Samstag, 1. Mai 2021


Herausrollen zum 1. Mai



Bei meinen Nelken zum 1. Mai herrscht offenbar Ausgangssperre, vielleicht habe ich da im Vorfeld nicht genügend agitiert. Neulich habe ich Hyazinthen geschenkt bekommen, die halten sich etwas angeschlagen, aber wacker. Hoffentlich nehmen sich die Nelken daran ein Beispiel. Es heißt jetzt: Durchalten!

In diesem Jahr wurde Walpurgisnacht wohl digital gefeiert, das hätten sich die Hexen früher auch nicht vorstellen können. Eingerieben mit Quarantänesalbe und Abstandspilzen im Tee fliegt man dann mit dem Microsoft Flugsimulator auf dem Digibesen um den Brocken.

Ich bin stattdessen, den Zauberhut keck über dem Kopf, auf ZDFneo bei Derby Girl hängengeblieben und habe dann gleich alle zehn (kurzen) Folgen weggeguckt. [Trailer, alle zehn Folgen in der Mediathek] Es geht um eine junge Eiskunstlaufvizeweltmeisterin mit Aggressionsproblem in der französischen Provinz und eine Clique Roller Girls, deren talentloses Team nicht gegen den örtlichen Dauermeister anstinken kann, aber vom großen Derby in Paris träumt. Die Handlung ist wohlwollend vorhersehbar, aber ausgestopft mit vielen skurrilen Details, schwungvoller Regie, vielen Filmanspielungen, angenehmer Unbefangenheit und comichafter Überdrehtheit, liebevollen Charakteren und offenbar ein paar Cameos, die ich aber nicht auflösen konnte. Gern hätte ich ja meine eigenen Schuhe geschnallt. Aber nun ja, man muß wissen, wann die eigenen Grenzen erreicht ist. Selbstschutz ist das Motto dieser Tage.

Super 8 | von kid37 um 18:37h | 4 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Mittwoch, 28. April 2021


Merz/Bow #66

Ich bitte um Rücklicht. Supermond im Skorpion, da werde ich manchmal etwas mellow. Das ist bei anderen vielleicht anders, aber ich habe ja manchmal sogenannte Emotionen, und wenn der Mond so voll ins Fenster knallt, dann wird sumpfige Suppe aus dem Bilgeraum des Emo-Kellers schmatzend hochgepumpt und wie aus einer dreckigen Emailleschüssel über mir ausgeschüttet. Ich stehe dann, nur in Gummistiefeln und einem alten Regenmntel bekleidet, auf einem feuchten, grauen Acker, und bin mellow. Mellow Moon müßte das also heißen, nicht Pink oder Punk. Oder Blut.

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Dabei gäbe es ja Grund zur Zufriedenheit, denn mein Gedöns mit dem Rücklicht ist geklärt. Es leuchtet wieder. Lange Geschichte mit der Verkabelung, die immer obskurer und nerviger wurde, je länger ich mich mit der Materie beschäftigte. Nabendynamo, Wechselstrom, Pluskabel an Masse, aber offenbar nicht egal, Hollandrad eben, am Ende war das alte wohl schlicht gegrillt worden. Nun nach langem Geseufze eine neue Platine rein und, siehe da, es läuft, obwohl das gar nicht möglich sein durfte, weil ich das dritte Kabel nicht angeschlossen hatte. Aber gut, wie oft höre ich, daß man auch mal Fakten akzeptieren solle, wenn sie auf dem Tisch liegen. Oder wie in diesem Fall wie ein roter Blutmond vom hinteren Schutzblech strahlen.

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Mittlerweile sind bald alle geimpft. Ich werde wohl erst im nächsten Jahr geimpft, weil ich mit 37, topfit und schuppenfreiem Haar, in keine priorisierte Gruppe passe. Zum Glück natürlich, zum Glück. Ich habe offenbar aber auch weiche Ellenbogen, wenn ich im Gegenzug das trickreiche Gedrängel bei dem ein oder anderen miterlebe. Jedenfalls freue ich mich ganz ohne #Impfneid für jeden, der und die dran ist. Aber der #Impfjubel könnte langsam auch etwas leiser abgefeiert werden. Ist ja wie als kinderlos Gebliebener auf der Frischlingsstation. Irgendwann kommt der Applaus zwar wie immer fair, aber nicht mehr ganz so euphorisch daher.

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Heute ist Anita Lane gestorben, das ist auch nicht schön. Noch vor Kurzem wunderte ich mich, daß sie als einzige Ex-Freundin und Ex-Kollegin nicht in AUTOLUMINESCENT war, der Doku über Rowland S. Howard. Ich bin mir sicher, daß in einer Doku über mich alle meine Exfreundinnen und Exkolleginnen ein paar Worte über mich in die Kamera sagen würden. Selbstverständlich nur gute. Nun weiß ich noch nichts über die nähere Umstände des Todes der Musikerin aus dem australisch-berlinischen Umfeld von The Birthday Party und Einstürzende Neubauten. Aber möglicherweise liegen hier die Gründe. Man soll nie vorschnell urteilen.

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Das sind jetzt so die Einschläge, die einen wieder mellow werden lassen. Anita Lane hat geraucht, aber auch viele coole Sachen mit coolen Kollegen gemacht, unter anderem dieses düstere Sister-Sledge-Cover aus dem Bilgeraum des australisch-berlinischen Undergrounds. Das Mute-Label wollte dieses Jahr ihre alten Alben neu herausgeben, das hat nun ein bizarres, bißchen tragisches Timing.

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Zur Ablenkung bin ich heute eine kleine Runde mit dem Rad durch die Kleingartenanlage gefahren. Dort fasziniert registriert, daß es tatsächlich eine Option ist, seine Parzelle von Mietgärtnern bewirtschaften zu lassen. An einem insgesamt recht posh wirkenden Grundstück war das Schild eines entsprechenden Dienstleisters zu sehen. Spontan wirkt das erstmal wie ein Widerspruch zur eigentlichen Idee eines solchen Gartens, aber nun gut. Wir leben in widersprüchlichen Zeiten. Eigentlich auch praktisch. Dann geht man in seinen Garten, und alles ist topfit und akkurat wie ich.

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Das Rücklicht ist schon wieder kaputt.

MerzBow | von kid37 um 18:22h | 21 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Montag, 26. April 2021


Scheiße Schauspieler



Die Jugend ist stabil, kein "Untertan", trägt Ringelhemd und sieht aus wie der Sohn, den ich nie hatte. (Hab' auch mal Bass gespielt.) Das kleine, zarte Satirelied über tütenatmende Quertatortschwurbler gibt es übrigens hier auf Bandcamp zum Download. Wird jetzt mein neuer Klingelton, falls Jan mal anruft.

Wem das zu wenig feuilletonisch ist, mag vielleicht lieber den Klassiker von Kreisky: Scheiße Schauspieler. Darin ein kleines, schmunzelndes Wiedersehen mit einem der 53 Komplettdichten. Und achten Sie auf die 37!

Radau | von kid37 um 22:57h | 15 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Sonntag, 25. April 2021


Geist


Geist I. Acryl auf Papier. 2021. 1000,- Mark.

Machmal sitze ich abends am offenen Fenster, atme wie ein "Tatort"-Kommissar vorsichtig in eine Plastiktüte, hänge untertänig meinen Gedanken nach und komme zu dem Schluß, daß die wohl zu komplex für viele sind. Das große Unverstandensein - seit Kindertagen. (Wobei ich manchmal höre, man solle sich da nicht so haben, andere Kinder seien auch schon mal unverstanden gewesen sein und haben das schlußendlich als Erwachsene erfahren. Und hat es ihnen geschadet? Eben!)


Geist II. Acryl auf Papier. 2021. 1000,- Mark.

Zum Glück habe ich Geister, die ich mir selbst auf Papier male, mit denen ich reden kann. Anrufen. Hallo, hallo, wie findse? Eine große Séance zur abendlichen Beruhigung. Antworten, manche wirklich komplex, andere satirisch, dann übers Ouija-Board. Ich atme Ektoplasma in die Tüte, ganz wie ein großer Schauspieler. Geisterhaft tanzen schemenhafte Erinnerungen an der Decke, Nostalgie fürs Schmerzgedächtnis. Alles Inzidenzen zur Geisterstunde. "Margret, Margret!" rufe ich. "Kannst du mich hören?" Ein Wispern ertönt, eine merkwürdige Stimme wie aus einer Erzählung von E. A. Poe oder R. L. Stevenson. "Margret, bist du es? Man wird doch mal fragen dürfen!" rufe ich erneut. "Wann wird der Scheiß zu Ende sein?"

Doch alles bleibt still, die Schemen verschwinden, die Bilder verblassen und man sitzt wieder da, ohne Antwort. Wie lange noch?

>>> Geräusch des Tages: Patti Smith, Ghost Dance


 


Freitag, 23. April 2021


Traumtagebuch



Als Somnambulist fühle ich mich von der nächtlichen Ausgangssperre besonders hart betroffen. Wie oft stehe ich nächstens auf dem Dachfirst oder unten im Park, träume weiter auf einer eng begrenzten Stelle fahlen Mondlichts oder bin unversehens erwacht, meilenweit von daheim entfernt, in einer fremden Straße, einer fremden Stadt und fühle mich, als sei ich durch eine naturhistorische Sammlung spaziert, durch eine tiefe See. Bin gewandelt zwischen seltsamen Wesen wie trunken, und dann flasht einem vielleicht eine Polizeimaglite ins Gesicht, wohin, woher, wie ist ihr Name?

Man taumelt so durch den Tag, die Welt immer fremder, verwaschene Erinnerungen an dieses oder jenes oder auch den Alltag, oben und unten, hinten und vorn neu priorisiert, ein morgendliches Hallo zu den Zimmerpflanzen, reime Impfe auf Schimpfe, putze hier ein wenig Staub, schlage dort ein neues Buch auf. Lasse mich hin- und hertreiben wie so eine Tiefseequalle mit langen Tentakeln, dümple von Wellen, Strömungen, Ankündigungen bewegt hierhin und dorthin. Alle Klänge merkwürdig gedämpft, von Rauschen getränkt, hallo, hallo, wohin, woher, wie ist ihr Name.

Bin ein wenig matt.


 


Montag, 19. April 2021


Endlich ans Steuer!


Der Belotti (Foto von Belotti Motors)

Mein Leben habe ich bislang als geübter Beifahrer geführt. Zwar besitze ich einen Führerschein, hatte aber nie den Drang, ein Auto zu besitzen. Ich kann halt Karten lesen und Getränke öffnen, dazu adhoc Routen entwerfen - die Welt aus der Sicht des Nebensitzes ist erlebnisreich genug. Da trifft man auf Fahrer:innen, die ungern geradeausfahren. Sagt man, fahr einfach geradeaus, wird urplötzlich - gerne flott - nach links ab oder rechts abgebogen. Fragt man freundlich interessiert W1ESO?!?, dann ist da ein Schild! gewesen oder ein dachte ich, die selbstredend gut begründete (Schleichweg! das Dorf mit dem lustigen Kirchturm! der Plan war doch!) Geradeausfahrt jedoch beendet. So aber lernt man Flexibilität.

Oder Fahrer:innen, die mit dem Blut Emerson Fittipaldis betankt sind, mit Gaffa-Tape zusammengeflickte Autos fahren, diese aber sehr schnell, vielleicht noch fluchend und schimpfend über andere Mobilisten, so daß man mit den Händen vor den Augen im Sitz kauert, schwitzt, Ave Marias und "Der Herr sei mein Hirte" vorwärts und rückwärts deklamiert sowie edukative Mahnungen und am Ende seinem Herrgott auf Knien dankt. Schicksalsergebenheit verzeiht dabei vieles, man kommt schließlich rum, und das auch noch rasant. So aber lernt man seinen Hut festhalten.

Als Beifahrer jedenfalls fühlte ich mich im Leben oft wie Cary Grant, was auch der Titel meines Debütromans sein könnte. So aber lernt man Gelassenheit.

Jetzt bin ich erstmals interessiert, selbst das Steuer zu ergreifen und ein Auto zu besitzen. Die Schweizer Firma Belotti Motos hat nämlich einen Prototypen vorgestellt, der in Einfachheit und Form faszinierend ist. Retro-nostalgisch, von der Gestaltung zwischen Seifenkiste und Fahrrad, mit ausreichend Platz für Beifahrer und Picknickgepäck. Die (elektrisch erreichte) Höchstgeschwindigkeit liegt bei sicherheitssensiblen 20 km/h, als Hupe erwarte ich eine Blechtröte wie bei der Walton's Family, und die Scheinwerfer werden hoffentlich durch Retromodelle wie am Hollandrad ausgetauscht.

Wenn man überlegt, daß 120 Prozent aller Autofahrten reine kurze Stadtfahrten sind, muß man sich ja eh fragen, wieso nicht alle solche platzsparenden Modelle bewegen statt tonnenschwerer Stadtpanzer. Gemüsekiste, Karton mit sechs Flaschen Wein und ein viel versprechender Kopf Brokkoli passen garantiert hinten auf die Ladefläche. Drei Topfpflanzen und ein Beistelltisch vom Ikea sicher auch. Oder ein Hundetransportkäfig für den Weg zum Tierarzt. Oder eben Schlauchboot und Schlafsack für die Fahrt zum Nordkap. Autofahrer in Hamburg rasten allerdings ganz sicher aus, wenn man damit wie mit zwei Fahrrädern nebeneinander vor ihnen durch die Stadt juckelt. Gute Nerven und gute Gebete braucht es also weiterhin. So lernt man eben das Leben als Fahrer begreifen.

>>> Geräusch des Tages: Motoren-Sound sehr alter Schule


 


Freitag, 16. April 2021


Der zögernde Boxer


Der zögernde Boxer. Kohle auf Papier. 2021. 1000,- Mark

Da ich nicht gut keuchend um den Block joggen kann, muß ich mich im Lockdown auf andere Weise fit halten. Ausstellungen und Museumsbesuche fallen ja auch flach, weshalb ich Kraft meines ungezähmten Talents jeden Tag ein gewaltiges Bild oder wenigstens eine subtile Zeichnung sozusagen aus dem Nichts meiner nebeligen Gedanken schaffe. Den seelischen Tiefen entrissen, der Qual entborgt, aus dem Brunnen des abgründigen Seins gezwungen. Normaler, kreativer Prozeß, im Ergebnis aber exakt 1o00,- Mark wert.

Mit Sportmalerei, wie hier am Beispiel Der zögernde Boxer, kann man insgesamt aber keine Preise mehr gewinnen. Lebte ich in den 20er-Jahren in Berlin, dann würde man meine Werke heute unter UV-gedämpften Licht an internationalen Kunsthandelsbörsen versteigern. So aber muß ich darauf noch 100 Jahre warten. Ein alternder Boxer, der alten Erinnerungen nachhängt, taumelnd im Ring, schwer atmend in den Seilen, das Schringern in den Ohren kein Telefon.

So als angezählter Boxer sollte man mal Urlaub machen. Aber für so was habe ich kein glückliches Händchen. Ich weiß ncht wie oft der ins Wasser fiel, weil buchstäblich im letzten Moment etwas dazwischenkam. Und als ich es endlich gelernt zu haben schien - kam Corona als ganz großes Geschütz. Jetzt habe ich auf Instagram #Audierne abonniert, weil ich da ein-, zweimal im Urlaub war. Da gibt es wenigstens schöne Bilder aus der Bretagne zu sehen. Auch lauter schöne Motive - allein, man kommt ja nicht hin. Allein kommt man nicht hin. Vielleicht bin ich auch zu zögerlich.