
Mittwoch, 6. Dezember 2006
Kennen viele natürlich schon, aber hier gibt es eine Menge Bilder zu sehen von Patti Smith aus der Robert-Mapplethorpe-Sammlung der Alison Jacques Galerie, London. Sind diese Träume eigentlich noch da? Zwei, drei Seiten Poesie, eine elektrische Gitarre, ein Supersonic Sound? Das Nackte, das Entblößte, die Suche nach drei, sieben Sternen oder gleich einem ganzen Himmel. Ask The Angels.

Montag, 4. Dezember 2006
Nachdem ich Sonntagmittagmorgen aus einem Traum erwachte, aus dem eher nebelhaft hervorging, ich hätte im Laufe der Nacht aus wohl spontanen, hier nicht näher zu erläuternden Gründen PJ Harvey geheiratet, verbrachte ich einen guten Teil des Tages damit, mich auf dem Angebot von Youtube mit den Liedern meiner future former Ex-Wife zu beschäftigen. Dabei fiel mir wieder auf, daß Polly Jean eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Ex-Freundin von mir hat, wenn man das so sagen darf. Auch schon wieder 20, 15 Jahre her. Und dann dachte ich, hui, was wenn ich vielleicht schon 20 oder 15 Jahre verheiratet wäre - oder geschieden, nach Lage der Dinge?
Zum Glück lebe ich nicht in der Vergangenheit. Man müßte mich ja mit dem Hubschrauber dort rausholen, verminte Krisengebiete, Bataillone der blutenden Herzen, keuchend am Rotkreuzschwesterarm. Nein, ich bin ein Mann der Zukunft, bei der - so las ich neulich als Beschreibung zu einem Link auf das Hermetische Café - glücklicherweise immer nur ein Tag auf einmal dem anderen folgt. Das wäre sonst aber auch gar nicht anders... Jedenfalls, folgen Sie mir bitte unauffällig, sind solche Träume in ihrer sprunghaften Gleichzeitigkeit von heute und morgen und was geht mich gestern überhaupt an ganz schön verworren.
Ich gab Polly Jean also ein Butterbrot (extra dick geschnitten) und sah mit Vergnügen, daß es ihr heutzutage viel besser geht als in diesen kaputten anderen Tagen. Das könnte man über mich auch sagen, nahm ich dann als Botschaft aus diesem Traum mit. Zum Beispiel wiege ich bald 15, 20 Kilo mehr als noch vor 20, 15 Jahren. Was mich irgendwie gemütlicher ruhiger hat werden lassen.
Vielleicht braucht man es auch nicht, dieses impulsverstärkte Leben. Die Sehnsucht nach den fernen Gestaden und die Aufregung und Abenteuer, Mast- und Schotbrüche auf den Reisen dorthin. Vielleicht liegt dieses Unendliche doch eher im Möglichen. Man muß ja nicht gleich einen Jägerzaun darum bauen. Vielleicht reicht es, wie in diesem anderen Film, ein paar blaue Flaschen in einen Baum zu hängen. Und, wie Polly singt, den bitteren, kleinen Vögeln beim Fliegen zuzuschauen.

Samstag, 2. Dezember 2006
Hier noch schnell ein TV-Tip für Daheimgebliebene. Um 21.15 Uhr zeigt der Bayrische Rundfunk (also werbefrei!) Otto Premingers Bonjour Tristesse, nach dem Roman von Françoise Sagan.
Top besetzt (Jean Seberg, Deborah Kerr, David Niven, Juliette Gréco), mit Schwächen natürlich auch, aber dafür mit genialem Kniff toll fotografiert: je mehr die Handlung ins Düstere sinkt, desto farbenfroher wird das Bild. (Und die Côte d'Azur als Kulisse schadet überhaupt nicht!)
Natürlich ist das allergemeinstes Teenager-Melodram: Eine fiese Göre, oberflächlich wie eine neonbeleuchtete Pfütze auf den verregneten Pariser Straßen, spinnt eine finstere Intrige mit tödlichem Ausgang. Ein teuflisches Rotzblag wie sonst nur Holly Golightly, ein Schmetterling, so böse und hohl, daß man schon deshalb weinen möchte.
Taschentücher - das gehört sich für ein echtes Melodram - sollten also bereitliegen, wenn die frivole Sonne im Süden Frankreichs von Melancholie verdeckt wird.
(Bonjour Tristesse. GB 1958. Regie: Otto Preminger)

Hier bin ich fasziniert. Eine wunderhübsch makabre Sammlung obszön-ekliger Spielgefährten, die ich sofort besitzen möchte. Mumifizierte Puppen, die findet jetzt nicht jeder schön, aber so ist die Welt wahrscheinlich in den ungenügend beleuchteten Hinterhöfen der Putzli-Glitzli-Manufakturen. Hat sich denn nie jemand gefragt, was mit all den mißgestalteten Puppen wird, denen, die mit zwei Köpfen das Licht der Plüschfabrik erblicken? Keiner fragt es, keiner weiß es, aber diese Puppen jedenfalls, nun, sie sind tot.

Freitag, 1. Dezember 2006
Derzeit ist in der Hamburger Kunsthalle die Sammlung des Schweizers Uli Sigg (steht der eigentlich mit dem Flaschenhersteller in Verbindung?) zu sehen: Chinesische Kunst der Gegenwart, verteilt über alle drei (bzw. vier) Etagen des Kubus der Moderne. Ich gebe zu, ich war zuerst skeptisch, ob mich sattgesehene Propagandakunst und verkopfte Dissidentenkritik vom Hocker hauen könnte. Zudem blockieren derzeit Horden von Museumstouristen und Rentnerbussen, die wegen Caspar David Friedrich im Klassikflügel angereist kommen, die Zugangswege. Aber neulich schlüpfte ich dann schnell "unter Tage" hinein und muß sagen, ich habe keine Minute bereut.
Es geht gleich gut los mit dem oben gezeigten Schreibtisch von Shin Irgendwas[1] (die ganzen Xangs und Wangs konnte ich mir unmöglich merken, meine chinesischen Leser mögen mir Banausen verzeihen, aber das ist alles Müller und Schmidt für mich). Klinisch, brutal und unglaublich schön. So stelle ich mir meinen Arbeitsplatz vor, es dürfte noch ein wenig Rost dran sein. Gemeinsam mit der überaus interessierten Saalwächterin untersuchte ich Details des Werkes, wurde auf Schrauben und Dornen hingewiesen, die meinem Blick zuvor verborgen geblieben waren. Von der Flachbildschirmguillotine über den Eiserne-Jungfrau-Stuhl (oder doch Akupunktur?) bis zu den Fingerschrauben in der Tastatur - ein durchdachtes Stück moderner Arbeitsverhältnisse.
In diesem Stil geht es weiter: Porträts, die an Otto Dix erinnern, süffisante Kommentare zum Mao-Kult - es wundert nicht, daß die meisten Künstler im Exil leben. Überrascht war ich über viele scheinbar weniger politische Arbeiten, solche, die körperliche Transgressionen und Sexualität in den Vordergrund stellten. Aus westlich zentriertem Blickwinkel vermutete man wohl, daß da welche ihre "Hausaufgaben" gemacht haben - die zahlreichen "Kopien" und Parodien von und auf westliche Kunstklassiker sprechen da auch eine beredte Sprache. Authentischer wirken für den westlichen Betrachter sowieso die bedrückenden Auseinandersetzungen mit den Mythen der Antike und der chinesischen Alltagskultur. Individuum versus Masse, die Folgen der sozialen Gleichschaltung und der Ein-Kind-Politik schließen auf eine gewisse spiegelbildliche Art wieder an die Werke zu Beginn der Ausstellung an: optimistisch strahlende Propagandagemälde, Helden der Arbeit und des Volkes, die mit ihrem sozialen Idyll und der naiven Gestaltung für den heutigen Betrachter voller Ironie stecken - wären sie nicht so brutal ernst gemeint.
Ganz unten im Kellergeschoß bitte eine tolle Videoinstallation nicht verpassen. Dort wird - in einer sehr nüchterner Reprise von George Franjus ungemein poetischem Film Le Sang des Bêtes ("Das Blut der Tiere", 1949) - die Produktion eines gängigen billigen Lederetuis gezeigt. Vom Schlachten der Kühe bis zur industriellen Weiterverarbeitung des Leders. Bitte Platz und Anteil nehmen.
(Mahjong noch bis zum 18. Februar 2007 in der Hamburger Kunsthalle)

Mittwoch, 29. November 2006
Gehirn verbrannte, und in dem Dunst
der glühenden Düfte des Todes, hörte
er unter dem Grabstein, auf den er
sich gesetzt hatte, eine Stimme flüstern.
(Charles Baudelaire,
"Der Schießstand und der Friedhof". 1869.)

November ist der Monat der Toten. An nassgrauen Sonntagen schiebt man sich tiefer in die Mäntel, schlurft hinaus vor die Stadt auf die Friedhöfe, ehrt Seelen, Heilige und Kriegerwitwen. Aber in diesem so außerordentlich gefugten Jahr mit Sommermärchen und vergoldeten Herbsttagen ist selbst dieser schwermütig-besinnliche Gang noch lichterleicht. Mir jedenfalls fällt gleich einer der schönsten Friedhöfe ein im sonnendurchfluteten Lissabon: der Cemitério dos Prazeres, der "Friedhof der freudenreichen Mutter Gottes".
Einen solchen Ort sollte man naturgemäß nur mit einem blonden Engel an der Seite begehen. Der muß gar nicht singen, weder Stiefel noch Zylinder tragen. Der Reiz der Kontraste könnte dennoch kaum größer sein, wenn glitzerndes Lachen und keckes Locken zwischen den Grabmalen blitzen. Denn dies ist kein Ort für düstere Ophelias. Der Friedhof war nach seiner Gründung 1833 tatsächlich ein beliebtes Ziel für Ausflüge und Picknicks, ehe dies von einer entnervten Stadtverwaltung untersagt wurde. Der Name ist geblieben, "Friedhof der Freuden", die eindrucksvollen Grabstätten auch. Zwischen schneeweißen Mausoleen und imposanten Familiengrüften wandert man durch die Nekropole, schlendert und stöbert in sengender Hitze, staunt über Namen und Daten und fragt sein eigenes Ende nicht.
Einen Friedhof darf man nicht fürchten, denn hier kann niemand verloren gehen. Die Namen werden einem zusehends vertrauter, erschlaffte Blumen winken, dort hinten der Weg scheint nur für dich. Manche Grabstätten stehen offen, das ausgeblichene Holz der Särge strahlt einen Rest von Wärme in den kühlen Grüften aus. Sollte man den Ausgang verpassen, bleibt man wohl einfach da. Ein blonder Schatten, ein rotes Hemd ziehen einen weiter, in die nächste der über 73 Alleen der Toten. Amália Rodrigues, die berühmte Fado-Sängerin lag hier begraben. Fernando Pessoa ebenso, kein schlechter Nachbar wäre das, zum Debattieren, Kartenlegen und auch sonstwie gepflegt einen anhängen. Doch 1985 wurden seine Gebeine nach Belém verfrachtet. Ein Platz ist also frei.
Manch einer hat sich lange schon gefragt, was die Friedhöfe vor allem im Süden Europas so pittoresk macht. Ist es der Katholizismus, die Volksfrömmigkeit in diesen Ländern? Ihr Romantiker! Schon mal überlegt, warum immer nur in klassischen Urlaubsländern diese opulenten Grabanlagen anzutreffen sind? Und Hotelanlagen in Plattenbauweise gleich dazu? Die Menschen im Süden wissen eben, was der Tourist aus Tristlande sucht. Und so wie die Iren im Sommer ihre halbverhungerten Esel auf die Wiesen treiben, um den Reisenden ein Bild zu liefern, so errichtet man im Süden seine letzten Ruhestätten. Herr Kid deckt auf:
In einem kleinen Ort an der Küste im Norden Portugals werden die malerischen Mausoleen in simpler Fertigbauweise vorfabriziert. Fleißige Hände in kleinen Familienbetrieben sind damit beschäftigt, den weißen Marmor mit Algen und Eisenspänen auf alt und angerottet zu trimmen - dann gehen die Platten ab auf die Friedhöfe der Touristenregionen und werden dort schnell zu imposanten Sepuchralbauwerken zusammengesetzt:
Vielleicht nimmt man Platz, ermattet vom Schlendern und der Hitze. Vielleicht sucht man in Ruhe die Zwiesprache, die Aussprache, weil man soviele Fragen noch hat. Weil man selber nicht weiß, wohin die Wege noch führen, weil man Bilanz ziehen will. Weil man sagen will, ich bedaure, ich will nicht, ich will aber, ich möchte nie wieder oder doch noch einmal.
Gazing at you through Scorpion eyes: das Bittere, das Süße - die unbeschwerten Tage sind nun weit entfernt. I wear my memories like a shroud, singen die Todesfeen wie von fern. I wander through your sadness, oder wanderst du durch meine? Wie kalt es plötzlich ist, wenn man merkt, daß die Zeit immer nur nach vorne eilt - und nur die Toten bleiben. Immer gehen, vorwärtsgehen, weitergehen, stolpern, über Baustellen, über Friedhöfe, als Sieger, als Besiegter. Das Bittere, das Süße. Am Ende ein Geschenk: dieser Schmerz heißt Misery.
Ein wenig wirr von der Hitze, der flirrenden Luft schleicht man davon. Den Duft der Bäume in der Nase, das Wispern der Toten im Ohr, das Raunen der Stille zwischen den Gräbern. Fass einen Engel an der Hand, wenn du kannst, und flüstere ein leises Auf Wiedersehen.

Dienstag, 28. November 2006
Ich habe neulich von den beiden konkurrierenden Literaturportalen gelesen, die derzeit im Netz etabliert werden. Das eine ist wohl auf Berlin zentriert, das andere wird vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach betrieben. Die haben dort auch eine Reihe Blogs verlinkt und sehr gute Empfehlungen darunter. Das unterstütze ich sofort. Wo aber sind Suna, Herr Fabe, Mequito und... und... und...?

Montag, 27. November 2006
Wenn es nebelt und näßt.
(Fehlfarben, "Der Fremde")

Ausgehen. Ausschalten. Die Füße durch nasses Laub schieben. Den Atem anhalten. Auf den Puls hören. Mit regennassem Gesicht an welke Träume denken. Wie damals, zu Gast im Club der schönen Mütter. An der Tafel kein Gedeck, an der Tafel waren alle Verbindlichkeiten längst schon aufgehoben. Auf dem Katzentisch lag eine allerletzte Nachricht: Der Termin war gestern. Oder morgen. Oder morgen, wiederholte ich stumm. Ein Blick zurück, ein Blick nach vorn. Was braucht man, einen Kompass vielleicht. Meine Hand griff ins Leere, streifte achtlos die silberne Messerbank.
Im Herbst ist die Richtung viel klarer. Ein Blatt fällt zu Boden, viel später ein zweites. Im Wald warten keine saftigen Gräser. Nur Fehlfarben, klamme Zweige, tropfende Äste. Sie peitschen dir das Gesicht, wenn du läufst. Ich steige aus, rufe ich, und sinke auf die feuchte Erde. Ich steige hinein, meine Finger bohren sich tiefer in den fauligen Grund. Früher da war mir, ich dachte, es schien mir so einfach, alles zu zünden. Das trockene Gras des Sommers, flirrende Hitze. Da dreschen doch alle bloß staubiges Stroh.
Im Herbst aber bremsen Husten und Regen die mutigsten Taten. Was fängt man an im zugigen Haus? Man kauert sich nackter an die eiskalte Heizung. Dichter gepreßt an die rostigen Rippen, denkt, so, jetzt aber Schluß hier, und wünscht keine Ernte. Läßt sich schütteln vom Fieber, sich vom Sturm dann verwehen.
Ja. So müßte das sein - ABER NICHT SO EIN LAUWARMES WISCHIWASCHI!
18 Grad! Könnte mal bitteschön einer die Erdachse in die richtige Position zurückschieben? Danke.
