Mittwoch, 14. April 2021
Die letzten Tage habe ich mich sehr gut mit der BBC-Serie "Detectorists" unterhalten gefühlt. Zwei schnuffelige Verlierertypen in England suchen in ihrer freien Zeit mit Metallsonden bewaffnet nach Schätzen und finden zumeist Knöpfe und Dosenringe, philosophieren dabei über ihr leicht leerlaufendes Leben, falsche Entscheidungen, den Traum vom großen Schatzfund und erwehren sich ihrer Sondelclub-Kollegen freundlicher und feindlicher Natur. Arte, der Sender unseres Vertrauens, zeigte alle drei Staffeln (die Folgen sind möglicherweise noch in der Mediathek). Keine ganz große - Achtung! - Ausgrabung, man merkt wie das Skript in Staffel zwei ein wenig schwächelt, aber sehr charmant mit vielen skurrilen Nebenfiguren und unter anderem Tobey Jones besetzt. Den kennt man als Truman Capote in Infamous und vielleicht auch aus Berberian Sound Studio. Und natürlich einem Dutzend anderer Filme. Diana "Emma Peel" Rigg spielt dort eine ihrer letzten Rollen. So charmant ist das alles.
Seither sind meine Suchergebnisse gepflastert mit der offenbar berühmten (ich kannte sie nicht) Ausgrabungsstätte Sutton Hoo in Suffolk. 1939 fand ein englischer Archäologe dort ein angelsächsisches Schiffsgrab, in Detectorists wird darauf angespielt. (Der Stoff wurde gerade mit Ralph Fiennes verfilmt.) Sondeln bringt also was, ist aber leider auch in Deutschland streng reglementiert. Sonst wäre es die perfekte Freizeitbeschäftigung in Pandemiezeiten. Allein im Wald mit ein paar Ersatzbatterien und einer Metallsonde, man kann verlorene Hufeisen finden oder eine verrostete Liebe, abgerissene Uniformknöpfe und verlorende Thermosflaschen. Aber eben auch historisch bedeutsame Schiffsgräber, weshalb die Reglementierung sinnvoll ist.
In einer Stadt am Fluß oder an der Meeresküste kann man auch "Mudlarking" betreiben. Was bei anderen Leuten die Katzen ranschleppen, machen nämlich auch Ebbe und Flut. Zeug, Krempel, Knochen, Weltkriegsgranaten, fette Beute. Die Britin Nicola White ist Schlickforscherin an der Themse und zieht immer wieder hochinteressante Dinge aus dem Schlamm und zeigt sie auf Youtube. Goldgräberstimmung am Uferrandgebiet, aber bitte immer die Flut im Auge behalten.
Hab in einem schönen Urlaub in der Bretagne, man darf ja mal nostalgisch werden, fast einen Schuh verloren, weil ich bummelig und barfuß auf einem großen Stein am Ufer saß und meine Schuhe auf einem kleineren daneben und die dann von einer Minute auf die andere an mir vorbeischwammen, weil hopplahopp die Flut auflief. Seither beziehe ich immer nur Wohnungen unterm Dach, denn zweimal passiert mir das nicht.
Ich habe selbst viele falsche Entscheidungen getroffen. Aber eben auch ein paar richtige.
Freitag, 9. April 2021
Das an Überraschungen und Exzentrik nicht armen 19. Jahrhundert hat durch allerlei technische Erfindungen beschwingt auch den Buchmarkt umgekrempelt. Der Massenmarkt florierte, Romane erschienen als Serials in Zeitungen (Dickens), billige Drucktechniken ermöglichten schönen Schund wie Police News Illustrated und Genres wie die Penny Dreadfuls. Pulp hier, Gestaltungswille da: Das Buch drängte in die Haushalte und brauchte dazu zuvorderst eine hübsche Verpackung.
Der Lesehunger nämlich war immens, und die Maschinen druckten massenhaft Erschwingliches für jedes Haus. Heraus kamen Bücher für alle Interessensgebiete (hab alle relevanten Interessengebiete hier zusammensortiert). Wenn man sich die Cover heute anschaut, war eines schöner als das andere. Also nostalgischer als das andere, muß man wohl sagen. Grafische Experimente, Collagen, neue Schrifttypen, bald auch farbige Varianten - es war eine Zeit des Buch- und Magazinfrühlings, und das Feld ist weit gesteckt. Die Public Domain Review hat hier einen kleinen Überblick mit vielen interessanten Beispielen, Robert Stephen Parry hat dem schönen Schein einen ausführlichen Blogbeitrag gewidmet.
Dienstag, 6. April 2021
Wir waren ja sehr arm. Wir waren so arm, da mußten wir uns als Kinder unsere Rollschuhe selber basteln. Von irgendwo alte Räder abmontiert - von der Möbeltruhe, von einem Puppenwagen, einer hatte zwei Laufräder aus den Hamsterkäfigen seiner kleinen Schwester - dann unter die Schuhe montiert so gut es ging - und hui, ab ging es die steile Straße vor dem Haus hinunter. Wer bremst, ist ein Doofi!
Später wurden die Schuhe etwas besser, weil man "aus dem Wachstum raus war", wie getuschelt wurde. Aber für Rollschuhe war immer noch kein Geld, und so wurden zum Start der Saison Jahr für Jahr aufs Neue von irgendwo vier bis acht Räder besorgt und unter die Sohlen gedengelt. Mein Traum, wenigstens einmal der Schnellste zu sein, blieb unerfüllt. Denn die andere Kinder aus der Nachbarschaft bekamen nach und "richtige" Rollschuhe geschenkt, die gab es dann zu Weinachten, sogar samt Schlüssel, und kaum kam die Sonne raus im Frühjahr, sausten sie uns auf ihren glitzernden Schuhe davon.
Ich packte die Schuhe weg, nur ab und an holte ich sie hervor, putzte sie oder justierte etwas an der Aufhängung, hielt sie prüfend ins Licht und legte sie schließlich seufzend zurück. Mit diesen Rädern würde ich immer zu schlecht sein zum Rollschuhlaufen. Meine damalige Bekannte hörte abends oft mein Seufzen, während sie vor dem Spiegel saß und sich in unserer kleinen Wohnung die langen Haare mit einem billigen Kamm ausstrich. Auch ich hörte sie oft seufzen, wenn sich die Grate des Kamms im feinen Haar verfingen, es ziepte und zog, anstatt glatt hindruchzustreichen.
Als Weihnachten kam, faßte ich einen Entschluß. Ich packte die Rollschuhe und eilte zum Pfandhaus. Nie wieder würde ich sie fahren, diese Zeit war vorbei, nun war Zeit für einen Entschluß. Ich schluckte, als mir der Pfandleiher das wenige Geld auf den Tresen legte, ging dann aber gefaßten (und nicht etwa rollenden) Schrittes hinüber zum Budni-Drogeriemarkt, um ein Geschenk zu kaufen.
Am heiligen Abend gab es Bescherung. Meine Bekannte überreichte mir einen kleinen Karton, den sie liebevoll eingewickelt und mit einer Schleife umbunden hatte. Ich öffnete ihn und fand darin acht glänzende Blitzlaufrollen zum Drunterschrauben für Rollschuhe. "Damit das mit deinen ewigen Provisorien mal ein Ende hat", hörte ich, während mir das Rauschen des Blutes in die Ohren schoß. Mein Herz machte einen Sprung, während meine Bekannte ihr Geschenk auspackte. "Jetzt sag nur nicht, du hast dir die Haare abgeschnitten", rief ich, während sie den handgesägten Kamm aus dem Geschenkpapier wickelte. "Nein. Aber jetzt hab ich zwei", sagte sie und holte einen schönen, handgesägten Kamm, den sie sich selbst gekauft hatte, in die Höhe.
Sonntag, 4. April 2021
Dear God, I've served my time.
(PJ Harvey, "Send His Love To Me")
Eigentlich muß man ein Licht anzünden. Eigentlich muß man einen Ausflug machen. Ich mache nicht viele Ausflüge, und jetzt soll man es ja auch nicht. Vor ein paar Jahren war ich an Ostern in einem Kloster, das war ganz interessant. Da gab es einen Kreuzweg, da gab es eine Orgelprobe, eine Kunsthandwerksmesse, ein bißchen was Anzuschauen, Gräber, Leute, Tod, Schokolade und Auferstehung.
Beim Fotografieren stand immer jemand im Weg, heute hält man zu vielen Menschen Abstand. Manche sind nur aus ungewöhnlichen Perspektiven betrachtbar, man muß sich verrenken, sich totstellen, nach drei Tagen überraschen. Ein Licht ins Fenster stellen, alles neu machen. Sich ein ungestörtes Bild machen. Frohes Fest!
>>> Geräusch des Tages: Patti Smith Group, Easter
Freitag, 2. April 2021
"Tote Bienen". (Rostiges Metall, Bienen auf Pappträger. 1000,- Mark)
Hier auf Schloß Solitude mache ich ja zur Entschleuinung in Zeiten der Pandemie nur noch Kunst. Hier mein Karfreitagsnaturmahnmal "Tote Bienen", symapthische, aber tote Insekten im melancholischen Kontrast zu industriellen Artefakten, die selbst auch im Stadium des Verfalls befindlich sind.
Ich bin auch manchmal befindlich, befinden meist andere, aber das könnte am Rost liegen, der meine Strukturen langsam überzieht. Vom T-Träger-Man zum alten Rumpelsack. Pandemiefolgen, denn sonst wäre ich selbstverständlich tiptop.
Hilfe böte mir ein Blick in meinen eigenen Bestseller: Gesund durch Corioliskraft. Das Konzept dahinter besagt, hier stark verkürzt wiedergegeben, daß Menschen auf der Nordhalbkugel alle kreisförmigen Bewegungen im Uhrzeigersinn ausüben sollten, Menschen auf der Südhalbkugel in entgegengesetzter Richtung. (Was interessant wird, wenn man einer Person aus Australien gegenübersteht und beide sich drehen, weil es dann in dieselbe Richtung geht, während Menschen aus derselben Hemisphäre sich von einander wegdrehen.) Wer sich also in letzter Zeit wie festgenagelt fühlt, sollte mit vorsichtigen Bewegungen entsprechend der Corioliskraft seinen Körper bewegen. So lange, bis alles im Weltenfluß ist. Auch bei Krämpfen und Verspannungen hilft es, sich bei kreisenden Bewegungen und Massagen von der Corioliskraft helfen zu lassen.
Es gibt übrigens eine Fortsetzung meines Buchs unter dem Titel Putzen mit Corioliskraft, wo ich zeige, wie einfach und effektiv man Flächen reinigen kann, wenn man kreisförmige Bewegungen mit dem Putzlappen immer in Uhrzeigerrichtung (Nordhalbkugel) ausübt, um sich von der Corioliskraft unterstützen zu lassen. (Man kann auch die Schwerkraft bequem dazu nutzen, wenn man Sachen runterfallen lassen will. Das spart sehr viel Energie!)
Im dritten Teil, Heimwerken mit der Corioliskraft, zeige ich noch ein paar Tricks. Zum Beispiel, daß man Schrauben immer im Uhrzeigersinn eindreht oder Wasserhähne in derselben Richtung schließt. Hier gibt es ja bei Anfängern, die im Physikunterricht nicht so gut aufgepaßt haben, immer mal Unsicherheiten. Nur bei Nägeln nutzt das Wissen alles nichts. Honig vielleicht. Der hilft immer.
Montag, 29. März 2021
Ich stehe nicht im Verdacht, ein besonderer Fan von Madonna zu sein, auch hatte sie vor einiger Zeit mal einen obskuren Beitrag auf ihrem Instagramkanal, der wie ein Containerschiff merkwürdig quer lag. Irgendwas Verschwurbeltes zum Thema Corona, aber gut, die Nerven liegen bloß. In Sachen - teilweise überraschend hingerotzter - Selbstinszenierung macht man ihr allerdings nicht viel vor. Und bei ihren eigentlich immer recht sicheren Näschen für das passende Begleitpersonal. Sei es Fotograf Steven Klein, der seit Jahren ihre visuellen Kundenkontaktprospekte mit oft düsteren Inszenierungen begleitet. Oder die Schar an angesagten und Geheimtipp-Produzenten, die Saft und Knack unter ihre Lieder legen.
Im kleinen Begleitfilm zum Album Madame X gibt es so manches Fragezeichen, ein bißchen Matrona statt Madonna, aber auch ein paar Spottismen auf Instagram und Social Media. Von der Illusion ist da die Rede, vom Irrglauben, soziale Medien erzeugten eine Verbindung zu anderen. In einer Zeit, in der so viele Geschäftsmodelle und Karrieren auf Social-Media-Reichweite basieren, ist das ja für Öffentlichkeitsarbeiter kein locker dahingesagter Spruch. Aber wer kennt sich besser aus mit Show und Schein und Vormache als Madonna?
Von Madge, wie wir Internetfreunde sie liebevoll nennen, soll ich übrigens ausrichten, was für Blogger und Autoren die perfekte Begleitmusik ist, wenn man nachts wie sie über der Schreibmaschine brütet und für das Quarantäne-Tagebuch Gedanken über moderne Kunst sammelt [Instagram]. Lee Morgans Album Sidewinder nämlich, das vermutlich aber sowieso in jedem gutsortierten Musikhaushalt vorrätig ist. Das höre ich auch gerne abends, während ich über der Schreibmaschine zum Beispiel darüber nachdenke, daß die Dadaistin Elsa von Freytag-Loringhoven, die als wahre Erfindern von Duchamps berühmten Urinal gilt, als Elsa Plötz geboren wurde. Ich höre dann Sidewinder wie es von der Dachterrasse hereinweht und fühle mich Madonna ganz nah.
Madonna andererseits heißt von Haus aus Madonna Louise Ciccone, was irgendwie mehr Klang hat als Plötz. Meine Meinung. Jedenfalls, Madonna und ich haben keine Verbindung. Sie folgt mir nicht einmal auf Social Media.
>>> Geräusch des Tages: Lee Morgan, Sidewinder
Donnerstag, 25. März 2021
In einer gewissen Untergangslust sucht der Literaturbetrieb nach passenden Pandemiebüchern, einem Zauberberg für unsere Zeit. Zu wenig Beachtung fällt dabei auf bereits existierende Romane (es ist ja alles schon geschrieben). Yvan Goll, führender Kopf des Expressionismus und später unter Surrealisten in Paris, schrieb 1927 Die Eurokokke, 1929 gefolgt von Sodom Berlin (den man mal als Serie verfilmen könnte). In beiden befällt eine mysteriöse Krankheit die Gesellschaft. In Paris zerfressen "Eurokokken", eine medizinisch nicht näher erklärte Seuche, die Hirne, raffen das Denken hinweg und bedrohen Existenzen. "Es war auf den Straßen, als schritte man über bombenbestandene Felder. Es platzten, es krachten bei jedem Schritt die Schicksale aus runden Frauenköpfen. Es zuckte, es sirrte vor seelischer Elektrizität. Masurische Gefilde der Liebe. Es geschahen Morde, und niemand wußte davon. Und nur eines schien noch lebenswert, den Tod zu zwingen. Einbrecher sein in fremde, wie Safes verschlossene Existenzen."
Goll verwebt morbide und traumhaft verrätselte Anekdoten über ausgefranste Gestalten der Metropolen Paris und Berlin zu einer bizarren Odysee zerstörter Illusionen. Laster, Krankheit und Verfall bestimmen den Alltag und insbesondere das Nachtleben, in dem sich allerlei Kreaturen, Künstler und Geistesarithmetiker zusammenfinden. "Wir wissen nicht" ist ein Schlagwort dieser Sinn-losen Zeit. Was bleibt, ist Leere. Die europäische Kultur, vom Bazillus ausgelöscht, ist weder Hafen noch Hoffnung. Mehr als Zustandsbeschreibung ist das alles nicht, aber Parallele zu Zeiten, da niemand Antworten hat und aller Orten Hilflosigkeit in Zynismus umschlägt.
In Sodom Berlin geht es ähnlich munter, grotesk und pathetisch zugleich, weiter wie in einer Grafik von George Grosz. Innerlich und äußerlich Kriegsversehrte, zerlumpte Revolutionäre, abgehalfterte Industrielle und Aristrokraten in mottenzerfressenen Pelzmänteln treffen sich in Clubs, geraten in die Kämpfe auf der Straße, üben das Tragen von Monokeln und sinnieren über Busen, Bier und Perversionen, die Fortschritte der Psychiatrie und die Winkelzüge der Politik. Auf einem großen Fest kommen sie alle zusammen wie streng geformte Twitteraktivistengrüppchen:
"Mehre Mitglieder des Verbandes ehemaliger Wagnersängerinnen. Zweihundertsiebenundzwanzig Fahnenträger der Frontkämpferbünde. Die Magier der Güte aus Magdeburg. Mehrere Pantheisten. Die Worpsweder Maler. Der Direktor der neuen Traum-Universität. Ein nudistisches Paar. Ein homosexuelles Paar. Der Generalsekretär der Liga zum Schutz der Pferde. Der Herausgeber der Zeitschrift "Freunde des Eros". Eine Delegation der Satanisten, oder auch Teufelssöhne, der Sektion Grunewald. Zwei Mitglieder des Anarchistischen Bundes aus Schleswig-Holstein. Der Besitzer der Zigarettenfabrik Manilo, förderndes Mitglied der Anthroposophen. Eine zionistische Familie mit dreizehn Kindern. Die Sodomiter Sekte, vollzählig. Der Münchner Alpenverein. Der Meister des Königlichen Geheimnisses und der Priester der Ehernen Schlange und des Sterns, Neognostiker. Eine Abordnung des Schachclubs von Osnabrück. Drei Vorsitzende der Heiligen Feme, mit Kapuze. Mehrere Aktivisten 1915. Gegenaktivisten 1919. Überaktivisten 1920. Die Witwenunion aus Andernach..."
Usw. usf. Mary Wigman tanzt nackt und eine Jazzkapelle spielt. Ordentlich was los, im Goll'schen Endzeit-Berlin. Wer sich unterhaltsam ankränkeln lassen möchte, liegt auf diesem literarischen Kanapee goldrichtig.