Sonntag, 27. Februar 2022


What is it good for? Absolutely nothing



Aufgestanden ist er, welcher lange schlief. Dann wacht man selber eines Morgens auf, und es ist Krieg in Europa. Dann ist nicht etwa endlich die Pandemie vorbei, sondern plötzlich noch einmal alles anders. Dann hat einer den Herd angelassen, den Kopf reingesteckt, die Karte falsch herum gehalten.

Über die Stunden und Tage teilen Bekannte aus der Ukraine, aus Kiev und Lviv, Nachrichten. Wo man ungefähr ist, in welcher Zone, Gefahrenzone, Schutzzone, wo der Luftschutzbunker ist. Familie, Freunde, was manche an der Grenze erleben. Derweil im Lande Ratlos zunächst noch Zauderpolitik, die Automaten nicht geölt, der Fingerzeigreflex nicht völlig kontrolliert, die Hirne derjenigen, die jetzt noch Partei- und Klientelpolitik betreiben, vielleicht zu klein auch einfach.

Ungeheuerliche Geschichten, schmerzhafte Geschichten, schockierende Geschichten. Man wird einander viel verzeihen müssen, hieß es. Den Aggressoren niemals, den anderen jetzt schon. Alle umarmen, aber den Mittelfinger hübsch gefeilt halten.

>>> Geräusch des Tages: Edwin Starr, War


 


Mittwoch, 23. Februar 2022


U-37


"U-Boot taucht auf!" 2022. Wasserfarben, Papier, Bleistift. 1000,- Mark.

Ich erzählte hier bereits, daß ich früher mal eine Karriere als erfolgreicher U-Boot-Maler anstrebte. Eine tolle Zeit, viel Wind, viel Wetter, Gischt und Seemannschöre. Nun überlege ich, mit zunehmend wohlwollendem Blick auf die Vergangenheit, ob ich nicht 2022 wieder vermehrt auf Tauchfahrt gehen sollte. Um dann mit kühnem Bugschwung und seevogelumschwirrt aus den Wogen zu steigen.

Neulich habe ich geträumt, eine Bekannte wäre zu Kaffee und Kuchen zum Besuch gekommen und hätte mich freundlich gefragt, ob ich vielleicht ihre neuen Tattoos sehen wolle. Und ich sagte, gern, und überlegte, wo ich meine Lesebrille abgelegt hatte oder ob ich eine Lupe brauchen würde für all die Texte, die sie vielleicht aufgetragen hätte, oder ein Periskop - jedenfalls bin ich dann leider aufgewacht aus diesem tätowierten Traum bzw. in eine andere Schlaf- oder Wachphase gerutscht, was schade ist, auch um des Berichts hier wegen.

Das ist so, wie wenn man frische Narben herzeigt, OP-Wunden, Herzwunden, kleine Imperfektionen, das Wunder des Körpers, des Überlebens zwischen Intrusion und Heilung. So, wie wenn man sich als Arzt oder regelmäßiger Zuschauer von Medizinsendungen im Fernsehen zu erkennen gibt und auf Partys um Gutachten und Meinung gefragt wird, wie man dieses oder jenes in seiner Ernsthaftigkeit und Bedeutung einschätzen würde.

Die Exegese des Körpers, der sich morgens immer beschwerlicher aus den aufgewühlten Wogen der Bettlaken erhebt, wie so ein submarines, tätowiertes und von den Haken der Jäger und den Zähnen der Raubfische zerschrammtes Tier oder verloren geglaubtes U-Boot. Die Gischt nurmehr Sabber, da bläst er!, singt der Seemannschor, weil man nachts schnarchend und mit offenem Mund... aber auch dagegen, das lehren Medizinsendungen im Fernsehen, gibt es Hilfe. Zunächst aber muß alles gelesen werden: Narben, Geräusche und Funksprüche aller Art.


 


Donnerstag, 17. Februar 2022


Herbst im Frühling



In meinem launigen Erinnerungsbuch Die Bohème lebt unterm Dach - und macht Krach beschreibe ich, wie ich morgens nach dem Aufwachen oft noch fünf Minuten im Bett liegenbleibe, um den richtigen Spirit zum Aufstehen zu finden. Dabei atme ich hin und wieder geistesabwesend Ektoplasma aus, einfach, weil ich es kann, so wie andere gelangweilt Kaugummi kauen oder eine rauchen, materialisiere also irgendwelche Geister, meist die der Vergangenheit, tobende Chefs etwa, die mit dem Zeigefinger auf ihre Armbanduhren klopfen, oder klagende Frauen, die mir aus irgendwelchen kargen Nebellandschaften heraus vergessene Einkaufslisten hinterherrufen.

So mancher, der wie ich im Herbst seines Frühlings steht, interessiert sich vielleicht für mein neues Buch Der Tod traf mich lebend an. Dies wird in einer zugigen Kate im schottischen Hochmoor entstehen, wo ich - nur von einem Raben begleitet, der mir zum Aufstehen Schicksalslieder singt - ein paar Herbstwochen lang Lebensmaximen und -weisheiten zusammentragen werde. Zum Beispiel im Kapitel "Ein Tier, das faucht", Erkenntnisse aus dem Leben mit einer Katze. Der Volksmund sagt, die Katze habe neun Worte, wenn ihr also plötzlich eines fehlt, hat sie lange Zeit ein weiteres bereit. Das ist praktisch in öffentlichen Diskussionen, in denen es einem häufiger mal die Worte verschlägt. Die Katze bleibt hier unbeeindruckt, leckt ihr Fell und greift sich das nächste.

Oder auch das Kapitel "Klaviererzählungen" mit einzelnen Klängen zum Nachhallen und Nachhören, wie in einem Traum. Einer dieser Selbsterzählungen beginnt so: "Als ich eines morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand ich mich in PJ Harvey verwandelt und führte fortan ein recht interessantes Leben mit zwei Klavieren und mehreren Gitarren, die mir selbst gehörten." Seither übe ich über Rollen von Notenpapier gebeugt magisches Denken, unterteile das Leben in schwarze Tasten und weiße Tasten und probiere dazu einen Moll-Akkord. Momm.

Im sogenannten "wahren Leben" stattdessen aber Sturm, Geklapper unterm Dach, losgezerrte Segelboote, Notizzettel und Sätze voller Doppel-Konsonanten (wer hier mal nachzählen möchte). Will man da raus und aus Büchern deklamieren? Korken in den Wind spucken, um nicht deutlich, aber eben lauter zu sprechen? Windsbräute am Kragen packen oder vom Wind verwehte Möwen abwehren? Alter Mann, müde, murmle ich. Stopfe Kleider, putze Schuhe, mach den nächsten Plan.


 


Mittwoch, 9. Februar 2022


Die Biene als Welt, Wille & Vorstellung

In meinem Theaterstück (Debüt) "5 alte Herren zeigen ihren Sack" (Urauff. Berlin, 2023) kommen fünf als Kolumnisten verkleidete ältere Herren (sog. "Schauspieler") auf die Bühne und ziehen einen großen Sack voller sog. "Argumente" und Tiraden hinter sich her.

< Lacher >


© Aganetha Dyck

Der Sack wird vorne am Bühnenrand unter Geächze und Gestöhne geöffnet, und dann werden aus verschiedenen Perspektiven (fünf) in Stentor-Bühnenstimme Sack, Situation und Gesichter erörtert und starre Ansichten wachsweich verteidigt. Im Hintergrund steht eine Dame im ausladenden Kleid und wird während der Dauer der Aufführung (fünf Stunden) von naturgemäß fleißigen Bienen mit einer Schicht aus Wachs und Wabe überzogen. So wie hier im fantastischen Werk von Aganetha Dyck.

Die kanadische Künstlerin (*1937) stammt aus Winnipeg (offenbar einem Bienenkorb für gute Kunst, auch Marcel Dzama oder etwa Guy Maddin stammen von dort) und arbeitet für ihre Skulpturen seit Jahren mit Entomologen und Imkern - und natürlich Bienen - zusammen.

Dyck platziert dazu zum Teil präparierte Objekte in Bienenstöcke und lässt den bloß autodidaktisch geschulten Immen freie kreative Hand. Das Ergebnis ist ein Transformationsprozess der Natur, den wir als künstlerisch erkennen - jedenfalls solange Dyck als Regisseurin die Prozesse steuert und dabei Start, Umfang und Ende der Arbeiten bestimmt. Ihre Themen bilden vielfältige Motive aus der Welt von Heim und Hof (Kleidung, Puppen, Hochzeiten) ab , aber so wie Guy Maddin in seinem Film Cowards Bend the Knee (Kan. 2003) dem kanadischen Nationalsport zunickte, hat auch Dyck eine Serie über Eishockey-Totems im Gepäck - Helme, Schläger, Schuhe, alles, was so in einen Sportsack passt.

Ihre Bienenwabenschuhe hätte man gut auch im abgelaufenen Beuys-Jahr zeigen können, denn in Deutschland wurden ihre Arbeiten bislang nie gezeigt. Aber andererseits haben wir das Jahr zumeist eh abgeschottet im eigenen Stock wie Bienen im Winterschlaf verbracht.



>>> Website von Aganetha Dyck


 


Samstag, 29. Januar 2022


Nachtzug nach Nirgendwo



Neulich suchte ich auf eBay nach irgendwie abgegrabbeltem Baum- und Buschwerk in H0 für ein keines Diorama, das ich basteln wollte. Aber die deutsche Modellbauszene ist mein Endgegner. Es sollte eine skulpturale Inszenierung werden zum Thema "Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?" Ich dachte, na, ich bin doch wie eine Lokomotive - ständig unter Dampf und am Zug und unerbittlich und stetig voran. Ehrlicherweise - muß man nach 5322 Tagen in Geiselhaft von Covid19 sagen - sind es aber wohl mehr die Aspekte schnaufend und ächzend, die mittlerweile an mir auffallen.

Nun sind Bäume aber eh überbewertet, wie man an den umfangreichen Fällaktionen sieht, die derzeit all überall in Hamburg stattfinden. Neulich war ich ein paar Stunden aus dem Haus, um meine Corona-Warn-App auf Trab zu halten, und als ich wiederkam, konnte ich am Horizont plötzlich Häuser sehen, von denen ich gar nicht gewußt hatte, daß sie dort stehen. Das Grün dazwischen, perdü, wech, häxel, häxel, es kam der Tag, da mußte die Säge sägen. Als Realist der Imagination werde ich also nur noch baumlose Dioramen bauen. Vielleicht wird dies auch ein neuer, werbewirksamer Slogan so wie "ohne Fleisch", "ohne Nitrate" oder "ohne Palmöl". Willkommen in unserem Stadtteil - jetzt auch "ohne Bäume"!

Meine Träume und Zukunftsvorstellungen als junger Mann waren übersichtlich. Im Nachtzug nach Paris, dort dann mit - nur als Beispiel jetzt - François Hardy durch die Cafés der Stadt ziehen, ganz lässig oder wie man dort sagt "leger". Und dann noch lässiger an einem Pastisgetränk nippen, hören, wie sie ihrer Freundin zuflüstert "Je veux qu'il revienne", und gut ist. Aber als ich endlich alt genug war, das Land im Nachtzug zu verlassen, waren die von der Bahn schnöde abgeschafft und so die halbe Romantique schon vorbei. Die Hardy hat dann extra Deutsch gelernt und mir 2:41 Min. lang was auf meinen Anrufbeantworter gesummt. Na ja. Comme ci, comme ça, wie man so sagt. Comment te dire adieu.

Traumdiebstahl, im übrigen ein schweres Delikt. Heute also entträumt und überfahren und ächzend und schnaufend statt im beschwingten YéYé-Schritt, wie gefesselt auf den Gleisen liegend und an bald auch noch verbotener Kohle lutschend statt Pastis. Fünf Jahre! Fünf Jahre! Fünf Jahre! hallt es durch lange, leere Flure. Aber auch auf den letzten Meilen heißt es: nach vorne sehen! Die Nachtzüge kehren zögerlich zurück. Man kann nach Wien, nach Zürich, Stockholm und vielleicht auch bald nach Paris. Im Grunde auch egal, einfach voran, zur Not ins Nirgendwo.


 


Montag, 24. Januar 2022


Energie!



Nach drei Jahren, 372 Monaten und fünftausendsiebenhundertdreiundreißig Wochen Pandemie ist vielen ein wenig die Energie verloren gegangen. Dieser ewige, perspektivlose Nebel und eine ungewisse Zukunft greifen eben tief ins Nervenkostüm. zudem sind Ladesäulen zugeparkt, Energiepreise generell hoch, was also fehlt, ist eine Erfindung, die aus ungewöhnlichen Quellen Elektrizität zapfen kann. Zum Beispiel aus erwähntem Nervenkostüm oder besser noch: aus Gedankenkraft.

Aus haushaltsüblichen Utensilien habe ich in meinem geheimen Geheimlabor eine Maschine konstruiert, die mich als zweiten Edinson ins Licht der großen Bühnen stellen wird. Eine Hirnstromelektrode, die intensive Gedanken anzapft und den stream of consciousness in Energie umwandelt. "Mein Gott, es lebt!" wird man rufen, wenn so einem bleichhäutigen Quarantänezombie (oben Hemd und Krawatte, unten Pyjamahose) plötzlich ein Licht aufgeht.

Leider hat diese Technik noch ihre Tücken. Zum einen braucht man eine gewisse Gedankenstärke, um überhaupt ein paar Milliwatt zu erzeugen. Für Schwachstromdenker nicht geeignet. Dann ist das Prinzip höchstwahrscheinlich gar nicht einmal nicht regenerativ, sondern degenerativ. Da sind wir wieder beim Nervenkostüm. Hierzu braucht es noch erleuchtende Studien. Möglicherweise sitzt man Ende also im Hellen, aber verblödet unter der Lampe, kann das Buch zwar lesen, aber nicht mehr verarbeiten. Aber das sind die Einwände braver Bürger. In der Fringe-Forschung am Rande des Möglichen muß man mutige Schritte gehen.


 


Dienstag, 18. Januar 2022


Halberstadt



Im letzten Herbst war ich kurz Gast im Museum für Hamburgische Geschichte, ein charmantes historisches Gebäude am Rande einer großen Parkanlage mitten in der Stadt mit wirklich sehr freundlichen Menschen an der Kasse und bei der Aufsicht. (Ein Aspekt, der in Ausstellungsberichten ja meist sträflich unterschlagen wird.)

Zu sehen war unter anderem eine Ausstellung über das Leben des jüdischen Fotografen Max Halberstadt (1882-1940) in Hamburg. Halberstadt gründete 1907 ein Fotostudio in der Hansestadt, mußte aber 1936 dem Druck der Nazis nachgeben und emigrierte nach Südafrika. Als Fotograf schuf er viele Porträts im Auftrag, heute interessante Dokumente des jüdischen Lebens im Hamburg des frühen 20. Jahrhunderts. Berühmt wurde er auch: Beinahe jeder kennt seine Porträts von Sigmund Freud, dessen Schwiegersohn er war. Die Bilder vom ergrauten Psychoanalytiker und seiner Zigarre sind längst ikonisch geworden.

Der Schwerpunkt der Ausstellung lag allerdings weniger auf den fotografischen Arbeiten denn auf die Rekonstruktion einer Biografie: auf das Leben eines "Lichtbildners", seine Verbindungen zur Hamburger (jüdischen) Gesellschaft und Tempelgemeinde, die Auftrags- und Gebrauchsporträts von Familien, höheren Töchtern, der Nachbarschaft und Handwerkern und seine Korrespondenz mit den Behörden, den Anträgen und Genehmigungen rund um seine beschwerliche Ausreise. Am Ende trägt man aber doch ein Bild nach Hause - vom Leben in der Hansestadt und von dem, was heute fehlt.

Alltagsgeschichten wie diese konstruieren sich oft über Zufallsfunde. So hatte ich vor einiger Zeit eine kleine Unterhaltung auf Instagram mit dem US-Künstler Dave Benz, der unter dem Namen Benz and Chang auftritt. Für seine wunderbar nostalgischen Aquarellbilder bezieht er sich immer wieder auf gefundene Fotos und sogenannten Cartes de Visite vom Anfang des letzten Jahrhunderts. Darunter war eine Werbeaufnahme des jüdischen Kaufhaus Heilbuth in der Steinstraße in der Nähe des Chile-Hauses. Die Brüder Heilbuth hatten 1903 Hamburgs erstes Kaufhaus eröffnet, an der Stelle, wo heute die Mundsburg Towers stehen und ein großes Einkaufszentrum existiert. Sie betrieben drei weitere Filialen in der Stadt, eine davon war die erwähnte in der Steinstraße. Im Fotostudio der Firma entstanden allerlei Ansichts- und Werbepostkarten, von denen eine den Weg über den Atlantik nach Portland gefunden hatte.

So wandern Geschichten durch die Zeiten, tauchen an unterschiedlichen Orten in neuen Zusammenhängen auf, transformiert, verwandelt oder auch bloß nur verdreht.



>>> Website von Benz and Chang

flanieren | von kid37 um 17:07h | noch kein Zuspruch | Kondolieren | Link