
Mittwoch, 25. April 2007
Der Mastbaum schwankt im Kreise.
Die Weiber schlagen Purzelbaum,
Das Schiff bewegt sich leise.
(Hugo Ball, "Narrenfest". ca. 1916.)
Das Leben ist ein Varieté, heißt es, und wir nur die Artisten. Einmal traurig, einmal froh, mal bist du oben, mal am Boden - und dazwischen ratlos in der Zirkuskuppel. Damals, seit jenem schrecklichen Unfall - und ich schwöre, das war es! - an der Wurfscheibe, schleiche ich nur von ferne um das bunte Zelt. Natürlich juckt es mir manchmal in den Fingern. An schwüleren Tagen, wenn die Gedanken träge kriechen und ich im verschwitzten Hemde auf meiner Eisenpritsche liege. Einmal noch die Luft atmen, einmal das Geräusch der Manege - einmal noch ein Messerwerfer sein!
Auch übe ich heimlich, nicht fleißig, aber immerhin. Halte die Finger gelenkig, den eleganten Schwung aus dem Unterarm. Ich schaue dabei die alten Fotos an und stelle mir vor, wir beide, du und ich, zusammen in unserer besten Nummer: die Handschuhe, die Augenbinde, die sirrenden Messer. Der Kasper kommt im Zirkuszelt, heißt es. So frivol ist mir nicht zumute. Ich komme mit einem Koffer voller Erinnerungen: meine sehnsüchtigsten Träume, die finstersten Gedanken und zartesten Regungen - alle zur selben Zeit.
Ich bin dann wie Magneto der Gedankenleser, der nach uns im selben Programm auftrat. Der Welt tiefschauendster Telepath, ein Mann mit drittem Auge, dem Vergangenheit, Zukunft und die Nummern der Ausweispapiere gestochen scharf aus dem Nebel aller Erkenntnis sprang. Der kluge Hans, der zwei und zwei zusammenzählt. Nur zu genau will man nicht wissen. Irgendwann lernt man aufzutreten und den Vorhang hinter sich geschlossen halten.
Die alten Zeiten kehren nicht wieder. Heute weht der Wind durch die Zelte, heute liege ich auf meinem Eisenbett und blättere durch die vergilbten Programme, halte zerknitterte Kostüme in den Händen, atme den Duft von Kampfer, Sägespänen und einem leisen Hauch von deinem Parfüm. "It's not, it's not who you kill but it's who you left" singen die Blonde Redhead vom Grammophon. Ein letzter Rest von Wimperntusche. Wir waren wirklich sehr jung damals.

Montag, 23. April 2007
Gerade eine Mail an Daniel Cohn-Bendit geschickt. Warum? Es geht um dieses Gesetzesvorhaben, das am 25. April in Straßburg abgesegnet werden soll. Wer dagegen wenigstens seine Stimme erheben will, kann sich hier seine Abgeordneten im Europaparlament heraussuchen und Ihnen eine Mail schicken, die bedenkenvoll mit dem Kopf wackelt. Zum Beispiel. Es geht darum, die u.a. hier beschriebenen Zusätze zum Gesetzesentwurf mit aufzunehmen. Denn sonst sind die meisten von uns demnächst nicht nur im Herzen Verbrecher.
Erkenntnisverstärker Eisenbahn. Ich weiß jetzt, daß es unter Umständen nicht ausreicht, einen Nichtraucherplatz zu buchen. Jedenfalls nicht, wenn sich rechts von einem ein nach wochenlangem kalten Rauch riechender Mensch setzt, der seine nach jahrelangem kalten Rauch (und billigem Leder) riechende Jacke links von einem aufhängt. Danach dann ins Raucherabteil gewechselt, gesundheitsbewußt, wie ich bin, bevorzuge ich frischen Rauch.
Was ich mal bewerben möchte: Leckerer Schokoladenkuchen, der nur für mich gebacken wurde.
Wolf Schneider hat eine angenehme Stimme. Aber keine angenehmen Ansichten.
Götz Alsmann kann einfach nicht verlieren. Das macht ihn so sympathisch. Aus der Ferne betrachtet.
Eßt mehr Schokoladenkuchen.
Update: Anscheinend ist heute wieder einmal Tag des kosmischen Orgasmus. Mir sagt ja wieder keiner was. Solltet ihr was vorhaben, vergeßt die Herzen nicht. (via Dadanoias)
Danach hat man sicher erst recht Hunger auf tollen Schokoladenkuchen.

Donnerstag, 19. April 2007
Jetzt wird es gottlob wieder kühler. Ich muß nicht mehr am Fenster stehen, den Weg der roten Sonne verfolgen oder den unruhigen Träumen der Tiere unten im Ufergebüsch lauschen. Jetzt lähmt die Nacht nicht mehr und nicht mal ihre Gedanken. Dafür liegt Gift in der Luft, brennt auf den Lippen, verklebt mir die Nase und macht die Augen schwer. Mit letzter Kraft werde ich eine Nachricht in meinen Schreibtisch kratzen. Hier faßte ich mir ein Herz - und es war nicht meines.
Endlich komme ich dazu, diese Zeitschriftenstapel, die Kisten mit den interessanten Artikeln, den Ausstellungsberichten, dem skurrilen Fund des Tages (zurückdatierend bis 2000irgendwas) mal auszumisten umzuschichten, den großen Stapel in kleinere Stapel zu sortieren, nur um dann alles wieder zu einem großen Stapel zusammenzufassen. Alles soll eins werden und dem Kleinen, dem Alltag, dem Banalen gehört gefällige Beachtung.
In Salzburg gibt es eine alte Villa, die ein begehbares Museum des Krempels ist. Sauber sortiert und beschriftet natürlich. Hundert Jahre Sammelwutlust. Sentimentales Erinnern, das Leben als Archiv, als Zettels Traum. Woher ich das weiß? Ich habe den Artikel aus der Süddeutschen ausgeschnitten und aufgehoben. Boltanski! mag man rufen, aber ich, ich habe alles im Griff.
Denn mit letzter Kraft würde ich natürli

Die Elitevorstellung diente wie der Größenwahn oder die Genietümelei als Putschmittel, und er [Janssen] machte davon denselben Gebrauch wie vom Alkohol. Letzten Endes entscheidet allein das Werk, daß es nicht pure Völlerei gewesen ist, sondern ein unerhörtes, wenn auch blasphemisches Elixier.
(Stefan Blessin. Horst Janssen - Eine Biografie. 1984.)

Dienstag, 17. April 2007
When he can read God directly, the hour
is too precious to be wasted in other
mens' transcripts of their readings.
(Ralph Waldo Emerson. "The American Scholar". 1837.)


Die Welt kann man bekanntlich aus den unterschiedlichsten Perspektiven betrachten. Man kann zögern, zagen, sich Hoffnungen machen. Luftige Höhen erobern oder schmählich zu Boden gehen. Am Ende aber ist einfach manche Blume im April bereits verblüht, greist womöglich das Alter einem mit herbstlichem Griff die letzten Zähne aus dem Mund.
All überall finden sich nun Bruchstücke und Fragmente, wo früher vielleicht mal eines war.
The office of the Blogger is to cheer, to raise, and to guide men by showing them facts amidst appearances. He plies the slow, unhonored, and unpaid task of observation. (Ralph Waldo Emerson, ebd.)

Sonntag, 15. April 2007
Na super. Alle spachteln auf dem Balkon, nur ich, ich muss einsam aufs Wasser starren. Und kein Schiff kommt vorbei. Wenn ich anfange, Gedichte zu schreiben, wißt ihr Bescheid.

Freitag, 13. April 2007
Tambien tu ausencia ha sentido
Porque su luz no ha querido
Mi noche triste alumbrar.
(Pascual Contursi, "Mi Noche Triste". 1917)
Als heute morgen vom Nachbarbalkon leise Tangoklänge herüberwehten, gleich wie der Duft einer recht kleinen Tasse löslichen Kaffees, erinnerte ich mich wieder an die Zeit, damals in Argentinien. Wir lebten, man muß besser sagen, hausten, in einer von Cucarachas bewohnten Bude mit undichtem Dach und wackliger Veranda mitten im schäbigsten Vorort von Buenos Aires. Dort am Río de la Plata war das Leben von ewiger Schwermut und noch schwererer Sehnsucht geprägt. Doch das Elend der kleinen Arbeiter, der überstark geschminkten Straßenhuren, der Trickdiebe und gescheiterten Existenzen, die es aus Europa kommend in unser Viertel angeschwemmt hatte, rührte uns nicht an.
© José Guadalupe Posada
Beim Muchacho!, was waren wir jung! Wir waren verliebt und liebten uns sehr, außer sonntags, da war Kirche. Die Wohnung war klein, der Flur schmal und eng - und eng tanzten wir zu den Klängen des rostigen Aufziehgrammophons, das ich in San Telmo auf dem Marque del Puces erstanden hatte im Tausch für die falschgoldene Uhr meines Großvaters. Fast so sehr wie einander liebten wir die Musik. Abends zogen wir durch die kleinen Pinten in den Barrios, ebenso schlecht beleuchtete wie übel beleumdete Kaschemmen, in denen Touristen ihr Geld und mehr noch ihre Unschuld verloren.
Während ich das Bandoneon spielte, das ich im Unterdeck des Bananenfrachters an den habgierigen Blicken und Fingern der schlechtbezahlten Maate und noch abgebrannteren Auswanderer vorbei über den Ozean geschmuggelt hatte, füllte deine dunkle, volle Stimme die Hinterzimmer der Vinjeras, der von gelben Lampions erhellten Bodegas und Grillstuben. Die Lieder, die wir spielten, handelten vom Tod, von der Liebe und dem Leben der einfachen Leute. War es mein Bandoneonspiel, war es dein Gesang, das die Zuhörer zu Tränen rührte? Vielleicht waren wir beide es, der Duft unserer Liebe, der wie der einer satten Blüte über unseren Köpfen und unseren Herzen schwebte, eine Wolke aus Glück.
Und wie aus Wolken brach auf einmal der Regen los. Es regnete und regnete. Es regnete wohl sieben Jahre lang und danach regnete es einfach weiter. Am Ende war die Feuchtigkeit in die Wände gekrochen, fand sich in den Möbeln, der Kleidung, den Notenblättern. Und irgendwann, nach endlosen Zeiten, so schien es, fand sie sich auch in unserer Liebe. Eine ungesunde, modrige Atmosphäre legte sich um uns, machte deine Stimme fahler und mein Finger klamm. Das Bandoneon setzte Schimmel an, ich traf die Tasten nicht. Die Gelenke schmerzten, und deine Augen suchten immer öfter das flinke Spiel von Marco, der Kunststücke konnte mit seinem Rasiermesser.
Ich sah es wohl, und ahnte viel, ehe ich es wirklich wußte. Es gärte in mir, wenn ich euch die Habanera tanzen sah, in den vielen Pausen, die ich wegen meiner schlimmen Finger immer öfter einlegen mußte. In den Bordellen von La Boca, in denen wir aufspielten, hatte es immer viel Getuschel gegeben. Aber am lautesten traf mich das Tuscheln und Wispern über uns. Über dich und Marco, um genau zu sein. Und genau schaute ich hin. Sah sein schwarzes Haar, das wie dickflüssiger Schiffsdiesel glänzte, sah das gefährliche und lockende Blitzen seines goldenen Schneidezahns und das gefährlichere und darum noch lockendere Blitzen seines Rasiermessers. Er schnitzte damit Figuren aus einer Papierserviette, schnell, elegant und scheinbar ohne viel Aufhebens. Silhouetten von Blumensträußen oder kleine tanzende Pudel, tief dekolletierte, üppige Tänzerinnen und Stadtansichten von Paris, Venedig und Hamburgo. Orte, die er nie gesehen hatte, aber umso blumiger beschreiben konnte. Unecht, wie die papierenen Orchideen, die er mit einer nichtigen Bewegung seines Rasiermessers schnitt und den entzückten Damen ins Haar steckte.
Oh, auch dir. Ich weiß es genau. Auch dir faßte er ins Haar, in den Pausen und unbeobachtet geglaubten Momenten. Immer dann, wenn ich meine klammen Finger an einem feurigen Getränk zu wärmen suchte. Immer dann, wenn du mit einem Teller durch die Reihen gingst, nein schwebtest, um die Almosen der Betrunkenen und der Liebespaare einzusammeln, die unsere Musik gehört hatten. In der vordersten Reihe saß immer Marco, und er ließ mit einem lachenden Blitzen seines goldenen Schneidezahns mit der einen Hand eine Münze auf den Teller fallen, mit einem weithin hörbaren Pling, das lauter war sogar als der Husten, der nach jahrelangem Regen sich bei mir eingestellt hatte, und mit der anderen, bislang verborgenen Hand zauberte er eine frischgeschnittene Orchidee hervor, feingliedriger als die vom oberen Amazonasbecken, dort, wo die bizarreren blühen, die üppigen, selten gesehenen, und steckte sie, immer noch mit diesem blitzendem, goldenen, dreisten Lächeln um den Mund mit einer raschen Bewegung vorne an dein Kleid.
© José Guadalupe Posada
Als die schreckliche Nachricht kam, die entsetzliche, ging ein Klagen und Schluchzen durch das Viertel, hinunter zum Hafen, durch die Tavernen und die rauchigen Salons der Hurenhäuser. Nach einer mondlosen Nacht fand man deinen grausam zugerichteten Körper in einer der vielen dunklen Gassen, einer Caminito im finsteren Teil der Boca. Von Marco keine Spur, nur Blut. Soviel Blut, das manche raunten, es müsse aus zwei Körpern geflossen sein, so sehr hatte es die Ritzen im Pflaster des engen Gässchens getränkt, war zwischen Müll und Unrat geflossen hinein in die gierigen Mäuler räudiger grauer Köter, die im Morgengrauen die Spülsäume der Stadt nach Eßbarem absuchten.
Die Suche nach Marco blieb erfolglos, er blieb wie vom Erdboden verschluckt, ich war nicht überrascht. Die Polizei überreichte mir dein rotes Kleid, zerfetzt und verkrustet von dunklem Blut, ich nahm es, stumm, legte es auf das Bett, unser Bett, und setzte mich auf den abgewetzten alten Schemel, der daneben stand. Die Tränen wollten nicht fließen. Dabei war ich ein Gefangener des schwarzen Schmerzes, ich hörte das Klagen in den Gassen, die Trauer um den Verlust der schönsten Sängerin der Stadt - und doch war mein Herz auf einmal klamm, wie von einem Regen, der seit Jahren in mir fiel. Meine Finger aber waren nach jenem Abend flink geworden. Ich spielte das Bandoneon, huschte über die Tasten, entlockte dem ächzenden Instrument herzzerreissende Töne, unzüchtiges Sehnen und wehmütiges Stöhnen, so daß das ganze Viertel innehielt, still lag und den neuen Liedern lauschte, die so voller Melancholie und Trauer waren. Ich aber wartete auf die Tränen, die nicht kamen, sah auf meine tanzenden Finger und immer wieder hinüber zur Kommode. Dort wo Marcos Messer lag.

Donnerstag, 12. April 2007
Turdus merula, die Schwarzdrossel
Aus der auf der Beliebtheitsskala wie vom Wahnsinn befallenen Reihe Mit toten Tieren durch das Jahr begrüßen wir den Frühling heuer mit der Amsel. Das Männchen zählt mit seinem schwarzen Federkleid bekanntermaßen zu den Gothics unter den Singvögeln, auch wenn sein Gesang dazu manchmal einen Tix zu lebensbejahend daherkommt. Dieses Exemplar nun ist tot, da singt so schnell nichts mehr. Ergriffenere Leser werden es dankbar zur Kenntnis nehmen, daß der rückwärtige Teil des Vogels auf dem Bild fehlt. Der war zum Zeitpunkt der Aufnahme stark durch Fliegenbesuch abgelenkt, wie überhaupt dieses Tier im noch jungen Jahr bereits bessere Tage gesehen haben muß.
Ich vermute, ein Auto kreuzte seine niedrige Flugbahn, ein Thema, das mir aus eigener Anschauung jüngst sehr vertraut ist. Drum warne ich erneut: Flieg nicht zu hoch, mein kleiner Freund. Aber - und das ist neu - auch nicht zu niedrig.
>>> Beachten Sie bitte Iris Schiefersteins Ausstellung in Berlin, bis zum 28. Mai 2007 und in Heilbronn, bis zum 24. Juni 2007.
