Samstag, 16. Dezember 2017


Ich wage mich in die Stadt, esse keinen Kuchen, nehme später aber ein Buch zur Hand

Für einen armen Mann jedoch,
dem es daheim nicht gefällt,
gibt es ein ansprechenderes,
reicheres, strahlender beleuchtetes
und immer gastliches Haus: das Café.

(Albert Camus, Der glückliche Tod.)




Dabei hab' ich gar nix gemacht. Ich schwör! Monatelang Lange Zeit hing mein Theraband ganz unschuldig über der Türklinke (also ungefähr so, wie andere Leute dort zur Raumverschönerung Bortebänder oder Beutelchen mit Lavendel hängen haben). Jetzt war mir kurz nach Sport, fasse es nur einmal an - und gerissen war's. Wie so ein in der Küchenschublade vergessener, völlig verschrumpelter Gummiring. So viel Kraft habe ich schon, nur vom Schauen. Theraband.

Also dachte ich, mach doch einfach einen Stadtbummel zu deiner Kraftübung. Ein neues kaufen. Natürlich habe ich vergessen, daß da jetzt diese Buden sind. Es blinkt und dudelt und steht vor allem im Weg wie sonst nur die mobilen Betonklötze (saisonalbedingt rot-weiß eingehüllt), die entfesselte LKW im bösen Fall des Falles aufhalten sollen. Normal. Es sind Menschen in der Stadt, nicht alle freundlich, manche aber schon. Die Apothekerin lobt meine Brille, und schon sind wir in einem Gespräch - von Brillenträgerin zu Brillenträger - über Gleitsicht und Weitsicht und immer wieder über ihre Ansicht bezüglich meines Exemplars. Wie nett.

Im Café dann großes Gewühle und zu wenig Stühle: kein Platz zu bekommen. Eine kuchenlose Zeit! Und das vor Weihnachten. Enttäuscht kaufe ich ein Theraband.



Zuhause möchte ich weiterlesen in Viv Albertines Memoiren, die ich völlig vergessen habe vorzustellen. Genauso wie die CD von Bruit, auf die ich durch Herrn Fabe aufmerksam wurde. Die hört sich sehr schön an. Also wie ein röchelnder Elefant vielleicht mit Schnupfen oder ein Staubsauger, der gerade das untere Ende des Vorhangs erwischt hat, der vor der Sammlung mit den Boudoirgemälden oder den Fetischstiefeln hängt. Der Musiker ist Saxofonist und macht Geräusche. Auf Anhieb meine zweitliebste Platte dieses Jahr.

Viv Albertine ist eigentlich keine Musikerin, also im klassischen Sinn, hat ihr Leben lang aber viel schräges Zeug gemacht, nachdem sie nach dem Besuch eines Sex-Pistols-Konzerts beschlossen hatte, eben doch eine Musikerin zu sein, gemeinsam mit ihrem damaligem Freund Mick Jones, der gerade The Clash gegründet hatte, eine Gitarre kaufte, eine E-Gitarre, das ist nicht ganz unwichtig, und ohne so recht spielen zu können (als käme es darauf an, ihr Hippies!) bei den famosen Slits landete, deren Single Typical Girls (hier mit Budgie an den Drums) für die deutsche Ausgabe ihres Buches herangezogen wurde. "A Typical Girl", typisch deutscher Begriff. Das Lied meint das natürlich satirisch, und der Text hat - leider - nicht gelitten.

Viv Albertine, die ursprünglich, wie bemerkenswert viele coole Musikerinnen und Künstlerinnen ursprünglich aus Australien stammt, summt ihre Erinnerungen angenehm witzig, lakonisch, tongue-in-cheek und nie eitel daher. Dabei hat man schnell den Mund offen, mit wem die beispielsweise alles zur Schule gegangen ist, damals in den Prä-Punk-Jahren, oder sonst oder später kannte. Oder die alle sie.

Es gibt eine hübsche Folge der britischen TV-Reihe Carpool mit ihr, ich gucke das immer zur Entspannung. Ich glaube, die kann mit einer Hand ein Pferd halten und mit der anderen einen Kuchen backen. Aber die macht ja Musik, oder filmt (sie hat die Hauptrolle als Performancekünstlerin im großartigen "An Exhibition") oder macht Kunst. Und Kuchen, da habe ich einen ganz starken Verdacht und eines Tages, glaubt es mir, werde ich das herausfinden. Alles angenehm bodenständig. So wie ihr Musikunterricht.

Das Buch ist eine schöne Emanzipationsgeschichte, as it is, also auch so zu lesen, nicht nur als Erinnerungsmaschine an die Punk-Ära. Wie man aus einfachsten Verhältnissen kommt, suggeriert bekommt, daß man angeblich nichts könne und dann eben doch ganz schön viel kann. Weihnachtslieder macht sie auch.

>>> Geräusch des Tages: Bruit, Botanik


 


Freitag, 8. Dezember 2017


Don't Wake Daddy XII




Zum Jahresende wird in Krügers Galerie noch mal kräftig heimgeleuchtet - und wehe, man geht nicht hin. Dann droht Knecht Ruprecht mit der Rute und läßt einen das ganze folgende Jahr schlecht schlafen. Die Lese zeigt wieder ganz entzückende Ergebnisse. Moki hat vier ganz ungewöhnliche Stücke eingereicht, Heiko Müller eine ganze Traube toller Bilder, und ein weiterer Höhepunkt sind die beiden Grafiken von Ray Caesar. Mir gefällt der tote Keramikvogel, der Tintenfisch... aber, wo man das Geld hätte, fehlt der Platz und wo Platz ist, oft das Geld.




Und wie bei einem Waldspaziergang kann man auch nicht jeden Baum nach Hause holen. Oder war das bei einem Spaziergang im Zoo? Man steht also da, plauscht ein wenig über gute Kunst und auch die schlechte, begutachtet die Erwerbungen und läßt das Jahr Revue passieren. Ich habe heuer besonders viel zu erzählen, da könnte man mal ein fein ziseliertes, pop-surrealistisches Bild von malen. Einen gelben Vogel fangen, das war so ungefähr mein Job. Wie so ein oller Silvester mit seinem Tweetie. Ist noch nicht entschieden, der Vogel ist schlau.



("Don't Wake Daddy XII". Feinkunst Krüger, Hamburg. Bis 23.12.2017)


 


Sonntag, 26. November 2017


The Ghosts of My Friends

Während man schon Termine für das nächste Jahr™ machen muß, so weit ist es also schon wieder gekommen, lohnt ja auch mancher Blick zurück. Ich weiß das, denn wenn es einen fast schon über-passionierten Zurückblicker gibt, dann bin ich das. 1909 also saß man hier und da noch zusammen mit seinen Internetbekanntschaften und ließ sie Papiere unterschreiben. Bücher entlang einer gedachten Linie, dann klappte man das Blatt zusammen und hatte bald eine mysteriöse Autographen-Sammlung zusammen.

Die Idee ist natürlich deshalb so hübsch und bestechend, weil sie so einfach ist. Also, wenn man Freunde hat oder andere naive Menschen kennt, die einfach so ein Blankoblatt Papier unterschreiben. Ich sage dann ja für gewöhnlich, melden Sie sich doch zu diesem Behufe bitte bei meiner Sekretärin, die macht einen Termin aus. Oder ich täusche einen Krampf in der linken Hand vor. Kann leider nicht schreiben, Sie sehen ja selbst... wie eine Piratenklaue! Eine schnell ausgedachte glaubwürdige Geschichte ("Da war nichts!") hat schließlich schon manchen gerettet.

Die anderen geistern noch hundert Jahre später als Rorschachtest durch alte Folianten. Eure Poesiealben mit Pferdebildern und Einhörnern stellt da mal schön hinten an.


 


Sonntag, 19. November 2017


Beton brútal



Wie eine vergessene Maya-Pyramide ragt sie aus Baumwipfeln hervor, Betonbrutltecl, und fast hätte ich vor Jahren dort gegenüber mal gewohnt, als ich dringend eine Wohnung suchte, also sehr dringend, und auf meinem zahmen Elefanten in den Dschungel ritt. Aber weil es ein regnerischer, dunkler Tag war und der Weg zu dieser Wohnungsbesichtung durch endlos lange, von flackernden Neonlampen minderbeleuchteten Gängen führte, an meterdicken, vom Regen noch grauer angelaufenen Betonmauern vorbei, drehte ich gleich wieder um. Etwas besseres als den Tod kann ich überall finden, so dachte ich.

Heute ist das Ensemble ja schon fast wieder schön in all dieser feindseligen, erdrückenden Pracht. Zum Glück ist es Beton! Wie andere Pyramiden auch ein Zeugnis einer vergangenen Zeit, aber bevor jetzt am Ende noch Touristen kommen, reißt man es lieber schnell ab. So nagen seit einigen Monaten Bagger und Raupen und anderes schweres Gerät an den Außenmauern. In den Schubladen von Großbaumeister T. liegen sicher schon verschiedene Varianten immergleicher Glaskuben bereit, hier weitere Klötzchen hinzukötteln, von denen die Stadt bereits weitflächig und schwer verdaulich zugeschissen ist.



Ab und an schaue ich mal vorbei und überlege, ob es nicht eher eine Art Hamburger Schloß Neuschwanstein ist. Der fiebrige Betontraum eines Blade Runner-Architekten, die Trutzburg einer hanseatischen Tyrell-Corporation, um die nachts Hovercraft-Taxis schweben und Androiden ihre Schöpfer suchen. Ich könnte dort wohnen, in aller Mordsseelenruhe, nachts im Regen auf der Terrasse stehen und die Lichter der Stadt auszählen, die Musik schön laut drehen und ab und an Wein aus den hauseigenen Betontanks holen. 500 oder 5000 Zimmer voller Möglichkeiten.

>>> Geräusch des Tages, New Order, Truth


 


Donnerstag, 16. November 2017


The Dressmaker

In der Zeitung stand der Artikel einer Soziologin über den heutigen Verhältnissen angeblich angemessene und schickliche und empfehlenswerte Kleidung, bei dem ich mich wunderte, daß sich diese Zeitung mit derart flach Gestricktem überhaupt einkleidete. Wie neulich schon beim Thema Mäntel, die andere tragen, bin ich ja der Meinung, ein jeder sollte sich so kleiden können, wie er oder in diesem Falle sie lustig ist.

Schon allein, weil Mode ja auch eine selbstbefreiende Kraft besitzt. Sie kann ein Schutzmantel sein oder Macht über andere ausüben - und natürlich auch ihre Tücken haben. P. J. Harvey - und die kann nun wirklich alles tragen - hat darüber selbstbewußt gekleidet gesungen. Jocelyn Moorhouse hat zum Thema Mode einen vergnüglich bissigen und wunderhübsch fotografierten Film gedreht.

The Dressmaker ist so eine Art Shakespeare in "Our little Town": eine brillant böse, bittersüße, witzige Rachegeschichte in den 50er-Jahren, mitsamt einem großartigem Ensemble (Kate Winslet, Judy Davis, Alyson White u.a.) und großartigen Kostümen. Und einer großartigen Regisseurin, die beschämenderweise viel zu wenig Filme (u. a. "Proof", "An American Quilt") machen konnte (aus Gründen) und hier beweist, welches Auge für Bilder sie hat und wie geschickt sie Figuren übers Schachfeld führen kann. Die Frauen in The Dressmaker leben zwar nicht an der soziologischen Fakultät von Bielefeld, sondern im Outback auf der anderen Seite der Welt. Demonstrieren aber, welche Macht sie durch schöne Kleider gewinnen. Und welche die hat, die schneidern kann. Kommt ja gleich nach Backen und Reifen wechseln.

>>> Geräusch des Tages: P. J. Harvey, Dress

Super 8 | von kid37 um 01:03h | 15 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Mittwoch, 8. November 2017


Goldgelber Herbst



Als ich heute morgen meine Zimmerdecke fegte, um für meine drei Hausspinnen Myrtle, Käte und Agnes Platz zu schaffen, damit sie neues Halloween-Gelumpe in die Ecken weben können, fiel mir ein, daß ich vielleicht einfach mal wieder etwas hier hineinschreiben sollte. Damit die Leute nicht denken, ich sei tot oder verheiratet, je nachdem, was schlimmer ist.

Im Grunde war ich nur mal eben Zigaretten holen, kurz am Büdchen und dann abgelenkt. Auch hier und da, aber dazu später. Zwischendurch habe ich mich sehr um die internationalen Beziehungen verdient gemacht und mich wie ein in Australien herumhoppelndes weißes Kaninchen quer durch den Erdball gegraben, nur um am anderen Ende erschrocken auf meine Taschenuhr zu schauen und eine Alice ins Loch zu drolligen Abenteuern zu locken. Das aber nur als Metapher, bevor mir wieder irgendwelchen erzürnten Königinnen den Kopf abschlagen wollen. Noch etwas Tee?

Dann hatte ich kurz Geburtstag (am nächsten Tag bereits Ernüchterung!) und stellte fest, daß ich unvermutet in eine herbstlich gelbe Phase eingetreten bin. Jedenfalls für alle anderen. Unabgesprochen synchronisierten sich freimütig Gebende mit ihren gelben Seiten auf eine reduzierte Farbpalette, deren möglicherweise esoterische Bedeutung mir noch nicht ganz aufgegangen ist. Sie sehen mich wie ein Herbstblatt am Baume und raten mir zum Ostfriesennerz.

Gelb macht einen fahlen Teint, dabei sah ich eine kurze Zeit, durch gelbe Sonne bedingt aus wie der alte Jean-Paul Belmondo, mit meiner sprichwörtlichen Fröhlichkeit, der braunen Haut und dem grauen Haar - wie so ein cotton top, wie man recht bildhaft auf der anderen Seite der Erdhalbkugel sagt. Ohne Yacht oder wenigstens einem gelben Unterseeboot (Brüller!) aber macht das Leben als Double von Jean-Paul nur leidlich Spaß, so daß ich mir die Gesichtsfarbe rauswachsen ließ. In Hamburg kein Problem. Sonst war nichts. Guten Tag.

>>> Geräusch des Tages: Christie, Yellow River


 


Sonntag, 27. August 2017


Träume träumen, Träume leben



Dieser Briefumschlag hat tatsächlich noch eingravierte Träume. Aber warum nicht. Als ich ihn auf seine lange Reise schickte, fiel mir ein, Mensch, Herr Kid, Sie hatten doch auch mal Träume! Das ist aber lange her. Nun ist dieses Jahr eins der denkwürdigen Begebenheiten, und so kann man ja auch mal einen Koffer packen. Die Pferde satteln, wie es im Reitermund heißt, sich freundlich in die Sonne stellen, den großen Zeh ins Wasser halten und den Seeraubvögeln die Zunge raustrecken. Andere Leute machen das ja auf ihre sonderliche Weise ganz unbefangen auch.

Und wer nun zu Hause beiben muß? Der geht in Berlin schauen, wenn die wunderbare Frau Gaga vom 1. bis 3. September im ehemaligen Frauengefängnis ihr sentimentales Archiv öffnet. Das geht über drei Tage, Ausreden zählen also überhaupt nicht.

Meine Güte, ein Leben fast wie früher. Anschließend Getränk und Blogger-Party. Gelacht wird wohl auch.