Mittwoch, 17. März 2010
"Die Frage ist nur, ob Hegemann nun plagiiert hat oder nicht, und diese Frage ist trotz der mit enormen Aufwand geführten Debatte bis heute ungeklärt." (Frankfurter Rundschau, 17.3.2010)
Vielleicht hilft ja ein Speicheltest, ein Fall sicher für die Experten vom C.S.I., wenn das Feuilleton schon auf ergebnisloses Aussitzen setzt. Nichts genaues weiß man eben nicht.
Besser macht es immerhin Thomas Wolff im Magazin, der dem wahren "Lotl" ein informatives Porträt widmet: "ein recht unkomplizierter Typ". Wie ich also.
Das stärkste Stück aber steht wiederum nicht im Feuilleton, sondern im Panorama. Wie und warum das Buch von Norbert Leithold, der sich bereits als Norbert Bleisch einen Namen als Autor, aber auch als Regisseur von Schwulenpornos, gemacht hatte, wohl recht unvermittelt wieder von der Nominiertenliste des Preises der Leipziger Buchmesse verschwand.
Die beginnt morgen. Dann geht es weiter in Lurchis Possenspiel.

Freitag, 5. März 2010
I've fallen by this time?"
(Lewis Carroll, Alice in Wonderland)
Ich habe mir vorgenommen, noch ein wenig skeptisch zu bleiben. Computergenerierte Trompe-l'œil-Welten, 3-D-Gebrause ("Im Himmel muß niemand eine Brille tragen!"), Elfman-Gepampe, es scheint alles so laut, optisch und akustisch. Und irgendwie hat mich der Regisseur, dem persönlich alle meine Sympathien gelten, in den letzten Jahren oft enttäuscht. Eigentlich ist es doch eine kleine, intime Geschichte, über Kindheit und Erwachsenwerden, meinetwegen ein tinkturgetränkter Fiebertraum. Muß das so GROSS inszeniert werden als sei es Hannibals Zug über die Alpen?
Ich werde also noch abwarten mit dem Kinobesuch. Wenig Skepsis indes gilt dem neuesten Werk der hier in den letzten Jahren schon beiläufig erwähnten Camille Rose Garcia entgegenzubringen. Sie hat Alice in Wonderland neu illustriert und vollgepackt mit Tentakelwesen, traurigen Teetrinkerinnen und taschenuhrschwingenden Tattergreisen Kaninchen. Kommt nicht zu spät, noch kann man das hübsch aufgemachte Buch bequem erwerben.
(Lewis Carroll. Alice's Adventures in Wonderland. Illustriert von Camille Rose Garcia. New York: Collins Design, 2010.)

Donnerstag, 18. Februar 2010
Jetzt habe ich mir das Buch einfach mal zugelegt, nachdem mir mehr und mehr Menschen aus meinem Bekanntenkreis heimlich zuflüsterten, sie hätten "es" gelesen und... (die Gespräche brachen dann verschwörerisch ab). Meine zweite überarbeitete Auflage enthält Danksagungen, detaillierte Quellenangaben (!), ein umfangreiches Glossar (!!) und ebenfalls umfangreiches Literaturverzeichnis und viele Bilder (!!!). Inhaltlich ist es tatsächlich ausgesprochen explizit, ein schonungslos-animalischer Bericht aus schummrig beleuchteten Feuchtgebieten: "Die eigentliche Paarung findet nachts statt; das Männchen setzt eine oval-zylindrische Spermatophore ab, die vom Weibchen in die Kloake aufgenommen wird."
Man hört augenblicklich den dumpfen, hammerharten Beat, sieht das fluoreszierende Licht aus Clubs, die "Aquarium" heißen und eine glaswandharte Türpolitik betreiben.
An einigen Stellen, das muß man einräumen, liest es sich etwas holprig und verstellt abstrakt ("Die Umwandlung muß zwischen Schlupf und Geschlechtsreife stattfinden und Strukturen umfassen, die nicht mit der Fortpflanzung im Zusammenhang stehen.") Vielleicht ist das mit dem Alter des Autors zu erklären, der Lesefreude steht das nur selten im Wege, überzeugen doch immer wieder im Sound einer Generation gesetzte, messerscharfe Beobachtungen über flüchtige Begegnungen mit Bewohnern der dunklen Hinterräume: "Sie sind schwanzlos, ihr Darm ist relativ kurz." Unmißverständlich.
Die Anwürfe, daß manche Bilder an die erinnern, die sich auch in Blogs finden, lassen sich leicht entkräften. Es ist ein Remix, ein ebenso intelligentes wie ironisches Spiel, freundlich lächelnd wie das Axolotl selbst.
(Joachim Wistuba. Axolotl. Münster: Natur und Tier Verlag, 2. Aufl. 2008.)

Mittwoch, 17. Februar 2010
Denn wir sind wie Boote im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoß sollte ein Axolotl sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Eis verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar.
(Für Franz)

Montag, 8. Februar 2010
Jetzt dreht das Feuilleton völlig durch. The Wunderkind ist Pynchon, Burroughs, John Dos Passos. Wie konnte man das übersehen.

Dienstag, 2. Februar 2010
Viele kennen das. Man öffnet ein Buch und entdeckt den inneren Lektor in sich. Was erlauben Dichter! Die Sätze schlecht gestellt, die Zeilen plump gefüllt, die Wörter falsch plaziert! Schnell ist der Stift gezückt, ein Grollen unterdrückt, seufzend sitzt man wie ein Korrektor über den Arbeiten seiner Untersekunda, Hände über den Kopf zusammenschlagend, aber: Man hilft ja gern, so ist es nicht! Irgendwann ist die Arbeit getan, ein paar mutmachende Zeilen oder auch vernichtende dazugeschrieben, das Buch, nun verbessert und von Fehlern getilgt, zurück in den Verkehr gebracht. Wikilesia, demokratische Literatur, hochmodern, Partizipationsästhetik, hermeneutisches Zirkelschreiben, bis alles genehm und genehmigt und von höchstem Anspruch.
(Bibliotheksfund. Ein Leser hat Baudelaires Les Fleur du mal redigiert und zurückgestellt.)
via Bebellestrange und +

Freitag, 29. Januar 2010
Aus dem Fantum bin ich lange raus. Aber Franny & Zooey würde ich alle Zeit zu meinen Lieblingsbüchern zählen, ein Kopfkissen in der Not, das man vollsabbern und ablieben, in das man zur Not auch hineintauchen kann. Ein Überlebenshandbuch, wenn man dem allwissenden Buch von Tick, Trick und Track entwachsen ist und Antworten für die anderen existentiellen Fragen braucht. J. D. Salinger, geliebt, verehrt, gestalked, ein Mysterium, hieß es, ein Unikum, wohl etwas wunderlich auch, hörte am Ende auf zu Bloggen, schrieb nur noch für sich - in endlos fortlaufende und anwachsende Dateien so wie einst Kerouac mit seinem Endlospapier.
(J. D. Salinger, 1919 - 2010)

Donnerstag, 14. Januar 2010
und seh' nur Ruinen.
(Fehlfarben, "Paul ist tot")

"Am Rhein lebt man erst, wenn es nebelt und näßt", behauptete er einst, aber vielleicht reichte der Hamburger Winter, sich im sehr gepflegten und mir aus der benachbarten Heimat eben gut bekannten Mißmut einzurichten und in einstudierter Lustlosigkeit in den Sessel zu fläzen. "Jetzt, wo das Bier schon mal offen ist", deutete seine offensiv demonstrierte Unvorbereitetheit Spontaneität an, "können wir ja auch mal was lesen und über alte Zeiten sprechen". Ganz leicht machte es Peter Hein seinem Publikum nicht. Mitreißen war nicht das Motto, mitreisen mußte man schon selbst. So las er launige On the Road-Anekdoten und ätzende Ortsbeschreibungen aus "Geht so", sehr Richtiges und vom Publikum anerkennend Goutiertes über Hamburg in der irrigen Meinung, nun eine Beleidigung ausgesprochen zu haben (Nein, Herr Hein, es stimmt, hier ist tatsächlich immer Dom - und wenn nicht Dom ist, dann wird er gerade auf- oder abgebaut). Er riß zahlreiche Erinnerungsfetzen an, erzählte die Düsseldorfer Punk-Historie im Schnelldurchgang, textete sich von Charley's Girls, Mittagspause bis Family Five, allesamt Bands, bei denen er dabei war, und kreiste natürlich immer wieder um die Fehlfarben, die gleichsam bejubelte und immer wieder vergessene letzte große, wichtige deutsche Band seit den Ton, Steine, Scherben.
"Lärm nur mit Drähten und toten Tieren macht nicht sooo viel Sinn" erläuterte er seinen Weg zum Mikro. Seine Geschichte ist die einer ewigen Verweigerung. Ausstieg aus der Band, nachdem diese gerade ihr wichtigstes Album aufgenommen hatte und am Vorabend einer Tournee stand, rastlose Kehrtwenden, andere Anzüge, neue Namen. "Letzter Aufruf Peter Hein", titelte einst die Spex und wünschte sich einen Star herbei. "Fehlfarbe" Hein fügte sich aber nicht ein - was man gut finden kann oder wenig mutig, seine Sache. Oft amüsant, heute aber, die kleinen Seitenhiebe gegen Kollegen und Weggefährten, manches nur in angedeuteten Anekdoten, bei denen es hilfreich war, wenn man die Verhältnisse damals um die 80er herum zwischen Ratinger Hof , Düsseldorf und Wuppertal zu kennen, sich an die kleinen Geschichten und Geschichtchen, Lieben und Liebschaften, Bewunderung und Feindschaften zu erinnern. Jetzt ist alles später, grauer, langhaariger, und als Hein begann, dachte ich für eine Millisekunde, Jürgen Becker eröffne einen Kabarettabend. Aber der ist ja nun Kölner. Der rheinische Sound jedoch ist selten genug hier in der Stadt, und Hein hatte wirklich lustige Geschichten dabei. Erinnerungsware, Rock'n'Roll wird ja immer gern genommen.
Heute lebt er in Düsseldorf und Wien, alles richtig gemacht also. Am Ende schrieb er mit eine nette Widmung unter die andere Widmung in meiner Ausgabe von Geht So. Erinnerungen aus dem Tal . Das war vor Jahren.
>>> Geräusch des Tages: Fehlfarben, Das war vor Jahren

Mittwoch, 13. Januar 2010
Das Wetter ist ja hervorragend geeignet zum Schneeengelmachen. Oder lesen. Die alten Vertrauten, Georg Heym - ich bin da ein großer Freund - Schöpfer solch unvergessen reflektierter Tagebuchzeilen wie "Mag die juristische Scheiße links liegen bleiben, mag ich durch das Scheiß-Lause-Sau Examen durchscheißen, das ist ja schließlich nicht so wesentlich - Es ist viel wesentlicher, daß ich mir treu bleibe." [Eintrag vom 18.11.1910] Der kleine Berliner Literaturrabauke gab sich offensichtlich privatschreibend eher nicht so als der Feinziselierte, aber Gott, er war jung - und wie waren denn zum Beispiel die Sex Pistols in dem Alter drauf. Dafür, wir schlagen den Schlenker zur Jahreszeit, versuchte er, seinen Freund Balcke aus dem Eis zu ziehen, ist wie so vieles im Leben eben manchmal trügerisch, das war am 16. Januar und danach waren gleich beide tot. Viele Seiten einer Person also und viele noch nicht recht fertig. Aber die Gedichte, Mann! Knaller.
Pathos wirkt ja, so hört man, leicht peinlich, man soll in unserer Ich-bin-meine-eigene-Pressemitteilung-Gesellschaft ja alles locker weglächeln und nicht einen auf Krawallbruder machen oder Rumgreinen. Aber das dunkle Grollen! Der hämmernde Ton eines düster mahlenden Aufgestanden ist er/Welcher lange schlief! (Jeden Morgen!) Das möchte man sich ungeschützt gar nicht von der Bühne herunterdeklamieren lassen. Da möchte man anschließend doch gleich mit jemandem Schlitten fahren! Leider, man begreift jetzt langsam meinen tiefen Kummer, besaß ich keine adäquate Ausgabe der Werke des jungen Explosionsdichters. Irgendwas Hübsches, Gebundenes, Haltbares zum gelegentlichen Nachlesen, Nachsprechen, Bilder klauen. Schaut man aber bei den einschlägigen Antiquariaten vorbei, sieht man, daß die Preise dort leicht in kongenial pathetische Höhen gehen.
So blieb mir dieser Klotz von 2001, der zwar alles enthält, aber unhandlich ist wie ein Telefonbuch, höchstens in den Augen seiner Mutter schön aussieht und die Anmutung eines Abreißkalenders ausstrahlt. Jetzt jedoch erreichte mich dieses tolle Geschenk: der Reprint von Umbra vitae, die Ausgabe von 1924 mit den Holzschnitten von Ernst Ludwig Kirchner, liebevoll betreut und gemeinsam mit einem fußnotenbewehrten Materialbändchen in einen schicken Schuber gepackt. Zu loben ist der Reclam-Verlag, der sich für dieses Wagnis auf unternehmerisch dünnes Eis begab, denn Bestseller sehen natürlich anders aus. Hätte Heym Bücher geschrieben wie Geh, wohin das Eis dich trägt oder Nachteis in Lissabon... es wäre eine andere Geschichte. So ist es ein großer, seltener Schatz zum Blättern und Staunen, zum Nachlesen und sich selbst halblaut in den Schlaf deklamieren.

Freitag, 1. Januar 2010
Nachdem ich heute bereits das Foto des Jahres gesehen und danach gleich beschämt beschlossen habe, selbst nie wieder ein Foto zu machen, nach all den zurückliegenden Wochen aber auch, die fast bis in die letzten Zeitwinkel mit Getue und Gebrause, Hin- und Herfahren, Behördengängen, Tadi und Tada gefüllt waren, ist heute der erste Tag, an dem ich mal zwei, drei Stunden auf dem Sofa liegen und durch die quasi sich selbst akkumulierenden Stapel Zeitschriften und Bücher blättern kann. Fast wie früher! oder Wie es sein sollte! grunzt wohlig der innere Schweinehund, während ich immerhin noch so pflichtbewußt bin, nach erster Sichtung der Zeitschriften drei Stapel zu bilden mit "Muß ich noch lesen", "Könnte ich noch lesen", "Sofort weg damit!" Danach dann ein Blick in die drei Bücher, die ich mir zu Weihnachten selbst geschenkt habe (man weiß ja schließlich nie, was sonst so kommt, und nachher sitzt man mit leeren Händen unterm Baum, mühsam die Tränen zurückhaltend!) Eine erste Enttäuschung bereits hat mir jedoch David Brownes Biografie über Sonic Youth bereitet. Das Vorwort zu Goodbye 20th Century kommt leider sehr geschwätzig und in einem aufgeplusterten Amerikanisch daher, das durch die Übersetzung nicht viel besser geworden ist - zu sehr kann man beim Lesen jede betulich-gestelzte Wendung im Kopf Wort für Wort rückübersetzen. Banalste Beobachtungen ("...jeder [hat] seine eigenen Vorstellungen von Sonic Youth") und Sätze wie "Es ist eine Geschichte darüber, wie man seine Integrität bewahrt, während das Leben einen vor immer größere Herausforderungen stellt und man selbst älter wird" nehmen mir eigentlich die Lust, überhaupt weiterzulesen. Aber es ist bloß das Vorwort, mal sehen, welche mißstimmige Laune die weiteren Kapitel erzeugen werden.
Großartig und eine wirkliche Empfehlung ist allerdings der Bildband über Tracey Emin, der zur Zeit in den Buchhandlungen eures Vertrauens für die Hälfte des Originalpreises verramscht wird. Emin ist für mich ja die Aufregendste unter den Selbstentblößungskünstlern, unbequem, monströs, ungelenk auch, anstrengend und immer wieder ungeheuer bewegend. Beim Blättern durch ihre Quilts (siehe hier) sind es regelmäßig die schmerzhaften Rechtschreibfehler in den aufgestickten Truisms und Gedankenaustreibungen, die wie die groben Nähte entlang der Buchstaben die brüchigen Demarkationslinien eines gewaltvoll zerstoppleten Lebens spüren lassen. Ihre Autobiografie Strangeland ist übrigens ebenfalls endlich auf Deutsch erschienen. Nervtötend interessant und mit einem kurzen, für mich sehr anrührenden, Nachwort:
I feel it would be unreasonable for anyone to read a book that had spelling mistakes throughout. It was my decision to have my spelling corrected, and I'm now in the process of learning to spell.
Eine Lektion also über das Aufrappeln und Wiederaufstehen - wie hieß das noch in einem dieser Blogs so nervtötend repetetiv: Immer weitermachen.
Dazwischen David Lynch. Worüber man nicht sprechen kann.
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- David Browne. Goodbye 20th Century: Die Geschichte von Sonic Youth. (Köln, 2009.)
- Tracey Emin: Works 1963 - 2006. (New York, 2006)
- Werner Spies (Hrsg.). David Lynch: Dark Splendor. (Ostfildern, 2009.)
