Freitag, 21. Mai 2021


Good deeds should be done with intention not for attention


Coleen Gray als "Electra" in "Nightmare Alley" (1947)

"Good deeds and prayers should de done in silence" heißt es in Nightmare Alley, einem fantastisch fotografierten (Kamera: Lee Garmes, "Shanghai Express") Noir-Drama über den Aufstieg und Fall eines Mentalisten, der über sein Netz aus Lügen, Schuldgefühlen, aber auch über seinen Hochmut stolpert. Tyrone Power spielt den ehrgeizigen Egoisten, der ein dunkles Geheimnis zu verdängen sucht, weshalb er sich später bei einer zwielichtigen Psychologin zur Analyse auf die Couch legt. Dabei ist er mit der wunderbaren "Miss Electra" verheiratet, die auf der Bühne 10.000 Volt brizzeln lassen kann, privat aber sanft wie ein Lamm ist.

Guillermo del Toro hat gerade ein Remake (u.a. mit Cate Blanchett) fertig, aber ich bleibe vorerst bei der Version von 1947. In der Jahrmarkt- und Schaubudenwelt des Films gibt es nämlich einige gute Berufsideen abzugreifen. Als Elektromann im Powerdress könnte ich vielleicht bella figura machen, aber Mentalist geht auch gut im Abendanzug. Anonsten braucht man dazu nur eine Assistentin und einen linguistischen Code, weil man ja verbundene Augen hat und wissen muß, welchen Gegenstand die Assistentin im Publikum in die Höhe hält. Wenn also mal jemand skeptisch fragt, Aha, du studierst also irgendwas mit Geisteswissenschaften - und was macht man damit später so? kann man lässig entwaffnend antworten: "Zum Beispiel Mentalist werden".

Derzeit entwerfe ich schick gestylte Visitenkarten für die ein oder andere solche Existenzgründung. "Kid37 - Thaumaturg", "Kid37 - Sammler" oder eben "Kid37 - Mentalist" gehören dazu. Wer noch die Serie "Detektiv Rockford" kennt, weiß, was ich meine. Klappern gehört zum Handwerk - oder zum natürlichen Drang, kann aber ursprünglich sehr gut gemeinten öffentlichkeitswirksamen Aktionen zum Beigeschmack verhelfen. In Hamburg wurden bereits erste Impfpflaster mit "Eure Impfarmut kotzt mich an!" gesichtet. Die kann man, wenn sie sich schrumpelig vom Arm pellen, auf die Heckscheibe vom VW Golf kleben, wenn es brumm-brumm in den Urlaub drängelt. In Pinneberg grölt es: "Hoch die Impfarme - Wochenende!" und statt "Abi 2021" eben "Astra 2021". Als Mentalist sehe ich es glasklar vor mir: Ein Verkaufshit! Wie auf einer exzessiven Party, die bereits einen Tag zu lange (für Euch da draußen: 1 Stunde) dauert, mischt sich etwas Fratzenhaftes in die glücksberauschte Stimmung. Erste ironische Anmerkungen wie von Satire-Influencerin Cassandra Cash oder Beiklänge in einer Kolumne im Monopol-Magazin zeigen, hier kippt langsam was.

Das Impfpflaster wird zum Arschgeweih unserer Zeit. Ein Gegenstand kommender kulturphilosophischer Betrachtungen, begleitet von Ausstellungen - Entschuldigung: "kuratierten" Ausstellungen - Fotobänden und Wahlen zur "Miss Impfarm". Es folgt der Sport und dann das Wetter.

Super 8 | von kid37 um 17:40h | 17 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Montag, 17. Mai 2021


Spannen und Ausspannen



Über 90 Prozent aller Stummfilme sind verloren. Ab und an taucht mal einer auf, manchmal ganze Konvolute aus alten Kinos oder in Kisten, die man in Alaska im Permafrost vergraben hatte. Oft sind es nur Fragmente, so wie bei diesem Fund eines Films, der wahrscheinlich Anfang der 20er-Jahre entstanden ist und wohl nur hinter vorgehaltener Hand vorgeführt wurde. Auch damals schon waren Städter von großer Sommerhitze geplagt, lagen ermattet und leicht bekleidet auf dem Diwan, starrten schwitzend an die Decke und warteten auf den Eismann. (Nicht der von Schöller, der mit den Blöcken für den Kühlschrank.)

Derzeit herrscht hingegen eine angenehme Maikühle, die Glutsommermonate dürfen sich meinem Wohlbefinden zu Gefallen auch ruhig Zeit lassen. Regen, Hagel, schnurrige Gewitter, die das Haar besonders gut legen, zwischendurch ein wenig Sonne - gibt es eigentlich eine schönere Art ins Frühjahr zu gehen? Ich denke, nein. Ich entspanne in meiner Dachkammer und mache dabei Waldbaden. Hier auf dieser Seite kann man Tonaufnahmen aus Wäldern aller Welt anhören, dem Zirpen und Blätterrauschen nachsinnen - in schwüler Dschungelhitze oder auch gemäßigter Regionen, Wanderungen per Mausklick. Dabei von Dachkammern und Eisverkäufer:innen träumen.


 


Samstag, 15. Mai 2021


Hirondelles; Sommer



Hier am geisteswissenschaftlichen Institut werden ja regelmäßig Sprichwörter und Redensarten auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft. Zum Beispiel die über Vogelsichtung und Wetterlage. So wurde für eine wissenschaftliche Untersuchung ein Pärchen Rauchschwalben angeworben, das mißmutig wie alte Rentner am Fenster sitzen und in den Regen hinausstarren sollten. Als Kontrolle wurde ein zweites verregnetes Fenster ohne Schwalben beobachtet.

Heute scheint die Sonne, die Temperaturen bleiben aber weiterhin kühl. Ein Sommer ist nicht in Sicht. Dies gilt für beide untersuchten Fenster, auch dem aus dem Kontrollmodell. Der Faktor "Schwalbe" sorgtefür keinen signifikanten Unterschied. Nimmt man als erwiesen, daß nicht einmal zwei Schwalben einen Sommer machen, scheint die Schlußfolgerung, daß dies einer einzelnen erst gar nicht gelingt, der im Sprichwort formulierten Lebenserfahrung zu entsprechen. Elementary.

(Disclaimer: Dies ist ein Vorab-Paper einer großangelegten Studie, das noch nicht peer-reviewed ist.)

Zwillingsforschung | von kid37 um 14:00h | noch kein Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Mittwoch, 12. Mai 2021


Polizeidienst ist Kunst

Heute wäre Joseph Beuys hundert Jahre alt geworden. Ich überlege, ob er wohl geimpft worden wäre oder ob er sich selbst mit seiner Honigpumpe und einer Mischung aus Fett und Filz geimpft hätte. Eine Frage des Narrativs. In Hamburg umfasst das Narrativ mittlerweile nicht mehr "vulnerable Gruppen", sondern "Urlaubs-Pieks" (Hetzblatt) oder "wir machen das Impfzentrum bald zu" (Sozialbehörde). Wer brav nach Plan gewartet hat, wird bald vom Ansturm aller aller untergepflügt, wie früher, als es noch echte Schlußverkäufe gab, auf dem Todesweg zum Grabbeltisch.

Vielleicht hätte Beuys sich auch mit einem Kojoten eingesperrt, so wie es mir auch schon geraten wurde. Einfach eine Schamanenmütze aus Filz über den Kopf ziehen, sich auf ewig selbst isolieren und mit den Kojoten reden, während unten Party ist. Als letzter Ungeimpfter wird man dann in einem Einbaum zum Impfzentrum gefahren, eine feierliche Zeremonie. So wie einst die berühmte "Heimholung" des Joseph Beuys, der als von der Akademie Verstoßener von seinen Jüngern über den Rhein im Triumph zurückgerudert wurde.

Hinter der Aktion stand Beuys' Schüler und langjähriger Weggefährte Anatol (eigentlich Anatol Herzfeld). Von ihm stammen die bekannten Wächterfiguren, rostige Gesellen aus Eisen auf der Museumsinsel Hombroich, wo er lange Jahre sein Atelier hatte. Wie so häufig fragt man sich ja bei Kojotenschnackern wie mir oder Anatol, "wovon leben Sie eigentlich?" Anatol hatte, im Gegensatz zu mir, einen ehrbaren Beruf. Er stand lange als "Schutzmann" im Dienste der Verkehrspolizei Düsseldorf. Polizeidienst ist Kunst, sagte er. Kunst ist Leben und immer noch die beste Infusion.

>>> Sehenswerte Doku über Joseph Beuys von Andres Veiel ("Blackbox BRD")


 


Sonntag, 9. Mai 2021


Beschäftigt bleiben

Seit ich wieder in die Stadt gehen kann,
ist das eine großes Erleichterung für mich.
Doch wie lange habe ich mein Zimmer nicht verlassen!
Es waren bitteren Monate und Jahre.

(Bruno Schulz, "Einsamkeit". 1937.)



Zu Hause sitzen, durchs gekippte Fenster atmen, den Impf-Dax beobachten und die Ausschläge der Termingeschäfte; Jubelschreie auf dem Parkett, wenn Vakzin-Entrepreneure was im Oberarm gelandet haben. Hier zirpen unterdessen die Grillen, rollt Tumbleweed über den Wohnzimmerteppich, starre ich auf Wände, und die Wände starren zurück. Ab und an foppt mich freundschaftlich die Hausspinne, um mich ein wenig aufzuheitern. Doch auch die Tiere sind unruhig.



Wer nicht wie andere Vergessene nach Jahren vor dem laufenden Fernseher bei blinkender Weihnachtsbeleuchtung aufgefunden werden will (kann heute wegen der geplanten Obsolenz nicht mehr passieren, die Geräte halten einfach nicht so lange), sucht sich am besten eine Beschäftigung. So wie meine Mutter, die hier in Sydney eine beeindruckende Sammlung wunderbarer medizinhistorischer Exponate betreut. Das nenne ich Interesse und Engagement und einen schönen Kampf gegen die eigene Obsoleszenz und das Vergessen. Mit herzlichem Charme führt die alte Dame durchs kleine Museum, begeistert Besucher und macht, was sonst nur Blogger ungefragt tun: Sie gibt ihr Wissen weiter.

Es ist natürlich nicht wirklich meine Mutter, bevor jetzt jemand petzt und protestiert. Die sitzt, seit letzter Woche auch endlich mal geimpft, brav daheim und wartet auf einen schönen Gruß zum Muttertag. Alles Gute, Mutti!


 


Donnerstag, 6. Mai 2021


Verschieden, aber alle schön


(c) Scott Sheffield

Derzeit ruhen die Abrissarbeiten am Freibad um die Ecke. Nur das Hämmern in der kleinen Blogschmiede stört die Stille im Viertel. Beim Freibad indes ist alles gepflügt, einzig das Becken steht noch, ungenutzt. Der Traum der Krokodile ging so: Alle ins Becken, nackt. Und kuscheln. Leider hat die Stadtverwaltung meine diesbezüglich vorgebrachte Idee abgeschmettert, obwohl ich wie ein professionell arbeitendes Architektur- und Planungsunternehmen eine Visualisierung beigelegt hatte.

Die stammt von Scott Sheffield. Der Fotograf (*1994) aus Wisconsin ist unterwegs im Niemandsland und wirft einen illusionslosen Blick auf das Zusammentreffen von Zivilisation und Natur. Merke: Nicht alle Baukunst ist wunderbar.

Manchmal dann aber doch. Wenn ich in Hamburg eines vermisse, dann sind das andere Orte. Das Ruhrgebiet zum Beispiel. Hier ist Fotograf Wolfgang Froehling (*1952) unter ehemaligen Bergarbeiterhäuschen umherspaziert und und hat ungewöhnliche Fassadenmutationen festgehalten. Ein Lob der diversifizierten Doppelhaushälfte. Getreu dem Motto: Sind wir wirklich zu verschieden?

Hier haben Menschen einfach mal gemacht. Was aus sich und ihren Häusern. Vielleicht sollte auch nicht auf die Entscheidung der Stadt waerten, sondern mit meinen Traumkrokodilen einfach mal machen. Ab ins Becken, nackt und kuscheln.


 


Sonntag, 2. Mai 2021


Rostige Pferde



Kaum ist man mal zwei, drei Tage von Twitter weg, fühlt es sich an, als hätte man literweise Schafgarbentee getrunken. Alles entspannt, eine gewisse Ruhe schlenkert sich ums innere und äußere Haus. Gleichwohl griff ich heute vor der Radausfahrt zu einer kleinen Schock- und Konfrontationstherapie, als ich meinem Rücklicht nur scheinbar schelmisch drohte, demnächst gar nicht mehr zu Rade, sondern wie so manche neuerdings hoch zu Roß durch die Stadt zu reiten.

Mit Pferden kann ich nämlich gut, muß man wissen. Oder sagen wir: Ich hatte mal eine Bekannte, die besaß ein Pferd und das durfte ich mit Karotten füttern. Dem Pferd war ich, glaube ich, egal (der Bekannten, hoffe ich, nicht), aber es war sehr interessiert an meinen Jackentaschen. (Das war auch eine schöne Jacke, in die viele Karotten paßten.) Jedenfalls bin ich seither Trensenexperte und kann Pferde am Hufschlag erkennen. Drahtesel auch, und daher versuchte ich mich heute als Rücklichtflüsterer und eine Art Fahrrad-Tamme-Hanken: Ich klopfte die Leuchte vor Fahrtantritt vorsichtig, aber bestimmt an neuralgischen Stellen ab, und der Rest ist Ah! und Oh!

Läuft, wie man so sagt. Manche Dinge brauchen nur Ruhe oder ein wenig Eigen-Zeit, mal eine Weile "stille Treppe" oder einen kleinen, aber selbstverständlich liebevoll gemeinten, Klaps. Tipps und Tricks für die Fahrrrad-Hippotherapie lautet mein kleiner Ratgeber, der Roß und Reiter unverblümt beim Namen nennt. "Menschen rostig - Pferde rüstig" ist das leicht zu lernende Motto. Das bedeutet soviel wie: Wenn das Rücklicht heller leuchtet als man selber, muß man dringend was an wackligen Gelenken tun. Umgekehrt hilft manchmal einfach ein wenig Kontaktspray.