Mittwoch, 20. November 2024
Und auch ansonsten alles Gute
(Chanson vom Niederrhein)
Dieses kleine alltagsnahe Chanson hat es leider nie ins Radio geschafft. Schon gar nicht ins urcoole. Nächstes Jahr im Jänner feiert der österreichische Sender FM4, bei dem ich leider noch immer keine eigene Sendung habe, sein bereits 30. Jubiläum. Da staunt's, so alt schaut ihr auf einmal aus. Ich erinnere mich, als ich das erste Mal in Wien war und mir beim warm glimmenden Schein pulsierender Empfangsröhren FM4 nahegebracht wurde, Im Sumpf wahrscheinlich oder eine andere so kenntnisreiche wie verschrobene Sendung über Kunst, Musik, Literatur und Geschehen. Da ist man berauscht, wie der kleine Junge, der aus der Hamburger Provinz in die große Stadt kommt. FM4 war da natürlich längst etabliert, ein treuer Haushaltsbegleiter zehn Jahre nach dem herzzerklopften Senderstart, der damals ein Moment gewesen sen muss, als hätten sich die Türen gleich mehrerer finnischer Clubs für eine lange mit Trallala gequälte breite Öffentlichkeit geöffnet.
Instand crush für Sprecherin Angelika Lang, deren Stimme ich lange Jahre nur von Reisedokumentationen auf 3Sat kannte und die ich neben der leider früh verstorbenen Franziska Pigulla für die angenehmste im ganzen Gewerbe halte. Die Audioversion meines Debütromans würde ich jedenfalls von ihr einlesen lassen. Extra Punkt für das lässig ans Mischpult gepickte Kaugummi. So zu Hause muss man sich erstmal fühlen, wenn man gerade den Schieberegler aufzieht, der in derselben Sekunde die Radiolandschaft eines ganzen Landes verändern wird. Mir liefe ja das Wasser rauf und runter, aber ich bin eh sehr leicht sehr angespannt. FM4 höre ich heute noch oft übers Internet. Das Programm hat sich verändert, die Tagschiene ist deutlich kommerziell, und einige prägende Gestalten und Mitbegründer wie Martin Blumenau leben nicht mehr.
Frau Lang, von der es heißt, sie hätte damals 2000 Schilling die Woche für Platten ausgegeben (das war umgerechnet sehr viel Geld), lebt, nach dem, was ich vor Jahren las, nicht mehr in Wien, was erklärt, weshalb ich sie dort trotz aller Verbindungen und Kontakte nie getroffen habe. Also persönlich. Lassen wir es beim fernen Radiostimmenschwärmen.
>>> FM4
Montag, 28. Oktober 2024
Heute hat Stephen Morris Geburtstag, Schlagzeuger bei Joy Division und New Order, von dem ein Bandmitglied einst sagte, er sei "daft as a broomstick", was in Manchester so viel bedeutet wie "eigentlich ein dufter Typ". So meine Gedankengänge unter anderem, während ich auf meiner Chaiselongue liege, die Regentropfen auf der Fensterscheibe zähle und ein bisschen unschuldiges Indiegeschrammel höre, als sei ich ein junger Mensch, der besser einen Besenstil greifen sollte und die Stube kehren.
Nun kann man aber auch mit und auf der Chaiselongue Karriere machen, wie die britsche Band Wet Leg belegt. Eigentlich ein Duo aus zwei Freundinnen mit Gitarren, die sich zur weiteren Rhythmusverstärkung ein paar Jungs als Backingband geholt haben, zeigen ihre kleinen Miniaturen, wie es Großbritannien seit Jahrzehnten immer wieder auf verblüffende Weise schafft, Welle um Welle an kleinen Indiebewegungen hervorzubringen, wie die letzten Jahre um frauendominierte Bands wie Dry Cleaning, King Hannah und eben Wet Leg beweisen.
Deren Geschichte geht ungefähr so: Besagte zwei Freundinnen machen eher für sich selbst und ihre Freunde in der Provinz der Isle of Wight Singer-Songwritermusik mit unbekümmert frivolen Texten und unschuldig-rotzigen Witzen ("Is your muffin buttered?"), poofen gegenseitig auf ihren Sofas, trinken Bier und essen Kekse, gehen ihren unaufregenden Alltagsjobs nach - und zack, ich weiß nicht genau, wieso (ich glaube, ein Song wurde bei Futurama gespielt), finden sie sich im Zirkus der großen britischen Festivals wieder, spielen ihren Hit "Chaise Longue" vor unfassbar 50.000 Leuten in Glastonbury, die alle ihre Texte mitsingen. "Excuse me! - What?" wird da zum Mitmachspiel, alle sind guter Laune, die beiden Inselfrauen haben warmes Bier, einen Degree ("I went to school and got the big D") eine Chaiselongue und die Zeit ihres Lebens, können es wahrscheinlich selber nicht fassen, ändern anderswo Zeilen wie "suck my dick" ins angebrachtere "suck my clit", was die BBC nervös einen Einklinker "Strong language" einblenden lässt, aber nicht die Übertragung [YT] verhindert. Aber gut, wir haben Schlagerfestivals im TV.
Neben der sich munter verströmenden Vitalität der Jugend spielen die zwei aber vor allem in ihren Videos ganz interessant mit der Gothic-Tradition des englischen Hinterlandes. Dazu schaue man sich mal breit, laut und in Farbe (ich meine die Einstellungen des TV-Geräts) den fantastischen Auftritt [YT] bei den Brit Awards 2023 an. Der Tanz heißt wohl "Morris", wie ich erfuhr, und das Ganze ist natürlich pures The Wicker-Man - und zwar die Originalversion von 1973. Erntetanz mit Tiermasken, der ein Opfer fordert, ein unschuldig-gefährlicher Wirbel also, der einem da im fruchtigen Grün der rauen Landschaft unter der Türschwelle durchkriecht.
Solcherart also die Gedanken, während ich gerade noch so eine Kerze ausblase auf meine alten Tage, Sacher-Torte und handgeschöpfte Schokolade betrachte und weiter den Regen, wie er auf der Fensterscheibe herunterläuft.
Sonntag, 26. November 2023
("Fernseher und Leiter". Kreide, Papier, ca. 18x20 cm. 1000,- Mark)
Sitze seit einiger Zeit regelmäßig in angenehmer Resonanz vor The Nightly, einem Internetradio betrieben von dem mir unbekannten, aber charmant benannten Kollektiv "Sad. Old. Radio." Hier laufen alte Soul- und Jazztitel, Ska und finnischer Tango, Fado und französisches Chanson, ein bisschen Weltmusik und Exotika, American Yodeling und Country (& Western), Filmmusik und deutsche Schlager aus den 1920ern. Alles dezent melancholisch abgestimmt zwischen Katzentisch im Ballhaus und Turmzimmer im Leuchtfeuer am Strand von Santa Monica, Porto oder irgendwo. Nie zu düster, eher sanft rückblickend im funzeligem Licht, während drüben im Nachbarhaus ruckelnde Schattenspiele an den erleuchteten Vorhängen das Treiben einer trunkenen Party dokumentieren.
Das ausgesuchte Programm ändert sich im Verlauf des Tages, mitunter schummelt sich eine Strecke mit klassischer Musik hinein, bis dann abends die Lichterketten über der Radio-Terrasse angehen und Cô Kim-Chung Hat knisternd auf Schellack vom Herbstregen in Vietnam singt. Eine Weltreise auf dem Dampfer Moll und wunderbarer Soundtrack für den inneren November. Tune in.
>>> Geräusch des Tages, The Nightly
Freitag, 7. Juli 2023
Heute ist der 7. Juli 2023 und damit der Tag, an dem sich erste herbstliche Klänge in den Sommer mischen. Eingeweihte werden sich gegenseitig verschwörerisch einen kleinen trockenen Zweig zeigen. Viel mehr ist nicht zu sagen. Das hat damit zu tun, dass heute nach einer Pause von sieben Jahren PJ Harvey neues und zehntes Album I Inside The Old Year Dying erscheint. Auf dem Cover ist ein solcher Zweig abgebildet, und die ersten 50 Käufer erhalten einen von Polly Jean selbst aus den Wäldern gesammeltes Exemplar als Dreingabe dazu. Gut, das habe ich mir jetzt ausgedacht. Dies aber geübt, denn in meinem Leben gilt, wenn es schöne Geschichten geben soll, muss ich sie schon selbst erfinden.
Ich besitze also diesen Zweig, nicht aber Ms Harveys Album, da ich heute den Weg zum Schallplattenfachverkäufer meines Vertrauens nicht gefunden habe. (Das Wetter zeigt noch so gar nichts von der erwarteten Vorherbstlichkeit.) Die Firma Youtube half mir aber derweil aus der Patsche und bietet einige Stücke zum Vorhören an, etwas den zum knorrigen Baum anwachsenden leisen Kracher A Noiseless Noise. Die Texte greifen nach ihrem Gedichtepos Orlam (2022) erneut den Dialekt ihrer Heimat Dorset auf, sind also nicht immer gleich auf Anhieb zu knacken. Aber das macht nichts. Ähnlich wie beim (etwas unterschätzten) Klassiker White Chalk, hören wir ein introspektives, zurückgenommenes Album mit beinahe zärtlichen Naturbeobachtungen oder Meleotronechoes unbestimmter Klänge und Klagen. Das wird wieder die irritieren, die ihre Rezensionen mit "in den 90ern war die mal ein Rrrriot-Grrrl" beginnen und lautstark geschwenkte Fahnen und klare Bekenntnisse erwarten. This artist, freilich, has lange left the building. Zum Glück. Wer heute Antworten hat, kann nicht ganz klar sein.
>>> Geräusch des Tages: PJ Harvey, Lwonesome Tonight (Einzige Reminiszenz an Elvis, das war ein bekannter Sänger in den USA, die ich gelten lasse.)
Samstag, 22. April 2023
"It's alive!" Der Geruch, der Geschmack von Elektrizität in der Luft einer lauen Nacht hängt in der Stadt, sicher auch hochtransformiert vom anstehenden Fußball-Derby, aber erstmal raus, raus, raus. Die lahmgelegten Jahre der Pandemie kurzerhand für beendet erklärt, aus dem Hintergrund müßte Rahn schießen, aber es ist Autopilot is for Lovers aus Portland, Oregon, die als Support von The Builders and the Butchers derzeit auf kleiner Deutschland-Tour sind. (Eure Stadt ist auch dabei.)
Adrienne (mit drei weiteren Musikern als Band unterwegs) fiel mir vor einiger Zeit auf Instragram auf, weil sie da charmante Split-Screen-Videos zeigt, in denen sie selbst alle Instrumente spielt. Das alles sehr geerdet, auch selbstironisch, ohne Gehabe und große Kompliziertheit. So kann man auch mir eine Slide-Gitarre unterjubeln, und das heißt schon ein bißchen was.
Schöne Stimmung im freundlichen Nochtspeicher, das gut gefüllt war mit entspannten Menschen (selten so viele Gespräche auf Konzertabenden geführt), selbst auf dem Klo war jemand so freundlich, mir den geheimen Sensor vom Seifenspender zu erklären (hermetisches Wissen!) - sage noch mal einer, auf dem Herrenklo würden keine Gespräche geführt. Wahrscheinlich waren alle entzückt, daß so ein älterer Herr wie ich aus dem Leuchtturm herabsteigt und sich auf Konzerte begibt. Als Vorband hatten Autopilot is for Lovers nicht alle Zeit der Welt, sie hämmerten ihre Stücke (u.a. "Elephant") aber konzentriert, handwerklich einwandfrei und mit unaufgeregtem Arbeitsethos von der Bühne. (Für drei Stücke kehrt Adrienne bei The Builders and the Butchers auf die Bühne zurück, also nicht zu früh gehen!).
Mit der Warnung im Rücken, wer da gerade das Stadt-Derby für sich entschieden hatte, erstmal ein paar S-Bahnen voller "Derbysieger! Derbysieger!" durchgelassen, einem etwas betüddelten, aber zahmen HSV-Fan auf seine Frage "Nur der...?" "Rock'n'Roll?" geantwortet, dann noch ganz freundlich Ghetto-Faust ausgetauscht, als wäre ich gerade auf Abi-Exkursion. Es geht doch, wenn man sich zusammenreißt. Reißt euch zusammen!
>>> Geräusch des Tages: Autopilot Is For Lovers, Elephant
Montag, 7. März 2022
Nach längerer Pause gab es 2007 mit dem Album Variéty wieder ein Lebenszeichen von Les Rita Mitsouko. Es folgte eine Tournee. Auf Youtube gibt es einen Mitschnitt davon. Am Ende spielen sie naürlich "Marcia Baïla", ihre Hommage an die früh verstorbene Freundin und ihr erster Hit, mit dem sie in den 80er-Jahren halb Europa zum Tanzen brachten. Erschöpft ruft Catherine Ringer "à la prochaine" ins Publikum, aber eben auch "Le spectacle est terminée". Es war der unerwartet letzte Auftritt der Band. Drei Monate später war ihr Ehemann und musikalischer Partner Fred Chichin tot. Er starb mit 53 an Krebs.
Ich habe sie 1994 auf einem Konzert in Düsseldorf gesehen, mir war das eigentlich alles ein bißchen zu fröhlich und bunt. Selbst die ikonische LP , sonst in jeder zweiten Plattensammlung zu Hause, bekam ich erst später von einer Freundin geschenkt und wurde so wiederum für mich eine Erinnerung nicht nur an die 80er. Freds Bruder Fabrice, ein, so weit ich es sehe, etwas verkrachter Maler, Autor und Musiker, veröffentlichte 2006 eine Biographie der Band - Le choc Mitsouko. Es wurde eine sehr persönlich gefärbte Lebenserzählung, in der sich Bandgeschichte Lebensgeschichte und Fabrices eigene Geschichte mischen. Er schreibt von den Anfängen der Band, dem ersten winzigen, heruntergerockten Apartement von Catherine und Fred in Paris (Klo auf dem Gang), diese Art von romantischen Künstlerbiografien - arm wie Kirchenmäuse, aber voller Leidenschaft und Idealismus für ihre Musik. Ochsentour durch Punkclubs und Cabarets inklusive.
Klangmeister Conny Plank half ihren frühen Songs zur Reife. "Marcia Baïla wurde zum Hit, auch dank MTV und einem für die damaligen Zeit Aufsehen erregenden Video, das geschickt allerlei französische Stereotypen von Mode bis hin zu comichaften Dachlandschaften präsentierte. Ausgestattet von Thierry Mugler und Jean-Paul Gautier sah es auch den ersten Auftritt des berühmten Gaultier-Bustiers mit den Spitztüten-BHs. Hier irrt auch die Vogue, die mal schrieb, wie Madonna zum Bustier fand, das sie auf ihrer Welttournee in die euphorischen 90er-Jahre kegelte. Die Vogue sagt, Gaultier habe es 1987 zum ersten Mal bei einer Schau gezeigt, aber hier ist es, zwei Jahre früher, am Leib von Catherine Ringer (wenn auch ohne die Träger, die Madonna später angenäht hatte) zu sehen.
Die Biografie spart auch nicht die damals genüßlich ausgewalzte Anekdote um Ringers frühere Aktivität als Pornoschauspielerin aus. Nach den Chartserfolgen von Les Rita Mitsouko kramte ihre Produktionsfirma die schwitzigen Schinken wieder aus, pappte einen werbewirksamen Aufkleber drauf und machte damit noch mal zwei, drei schnelle Mark. Ringer hat es später mal in einem längeren Interview dargestellt, wie das merkwürdige Klima der 70er-Jahre (man denke an den schwiemeligen Männer-Intellektualismus der Hippie-Jahre, der "sexuelle Befreiung" gut für sich nutzen wusste) und die perversen Ambitionen ihres damaligen Partners ("Du musst die Ekelgrenzen überwinden") auf rebellisch-jugendliche Neugier stießen. Sie nannte nie Namen, aber die Biografie legt einen (ein leidlich bekannter französischer Schauspieler) nahe. Ach ja, ausgerechnet - muss man ja sagen - Serge Gainsbourg mokierte sich ihr gegenüber in einer Talkshow über die Episode, sie gab eine stilvolle Replik, als sie Jahrzehnte später nonchalant eines seiner Chansons in einer Sendung zu Ehren des verstorbenen Komponisten sang.
Umstritten blieben sie später noch. Die Band, die in jungen Jahren tief in der linken Szene verwurzelt war, sich gegen Antisemitismus und für Immigration engagierte, wurde nach den Anschlägen vom 9. September nachdenklicher. Fred Chichin äußerte sogar Sympathien für Sarkozy, worauf ihm eine Journalistin in einem Artikel "ta gueule" entgegenschleuderte. Da heißt es, sich nicht beirren lassen. die Kunst geht immer weiter.
Im Video zu "Ding Dang Dong" sieht man, daß einiges vom Zauber von Catherine Ringer und Fred Chichin bis zum Ende hielt. Das leicht melancholische, aber ganz muntere Liedchen könnte nach meinem eigenen Lebenserinnerungen Mein Leben als Beifahrer entstanden sein: Catherine klingelt ganz vif den schweigsamen Fred zu einem kleinen Ausflug heraus und cruist mit ihm ein bißchen durch Nacht und Stadt. Es kann manchmal ganz einfach sein.
Catherine Ringer macht nach Freds Tod weiter, bringt eigene Alben heraus und singt die alten Hits, wie hier Marcia Baïla im kleinen Pariser "La Cigale" vor einer Menge an mitgealteter Herren und Damen, die sich beim Lied begeistert an ihre Jugend erinnern. (Man kann hier übrigens sehen, wie wichtig die Bridge für den Erfolg des Liedes ist. Wer nicht ganz textsicher ist, wacht spätestens beim "Whooha-hoo-ha-hoo" auf. Eine Phrase, aus der die Band Blur mal einen Welthit des Junggesellinnenabschieds schmiedete.) Freilich eine Karriere nicht ohne erneute Probleme. Die Beziehung zu Fabrice Chichin ist zerstritten. Seit ein paar Jahren betreibt der Bruder ihres Lebenspartners eine Diffamierungskampagne im Internet gegen sie, verunglimpft ihre Arbeit und auch die gemeinsamen Kinder mit Fred Chichin, postet verstörende Kommentare unter ihre Videos und unterhält eine Hassseite auf Instagram. Es ist eben immer einer dabei, dem die Dinge nicht gefallen.
>>> La Vie du Rail - charmante Reiseimpressionen aus Indien, anläßlich der Dreharbeiten zum Clip "Le Petit Train" (1989), ein Lied, mit dem Catherine Ringer die Erfahrungen ihrer Familie während der Nazizeit verarbeitete.
>>> Offizielle Website
Freitag, 3. September 2021
Estnisches Rasenmäherstaatsensemble (Symbolbild)
Wer nicht Glück hat wie ich, gegenüber einer Kleingartenanlage wohnt und jedes Wochenende konzertante Aufführungen singender und klingender Rasenmäher erleben kann, darf sich jetzt auf eine Neuveröffentlichung auf Staalplaat freuen. Das niederländische Label hat Noisephony of Lawn Mowers, ein anregendes Ambient-Werk des Esten Taavi Suisalu, veröffentlicht. Die spektakuläre Rasenmähersymphonie, die den Hörer sanft entführt in das Idyll der Vorstadt, ist auf Vinyl oder als digitaler Download erhältlich.
Man erfährt so was übrigens auf dem segensreichen Musikblog A Closer Listen, das gerade eine kleine Liste interessanter Neuveröffentlichungen im Herbst veröffentlicht hat. Denn machen wir uns nichts vor, der Sommer geht zuende, wer jetzt keinen Rasen hat, mäht keinen mehr. Wem andererseits zuviel Klang ist all überall, mag sein Ohr einem Werk schenken, das Kim Gordon record of the decade nennt. Ian Svenonius' Cellophane Flag No. 5 ist ein "protest against sound", enthält offenbar nur Stille und ist leider schon ausverkauft. Die Idee jedoch - Achtung! - hallt lange nach.
Dienstag, 15. Juni 2021
Über das Ende von Schnipo Schranke ("Pisse") ist viel gesagt worden, welche Rolle Fritzi Ernst dabei spielt - oder besser: ihr zufiel - ist vielleicht ja auch egal. Sortierter sei es jetzt, liest man, Ente am Ende usw. Keine Ahnung, auch egal. Ihr Solo-Album Keine Termine ist gerade erschienen und charmanter wurde vom großen Nichts seltener dahermelodiert. Kein Pathos, keine Termine, Ted Gaier von den Goldenen Zitronen hat's (mit-)produziert, es ist also alles amtlich Indie-bestempelt.
Heute Abend Konzert, aber da haben viele ja schon einen Termin mit Frankreich. Das wird aber alles noch, die Ambition reicht nur zur Vorrunde.
Montag, 26. April 2021
Die Jugend ist stabil, kein "Untertan", trägt Ringelhemd und sieht aus wie der Sohn, den ich nie hatte. (Hab' auch mal Bass gespielt.) Das kleine, zarte Satirelied über tütenatmende Quertatortschwurbler gibt es übrigens hier auf Bandcamp zum Download. Wird jetzt mein neuer Klingelton, falls Jan mal anruft.
Wem das zu wenig feuilletonisch ist, mag vielleicht lieber den Klassiker von Kreisky: Scheiße Schauspieler. Darin ein kleines, schmunzelndes Wiedersehen mit einem der 53 Komplettdichten. Und achten Sie auf die 37!
Montag, 29. März 2021
Ich stehe nicht im Verdacht, ein besonderer Fan von Madonna zu sein, auch hatte sie vor einiger Zeit mal einen obskuren Beitrag auf ihrem Instagramkanal, der wie ein Containerschiff merkwürdig quer lag. Irgendwas Verschwurbeltes zum Thema Corona, aber gut, die Nerven liegen bloß. In Sachen - teilweise überraschend hingerotzter - Selbstinszenierung macht man ihr allerdings nicht viel vor. Und bei ihren eigentlich immer recht sicheren Näschen für das passende Begleitpersonal. Sei es Fotograf Steven Klein, der seit Jahren ihre visuellen Kundenkontaktprospekte mit oft düsteren Inszenierungen begleitet. Oder die Schar an angesagten und Geheimtipp-Produzenten, die Saft und Knack unter ihre Lieder legen.
Im kleinen Begleitfilm zum Album Madame X gibt es so manches Fragezeichen, ein bißchen Matrona statt Madonna, aber auch ein paar Spottismen auf Instagram und Social Media. Von der Illusion ist da die Rede, vom Irrglauben, soziale Medien erzeugten eine Verbindung zu anderen. In einer Zeit, in der so viele Geschäftsmodelle und Karrieren auf Social-Media-Reichweite basieren, ist das ja für Öffentlichkeitsarbeiter kein locker dahingesagter Spruch. Aber wer kennt sich besser aus mit Show und Schein und Vormache als Madonna?
Von Madge, wie wir Internetfreunde sie liebevoll nennen, soll ich übrigens ausrichten, was für Blogger und Autoren die perfekte Begleitmusik ist, wenn man nachts wie sie über der Schreibmaschine brütet und für das Quarantäne-Tagebuch Gedanken über moderne Kunst sammelt [Instagram]. Lee Morgans Album Sidewinder nämlich, das vermutlich aber sowieso in jedem gutsortierten Musikhaushalt vorrätig ist. Das höre ich auch gerne abends, während ich über der Schreibmaschine zum Beispiel darüber nachdenke, daß die Dadaistin Elsa von Freytag-Loringhoven, die als wahre Erfindern von Duchamps berühmten Urinal gilt, als Elsa Plötz geboren wurde. Ich höre dann Sidewinder wie es von der Dachterrasse hereinweht und fühle mich Madonna ganz nah.
Madonna andererseits heißt von Haus aus Madonna Louise Ciccone, was irgendwie mehr Klang hat als Plötz. Meine Meinung. Jedenfalls, Madonna und ich haben keine Verbindung. Sie folgt mir nicht einmal auf Social Media.
>>> Geräusch des Tages: Lee Morgan, Sidewinder