Mach Platz" (hardhearing), aber dieses "Isch mach dich platt!" war nun wirklich nicht nett.
Zum Glück habe ich aber nicht mehr die vorlaute Klappe wie vor 20 Jahren und mache keine Kußmünder oder rotze frech "You'll speak when you're spoken to" (Editors) zurück. Mittlerweile neige ich dünnes Hemd halt eher zu pastoralen Beschwichtigungs- und Demutsgesten. Ist besser so. Für mich. Auch wenn vollgepackte Rockschuppen den Vorteil haben, daß eigentlich immer irgendwelche Umstehenden alert genug sind, ihre Muskeln schon mal prophylaktisch vorzupumpen und notfalls Ausfällige zurückzuhalten.
Na ja, vielleicht hatte der Typ schlicht sein Lithium nicht genommen. Egal. Und, he, ich habe ihn nun wirklich ein wenig provoziert. Bißchen. So im Nachhinein betrachtet. Aber er hat angefangen. So. Wie es übrigens stressfrei geht, zeigte der Typ von der Roadcrew, der sich britisch höflich durch die Menge schob. Auch bezeichnend, wenn die Band netter ist als ihre "harten" Fans.
Damit zurück zu den Editors, die von Anfang an keine Gefangenen machten, mit überraschendem Druck und wirklich hervorragenden Sound (Ich sag ja, dieser Typ von der Crew hatte es drauf) die Hamburger zum Rocken brachten. Gitarrengeschredder von einem wobbligen Rickenbacker-Bass unterlegt, dazu ein kraftstrotzender Tom Smith - da waren gleich alle Hände in der Luft und Haare elektrisiert. Mir fiel auch gleich auf, warum ich Interpol nicht ausstehen kann. Wenn Rocker mit Flecken auf der Hose die Bühne betreten, dann bitte, weil da grad noch Leben war. Und nicht, weil man backstage prätentiöses Selbstbefummel treibt. Diese aalglatten Interpolen tragen zwar schicke Anzüge, haben darin aber keinen Platz mehr, ihren Erfolg würdevoll zu verdauen. Muß auch mal gesagt werden, auch wenn das jetzt dem ein oder anderen weh tut. Außerdem überlegt man bei deren Konzerten, ob man nicht besser die Isomatte ausrollen und ein wenig meditieren sollte. Mitsummen, vielleicht.
Die Editors machen dafür so richtig Tempo, wie das halt schon mal so war mit den Fehlfarben und den Gang of Four und Wire und diesen jungen Menschen von vor 25 Jahren. When I was young und hatte dunkles Haar. Und wir hüpften alle und schlugen uns nicht aufs Maul. Und wenn, dann nur zum Spaß.
Tolle Sache.
Wenn man dann nach dem Konzert von der Reeperbahn aus runter zum Hafen spaziert, in betörender Begleitung am besten, kann man ein wenig verschwitzt und mit pochendem Herzen die Queen Mary 2 anschauen. Die liegt da, bunt illuminiert, in den Docks, wird bedengelt und beklopft und läßt sich das in majestätischer Ruhe gefallen.
With one hand you calm me
With one hand I'm still.
