Mittwoch, 11. April 2007


Vollbracht

In der Nacht zu Karfreitag ist er gestorben. Als man ihn am nächsten Morgen fand, lag er auf den Badezimmerfliesen, mit merkwürdig verwinkelten Armen, so als sei er schon tot gewesen, ehe sein staksiger Körper den Boden berührte.

Er war 94 Jahre alt und hatte bis zuletzt immer noch ausschließlich mit seinem Besteck aus Aluminium gegessen, das man ihm im Gefangenenlager gegeben hatte. Sein Name stand dort eingraviert. Und "U.S. Army".


 


Montag, 9. April 2007


...und niemand hört den Schrei der Igel



Im Feuer vergehn, im Krachen der Äste neue Glut, Brandgeruch in der Luft: Nach dem Abendmahl der Zwölf, bleibt nur noch, die Versammlung der Honighasen zu feiern. Wir blenden aus: gewaltbereite Menschen im Nahverkehr, keilende Rammlerbanden in der U3, hysterische Kreischtussen auf schwankenden Kähnen (bitte Hormone und Alkohol immer gut regulieren), kurz: den Mensch in der Masse (schlag nach bei Riesman) als lämmergleiche Blökherde, laut und die Mitkreatur gefährdend.

Ach seien sie doch nur wie das Rhönschaf, das unter den Wollieferanten als widerstandsfähig gilt. Wir wollen es loben. Zu Späßen bereit, aber nicht blöde, bleibt es unanfällig für die Moderhinke und lammt ohne zagen. Kurz, es sei, so der Züchter, "lustig und lecker".


 


Freitag, 6. April 2007


Alegria vs. Dolorosa

Sie werden sehen auf den,
in welchen sie gestochen haben.

(Joh. 19.37)



Dieses Jahr muß ich der Prozession fernbleiben, meine einsamen Versuche, "auf die Schnelle" hier in Hamburg etwas ähnliches umzusetzen, gab ich wegen mangelnder Resonanz und verbreitetem Heidentum oder Protestantismus (was ja das gleiche ist) auf. Die paar, die bereit waren, mir mit Hammer und Nagel zur Seite zu stehen, schienen mir zu wenig von der Sache und zu sehr von ureigenen Motiven beseelt.

Bleibt auf die bewährte spirituelle Achse Hamburg - Rheinland - Südtirol zu hoffen, die heute abend neue liturgische Grenzen abstecken und dem Ende der Karwoche eine symbolische Türe öffnen wird.

Dann heißt es Schluß mit Dolorosa, herein mit Algría - gerne auch in der Langversion:

>>> Die hl. Jungfrau der Freuden von Almatosa (via Youtube)


And now for something completely different: Wem das höchste Fest im christlichen Kalender ein Ei wie das andere ist, der mag sich mit etwas ganz anderem beschäftigem. Die Webseite des amerikanischen Fotografen Leslie Krims benutzt zwar genau die Sachen, die ich gerne kritisiere (Flash, Musik), das aber auf eine Weise, daß man sagen kann - gut, so geht es auch. (Die Musik ist schon klasse, die Navigation per Flash-Galerie nach wie vor pain in the ass darmkrampfig.)

Großartige Bilder zwischen ironischer Dokumentation amerikanischen Alltagslebens und ~mythen und surreal angehauchten Inszenierungen mit höhrem Wahrheitsgehalt. Bei allem Bösen, Makabren und Häßlichem, das Krims entdeckt, überwiegt in seiner Präsentation der Witz - und das sei ja ein Jakobsweg zur Alegría.


 


Mittwoch, 4. April 2007


He was a son of a gun

23 seconds,
All things we love will die.

(Blonde Redhead, "23")

Das muß berichtet werden. Am 23. April erscheint in Europa das langersehnte neue Album von Blonde Redhead, eine der letzten großen 4AD-Bands, die mit einer berückenden Mischung aus Curve, Sonic Youth und Cocteau Twins Musik wie ein Rasierklinge machen, die gerade einen Unterarm streichelt. Jeder muß das kaufen. Denn ich bin gerade auf die Vorabsingle "23" gestoßen und fühle mich völlig hypnotisiert, weil es klingt, als seien die Tränen des wunderschönen Mädchens aus dem Bus zu einem herzförmigen Klumpen Vinyl gefroren - aus dem man nun Klänge entlockt, die selbst rostige Männer zum Schmelzen bringen.

Am besten, jeder kauft gleich zwei Alben und verschenkt ein Exemplar an einen völlig Fremden. Vielleicht heimlich, im Bus, mit einer kleinen Notiz daran:

Nur für dich.

>>> Webseite zum Album 23.
>>> MySpace-Seite von Blonde Redhead mit dem Stream des kompletten Albums, insbesondere der Single "23".

Tourdaten:
23. Juni Heidelberg, Karlstorbahnhof
24. Juni München, Feierwerk
25. Juni Berlin, Postbahnhof (!!!)
28. Juni Köln, Gebäude 9

Radau | von kid37 um 02:00h | 16 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Dienstag, 3. April 2007


Ein blaues Band vor den Augen

It's a very, very mad world.
(Tears for Fears, "Mad World". 1982.)

Anna Blume, von hinten wie von vorn.Heute morgen im Bus saß dort eine überirdisch schöne Frau und las ein Buch. Eine Frau, wie man sie sich wünscht dereinst am Ende der Tage, wie sie einen führt, barfuß und nur mit einem weißen Hemd bekleidet, bis zur Schwefeltür.

Vor zwanzig Jahren In einem François-Truffaut-Film wäre ich einfach sitzengeblieben, hätte zugesehen, wie sie ihr Buch liest und wäre weitergefahren bis zur letzten Haltestelle.

Ich wäre mit ihr ausgestiegen, hätte ihr anerboten, ihre Tasche zu tragen, in die ich vorher mein kleines Leben gesteckt hätte. Hätte mich in Gene Kelly verwandelt, hätte Geiger orchestriert, wäre um Laternenpfähle getanzt, ihre Tasche zart im Arm, während sie nichts getan hätte. Nur gelächelt.

Sie hätte noch zarter "Danke" gehaucht, mir einen tiefen Blick geschenkt aus unendlich blauen Augen und wäre die Stiege zur ihrer Dachwohnung hochgeschwebt - allein. Ich wäre verliebt auf dem Trottoir verblieben, während sie oben in ihr Blog geschrieben hätte:

Heute einem alten Mann im Bus begegnet, der mich die ganze Zeit angestarrt hat. Ich habe so getan als würde ich mich auf mein Buch konzentrieren, aber mich hat das total genervt. Am Ende stieg der sogar noch gemeinsam mit mir aus und wollte partout meine Tasche tragen. Super peinlich. Aber nichts gegen das Gesumme und Getanze, das er dann danach anfing. Ich hätte im Boden versinken können! Zum Glück wurde ich ihn vor der Haustür los. Aber ich glaube, der wartet noch immer auf dem Gehsteig, der alte Stelzbock.

Aber nichts von alledem ist passiert. Ich habe nur kurz geschaut und gestaunt über die Schönheit der Natur, den Frühling, die Vielfalt und das Leben. Und bin dann zum bleiernen Tor der Fabrik hinein - allein - habe mir den grauen Arbeitskittel umgebunden, die Stempeluhr gedrückt und den ganzen Tag nichts als mein Werk getan.


 


Montag, 2. April 2007


Ach, Lenore

Ah, broken is the golden bowl!
The spirit flown forever!

(Edgar A. Poe, "Lenore". 1831.)

Nicht weinen, nicht klagen, ein Totentänzchen wagen. Manchmal denk ich, mir sei die Welt entrückt. Eine Blume im Tee, ein regloses Tier im Gebüsch und innendrin nur das Herz, das sachte schlägt. Ich schaue dann gerne bei Angeliska vorbei, betrachte die betörenden Fotos von Picknicks und Partys, aber auch den verwunschenen und geschundenen von New Orleans, den zerstörten Häusern, diesem Holzboden, der sich vor Nässe in Wellen verzogen hat. Auch darin liegt eine besondere Kraft. Das Groteske, das wild Zusammengenähte, ein zurechtgedengeltes Leben aus Nägeln, Scherben und Kapuzinerkresse.

Aus tausend Schnitten eine Bewegung. YunYus Video zeigt, wie man Menschen mit Stop-Motion aus 16.000 Einzelbildern in Bewegung bringt. Ganz wunderbar: Lenore's Song

(via Youtube)


 


Montag, 2. April 2007


Do the Hoppek-Hop

Doch die Kunst lebt nur besonnt,
Läßt sich nicht beriechen,
Und sie zeigt die Hinterfront
Dem Melangeniechen.

(Klabund, "Ad notam". 1927.)

"I won't fuck with you tonight" - Boris Hoppek

Jetzt geht es los(t), Kirschbäume bestäuben, denn der Frühling ist da. Wem die Hamburger Sonne nicht schon des Tags das Blaue vom Himmel ins Hirn brennt, der geht nach Sonnenuntergang ins Land der fransigen Latexscham, wie ich das nennen möchte. Ein hinreißender Abend, auch wenn der unverschämt schwarzhaarige Südtiroler monierte, ich redete zuviel und tränke (deshalb) zu wenig Bier. Vielleicht liegt es auch am ganz Umgekehrten: Weil ich so wenig Bier trinke, leidet die Atrilukationsfähigkeit auch nicht (so).

Die Hälfte vom Pils schäumte sowieso beim Hoppek über. Street-art mit obszönen Motiven, bißchen groß, bißchen flächig alles, Keith Haring trifft Paul Frank, wenn man jetzt mal einen großzügigen Bogen malen will. Die Fotos erinnerten ein wenig an Greg Friedlers Serie Mattress (nicht sicher für die Arbeit). Sinnfällig auch der umgebaute Eingang: Um die Galerie betreten zu können, muß man nämlich erst durch ein rundes Loch in eine dunkle Kiste steigen, auf deren anderer Seite ein schmaler Schlitz ins Freie führt. Will man die Galerie wieder verlassen, geht der Weg natürlich umgekehrt. Wir sind halt alle Ausgeschiedene der Kunst. (Hier müßte man noch schnell, handgemalt in Öl, nur 199,- Euro, Courbets Vom Ursprung der Welt reinbasteln, aber, mein Gott, das wißt ihr ja alles selbst.)

(Boris Hoppek, "I won't fuck with you tonight". Bis zum 25.5. im Helium Cowboy Artspace, Hamburg.)