Donnerstag, 5. Mai 2022


Braves Kind



Nach Home-Office und rumlungern arbeite ich gerade für ein paar Wochen im sog. Szeneviertel. Ordentlich Hackeln und brav Gelerntes aufsagen (bin Laie für alles), Licht vom unter dem Scheffel holen, einen Vortrag über "unzählbare Wörter" halten (Natur, Zucker, Sand) und ansonsten stumm und aufmerksam Aufträge abarbeiten. Hin und Zurück mit dem ÖPNV, leider noch nicht für neun Euro, das schmälert den Ertrag. Es ist so ein bißchen Method Acting als sog. wertvolles Mitglied der Gesellschaft, dabei tatsächlich aber auch sehr interessant mit sog. Learnings. Das Team ist gemischt, mit 37 gehöre ich schon zu den Älteren, und neulich musste ich tatsächlich ein paar lange Sekunden nachdenken, warum da vor mir eine flache Hand in die Höhe gehalten wird, bis ich zum sog. High Five einschlug. "Wie modern!" dachte ich. "One of us! One of us!" sang ein Chor außerhalb der kleinen Szene. Ein Leben wie im Film. 1a.

Nach langen Monaten zumeist in Heimisolation in meinem kleinen Polyesterviertel verbracht ist der Werktag im Szeneviertel natürlich ein Kulturschock. Frauen mit wagenradgroßen Brillen und zeltigen Mänteln, Männer mit Dimensionsbärten und extra knappen Steppjäckchen, slicke Fahrräder oder auch rollender Schrott, Papierfetzen an den Wänden, semantisierende Schrift statt sinnloser Tags aus der Sprühdose, globalisierte Essensgerüche ("alles außer Kohl") und der ein oder andere Straßenmusikant mit dem Programm aus dem großen Beatles-Songbook.

Mittwochs habe ich frei, das ist mein kleines Wochenende und auch sehr gut fürs Wohlbefinden. Dann sitze ich in meinem sog. Atelierloftleuchtturm, male Krikelkrakelbilder oder singe ein Lied aus dem Fenster hinaus. Muß nicht heizen und öle mich nicht ein. So geht's eigentlich.

Das nur als Zwischenbericht.


 


Dienstag, 26. April 2022


Die zerstörerische Kraft des Wassers



Immer, wenn irgendwo ein Wassertropfen fiel, raunte eine frühere Freundin dunkel und bedeutungsschwer von der "zerstörerischen Kraft des Wassers". Manche Dinge wollen eben nur mit Vorsicht und Maß ertragen sein. Menschen mit Wasserschaden werden andererseits die überfließende, dauerverregnete Geschichte des eingebetteten kurzen Films Tabula Rasa wiedererkennen und sich fragen, wie Regisseur Matthew Rankin die bereits 2011 mit bemerkenswertem Realismus, Melancholie und einem Auftritt der bekannten Sängerin Grimes verfilmen konnte.

Rankin stammt aus Winnipeg in Kanada, offenbar einem Nest von interessanten Künstlern, wie wir hier bei Marcel Dzama und Guy Maddin bereits feststellten. Rankin ist so eine Art Schüler Maddins, fand nach einem Geschichtsstudium zum Film und zeigte in bislang einigen Kurz- und einem Langfilm oft eine Maddin nicht unähnliche Handschrift aus Handarbeit, absichtlich zerkratztem und anderweitig zerstörtem 16mm-Filmmaterial, einer zitierten Stummfilm-Ästhetik und dem Hang zu Camp und Pathos. Besonders in dem fantastischen Tesla World Light und dem epischen Kriegsabenteuer Mynarski Death Plummet, eine melodramatische Ode auf den tatsächlichen "Ball Turret Gunner" Andrew Mynarski (1916-1944), der im zweiten Weltkrieg ums Leben kam, ist die Nähe zum großen Vorbild deutlich.

Anregend. Und Zeit, die alte Kamera auf dem Rechner zu simulieren vom Speicher zu holen, kühn gemalte Kindergartenhintergründe aufzustellen und die kommenden lauen und schlaflosen Sommernächte für erschöpfende Animationsarbeiten zu nutzen. Themen gibt es genug.

>>> Interview auf Arte Tracks

Super 8 | von kid37 um 22:10h | 9 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Dienstag, 19. April 2022


Ostereier



Um Ostern herum neigen Menschen ja gerne dazu, ihre dicken Eier zu zeigen. Protzprotz von und zu Snobbiesnob, während ich an einem alten Graubrot mit Dosensardine mümmle. Zu mehr reicht's einfach nicht, die finanziellen, geistigen und insbesondere eierkörblichen Mittel sind einfach beschränkt. Um so außergewöhnlicher mein Twin-Peaks-Ei, das ich dieses Jahr präsentieren darf.

Ich sitze also in der Sonne, höre Klaviermusik (Henry Cowell), betrachte das Twin-Peaks-Ei, das im Inneren ein Geheimnis trägt ("Das Geheimnis von Twin Peaks") und folge der Geschichte eines weiteren Easter-Eggs. Zur Erbauung sah ich über die Feiertage Ein Herz und eine Krone (Roman Holiday), was mich immer sehr rührt, weil der Film beschreibt, wie ich einmal aus meinem goldenen Gefängnis ausbrach und tatsächlich eine Nacht lang in einer großen, aufregenden Stadt etwas "erlebte", wie man so sagt. (Dann aber rief die Bloggerpflicht mich zurück zu Norm und Etikette.) Im Film haben die das etwas verdreht, aber die Erzählung ist noch erkennbar.

Jedenfalls geht es in einem kleinen Detail um dieses Bild, dessen Herkunft mir noch nicht genau klar ist.



Es stammt als Dekoration aus einem Foto von 1999 des Pariser Fotografen Gilles Berquet, ist aber selbst ein Zitat. Ich dachte zunächst, ich hätte es bei Mark Ryden gesehen, kann das aber nicht verifizieren. Irgendsoeine Surreal-Späßle-Quelle. Oder eben Roman Holiday. Dort steht die Hauptfigur (also ich, hier aber eine Frau) vor einem Friseur in Rom (nicht aber zum Beispiel New York, was eine große Stadt in den USA ist) - und im Schaufenster steht dieses Bild.



Offenbar gar kein popsurrealistisches Porträt zusammengewachsener Zwillinge, sondern eine Friseurreklame, ein Vorher-Nachher-Bild womöglich, das möglicherweise auch nur im franko-italienischen Raum bekannt war. Die Bildersuche im Internet brachte bislang nichts, man muß also tiefer einsteigen, um die Herkunft dieses Ostereis im Film zu finden. Bin also vorerst beschäftigt, oder wie die Schauspielerin, die da mein Leben spielt, in einem später entstandenen Film sagt: "Auf Reisen".


 


Freitag, 8. April 2022


Zeugung

Vimeo

Nach Corona liege ich immer noch ein wenig angeschlagen in den Ringseilen, habe kürzlich aber immerhin schon zehn Luftballons (schwarz) ohne Japsen aufblasen können. Ansonsten aber schwach und erschöpft und mit neuen Perspektiven auf dem Sofa. Und was sehe ich? Zeug, Zeug, Zeug. Überall nur Zeug. Was aber ist besser als Zeug? Natürlich noch mehr Zeug!

"My wife bought this for me in Hillsboro, Oregon. That was before we were even dating, when we were just friends, roommates in the East Village. She said it reminded her of me. I should've known right then and there that we'd someday be married."

So schreibt es Mac Premo aus Brooklyn in New York (das ist eine große Stadt in den USA) vom fantastischen The Dumpster Project. Da hat sich einer verkleinert, reduziert, nach Freude und Funken (möglicherweise auch Luftballons) gefragt und mit dem Rest seines Zeugs ein Projekt als eine Art begehbare Collage in einem Container gemacht. Zuvor hat er alles inventarisiert und akribisch fotografiert. Eine geschmackvoll kuratierte Sammlung des Ephemeren und eine künstlerische Transformation. Man muß sich ihn als einen glücklichen und womöglich glücklich verheirateten Menschen vorstellen.


 


Dienstag, 22. März 2022


#Team rote Kachel



Ich dachte schon, ich sei mal wieder der Letzte beim "adopten" von neuen Trends. Aber pünktlich zum sogenannten "Freedom Day" hat es mich dann doch erwischt. Wie ich immer sage, Kinder, bleibt zuhaus, verlasst nicht den Platz hinter dem Ofen, geht nicht über Los, zieht nicht 4000.- DM ein. Aber als Adventure Kid und im Übrigen sportlich gestählte und ansonsten top-fitte Person denkt man natürlich, man könne jede noch so frei schwingende Hochseilbrücke über eine Andenschlucht überqueren.

Der Abstrich wurde von einer freundlichen Person um 14:38 Uhr gemacht. Dabei sagte ich noch, hauen Sie rein, es ist bald eine Minute drüber. Haste Corona im Hals, haste Corona im Hals, wie man im Ruhrgebiet sagt.

Während sich in Hamburg, Stadtteil Draußen, der Frühling einnistet mit Temperaturen um die 17 Grad, bin ich jetzt auf Quarantänestation und habe die Wohnungstüre von innen zugeschweißt. Werde nachher noch mit der Stichsäge eine Katzenklappe einbauen, durch die man mir Essen, die Tageszeitung und Medikamente schieben kann.


 


Montag, 14. März 2022


Fische im Halbdunkel



Demnächst fällt ja wohl die Maskenpflicht, was aus vielerlei Gründen sehr bedauerlich ist. Da wäre einmal der Gesundheitsschutz. Aber auch, daß man nicht so viele grummelige Gesichter sieht. Es mag irgendwie uniformer aussehen in der Außenwelt. Aber auch gemütsneutraler.

Dabei war es auch die Zeit für individualisierte Masken. Wie die von Mask Smith aus Tokio ("Our mask[s] is not just for hiding your face, it reveals WHO YOU REALLY ARE"). Mir haben es da die vom Anglerfisch am meisten angetan. Diese schuppenlosen Tiere zeigen sich gerne nackt (in vertrauter Umgebung), dabei aber stets in stimmungsvollem Licht (Wikipedia). Ich mag Fische, ihre tiefgründelnde Art, und weiß, daß man sie geduldig angeln muß. Mit Anglerfischmaske ginge man durch die Welt wie ein Heimleuchter - unverloren, gewichtig wirkend, sein eigener Leitstrahl und faszinierend anzuschauen. Nie mehr halbblindes Fummeln vor dem Türschloß oder hinten am Kellerregal. Stattdessen ein praktisches Licht, bei dem beide Hände für Wichtigeres frei bleiben. So können auch fische Fahrrad fahren. Ich warte einfach auf die Helmversion.


 


Montag, 7. März 2022


Le Spectacle est terminée



Nach längerer Pause gab es 2007 mit dem Album Variéty wieder ein Lebenszeichen von Les Rita Mitsouko. Es folgte eine Tournee. Auf Youtube gibt es einen Mitschnitt davon. Am Ende spielen sie naürlich "Marcia Baïla", ihre Hommage an die früh verstorbene Freundin und ihr erster Hit, mit dem sie in den 80er-Jahren halb Europa zum Tanzen brachten. Erschöpft ruft Catherine Ringer "à la prochaine" ins Publikum, aber eben auch "Le spectacle est terminée". Es war der unerwartet letzte Auftritt der Band. Drei Monate später war ihr Ehemann und musikalischer Partner Fred Chichin tot. Er starb mit 53 an Krebs.

Ich habe sie 1994 auf einem Konzert in Düsseldorf gesehen, mir war das eigentlich alles ein bißchen zu fröhlich und bunt. Selbst die ikonische LP , sonst in jeder zweiten Plattensammlung zu Hause, bekam ich erst später von einer Freundin geschenkt und wurde so wiederum für mich eine Erinnerung nicht nur an die 80er. Freds Bruder Fabrice, ein, so weit ich es sehe, etwas verkrachter Maler, Autor und Musiker, veröffentlichte 2006 eine Biographie der Band - Le choc Mitsouko. Es wurde eine sehr persönlich gefärbte Lebenserzählung, in der sich Bandgeschichte Lebensgeschichte und Fabrices eigene Geschichte mischen. Er schreibt von den Anfängen der Band, dem ersten winzigen, heruntergerockten Apartement von Catherine und Fred in Paris (Klo auf dem Gang), diese Art von romantischen Künstlerbiografien - arm wie Kirchenmäuse, aber voller Leidenschaft und Idealismus für ihre Musik. Ochsentour durch Punkclubs und Cabarets inklusive.

Klangmeister Conny Plank half ihren frühen Songs zur Reife. "Marcia Baïla wurde zum Hit, auch dank MTV und einem für die damaligen Zeit Aufsehen erregenden Video, das geschickt allerlei französische Stereotypen von Mode bis hin zu comichaften Dachlandschaften präsentierte. Ausgestattet von Thierry Mugler und Jean-Paul Gautier sah es auch den ersten Auftritt des berühmten Gaultier-Bustiers mit den Spitztüten-BHs. Hier irrt auch die Vogue, die mal schrieb, wie Madonna zum Bustier fand, das sie auf ihrer Welttournee in die euphorischen 90er-Jahre kegelte. Die Vogue sagt, Gaultier habe es 1987 zum ersten Mal bei einer Schau gezeigt, aber hier ist es, zwei Jahre früher, am Leib von Catherine Ringer (wenn auch ohne die Träger, die Madonna später angenäht hatte) zu sehen.

Die Biografie spart auch nicht die damals genüßlich ausgewalzte Anekdote um Ringers frühere Aktivität als Pornoschauspielerin aus. Nach den Chartserfolgen von Les Rita Mitsouko kramte ihre Produktionsfirma die schwitzigen Schinken wieder aus, pappte einen werbewirksamen Aufkleber drauf und machte damit noch mal zwei, drei schnelle Mark. Ringer hat es später mal in einem längeren Interview dargestellt, wie das merkwürdige Klima der 70er-Jahre (man denke an den schwiemeligen Männer-Intellektualismus der Hippie-Jahre, der "sexuelle Befreiung" gut für sich nutzen wusste) und die perversen Ambitionen ihres damaligen Partners ("Du musst die Ekelgrenzen überwinden") auf rebellisch-jugendliche Neugier stießen. Sie nannte nie Namen, aber die Biografie legt einen (ein leidlich bekannter französischer Schauspieler) nahe. Ach ja, ausgerechnet - muss man ja sagen - Serge Gainsbourg mokierte sich ihr gegenüber in einer Talkshow über die Episode, sie gab eine stilvolle Replik, als sie Jahrzehnte später nonchalant eines seiner Chansons in einer Sendung zu Ehren des verstorbenen Komponisten sang.

Umstritten blieben sie später noch. Die Band, die in jungen Jahren tief in der linken Szene verwurzelt war, sich gegen Antisemitismus und für Immigration engagierte, wurde nach den Anschlägen vom 9. September nachdenklicher. Fred Chichin äußerte sogar Sympathien für Sarkozy, worauf ihm eine Journalistin in einem Artikel "ta gueule" entgegenschleuderte. Da heißt es, sich nicht beirren lassen. die Kunst geht immer weiter.



Im Video zu "Ding Dang Dong" sieht man, daß einiges vom Zauber von Catherine Ringer und Fred Chichin bis zum Ende hielt. Das leicht melancholische, aber ganz muntere Liedchen könnte nach meinem eigenen Lebenserinnerungen Mein Leben als Beifahrer entstanden sein: Catherine klingelt ganz vif den schweigsamen Fred zu einem kleinen Ausflug heraus und cruist mit ihm ein bißchen durch Nacht und Stadt. Es kann manchmal ganz einfach sein.

Catherine Ringer macht nach Freds Tod weiter, bringt eigene Alben heraus und singt die alten Hits, wie hier Marcia Baïla im kleinen Pariser "La Cigale" vor einer Menge an mitgealteter Herren und Damen, die sich beim Lied begeistert an ihre Jugend erinnern. (Man kann hier übrigens sehen, wie wichtig die Bridge für den Erfolg des Liedes ist. Wer nicht ganz textsicher ist, wacht spätestens beim "Whooha-hoo-ha-hoo" auf. Eine Phrase, aus der die Band Blur mal einen Welthit des Junggesellinnenabschieds schmiedete.) Freilich eine Karriere nicht ohne erneute Probleme. Die Beziehung zu Fabrice Chichin ist zerstritten. Seit ein paar Jahren betreibt der Bruder ihres Lebenspartners eine Diffamierungskampagne im Internet gegen sie, verunglimpft ihre Arbeit und auch die gemeinsamen Kinder mit Fred Chichin, postet verstörende Kommentare unter ihre Videos und unterhält eine Hassseite auf Instagram. Es ist eben immer einer dabei, dem die Dinge nicht gefallen.

>>> La Vie du Rail - charmante Reiseimpressionen aus Indien, anläßlich der Dreharbeiten zum Clip "Le Petit Train" (1989), ein Lied, mit dem Catherine Ringer die Erfahrungen ihrer Familie während der Nazizeit verarbeitete.

>>> Offizielle Website

Radau | von kid37 um 18:17h | 8 mal Zuspruch | Kondolieren | Link