Mahjong

© Sammlung Sigg

Derzeit ist in der Hamburger Kunsthalle die Sammlung des Schweizers Uli Sigg (steht der eigentlich mit dem Flaschenhersteller in Verbindung?) zu sehen: Chinesische Kunst der Gegenwart, verteilt über alle drei (bzw. vier) Etagen des Kubus der Moderne. Ich gebe zu, ich war zuerst skeptisch, ob mich sattgesehene Propagandakunst und verkopfte Dissidentenkritik vom Hocker hauen könnte. Zudem blockieren derzeit Horden von Museumstouristen und Rentnerbussen, die wegen Caspar David Friedrich im Klassikflügel angereist kommen, die Zugangswege. Aber neulich schlüpfte ich dann schnell "unter Tage" hinein und muß sagen, ich habe keine Minute bereut.

© Sammlung Sigg

Es geht gleich gut los mit dem oben gezeigten Schreibtisch von Shin Irgendwas[1] (die ganzen Xangs und Wangs konnte ich mir unmöglich merken, meine chinesischen Leser mögen mir Banausen verzeihen, aber das ist alles Müller und Schmidt für mich). Klinisch, brutal und unglaublich schön. So stelle ich mir meinen Arbeitsplatz vor, es dürfte noch ein wenig Rost dran sein. Gemeinsam mit der überaus interessierten Saalwächterin untersuchte ich Details des Werkes, wurde auf Schrauben und Dornen hingewiesen, die meinem Blick zuvor verborgen geblieben waren. Von der Flachbildschirmguillotine über den Eiserne-Jungfrau-Stuhl (oder doch Akupunktur?) bis zu den Fingerschrauben in der Tastatur - ein durchdachtes Stück moderner Arbeitsverhältnisse.

© Sammlung Sigg

In diesem Stil geht es weiter: Porträts, die an Otto Dix erinnern, süffisante Kommentare zum Mao-Kult - es wundert nicht, daß die meisten Künstler im Exil leben. Überrascht war ich über viele scheinbar weniger politische Arbeiten, solche, die körperliche Transgressionen und Sexualität in den Vordergrund stellten. Aus westlich zentriertem Blickwinkel vermutete man wohl, daß da welche ihre "Hausaufgaben" gemacht haben - die zahlreichen "Kopien" und Parodien von und auf westliche Kunstklassiker sprechen da auch eine beredte Sprache. Authentischer wirken für den westlichen Betrachter sowieso die bedrückenden Auseinandersetzungen mit den Mythen der Antike und der chinesischen Alltagskultur. Individuum versus Masse, die Folgen der sozialen Gleichschaltung und der Ein-Kind-Politik schließen auf eine gewisse spiegelbildliche Art wieder an die Werke zu Beginn der Ausstellung an: optimistisch strahlende Propagandagemälde, Helden der Arbeit und des Volkes, die mit ihrem sozialen Idyll und der naiven Gestaltung für den heutigen Betrachter voller Ironie stecken - wären sie nicht so brutal ernst gemeint.

© Sammlung Sigg

Ganz unten im Kellergeschoß bitte eine tolle Videoinstallation nicht verpassen. Dort wird - in einer sehr nüchterner Reprise von George Franjus ungemein poetischem Film Le Sang des Bêtes ("Das Blut der Tiere", 1949) - die Produktion eines gängigen billigen Lederetuis gezeigt. Vom Schlachten der Kühe bis zur industriellen Weiterverarbeitung des Leders. Bitte Platz und Anteil nehmen.

(Mahjong noch bis zum 18. Februar 2007 in der Hamburger Kunsthalle)

Flanieren | 23:21h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
nebelherz - Sonntag, 3. Dezember 2006, 23:53
großartig!
danke! das hätte ich vermutlich verpasst am nächsten wochenende oder in der zeit um weihnachten...

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kid37 - Montag, 4. Dezember 2006, 12:13
Ja, bitte machen sie das. Notieren Sie doch bitte den Namen des Schreibtisch-Künstlers, dann trage ich den nach. Ich wollte den Katalog nicht kaufen, weil da wie so oft die besten Sachen nicht drin sind.

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ana - Dienstag, 5. Dezember 2006, 16:43
Der Schreibtisch-Künstler heißt nicht Shin, sondern so ähnlich, Shi Jinsong, geboren 1969, und er verdient wirklich die volle Erwähnung seines Namens. Außer der hier gezeigten Installation "Office Equipment Prototyp No. 1", gibt es im Internet noch "Baby Chair" von ihm zu sehen.

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kid37 - Dienstag, 5. Dezember 2006, 21:28
Ah, super, vielen Dank! Ich hatte es auf die Schnelle nicht gefunden. Wer Gelegenheit hat, sollte ich die Installation nicht entgehen lassen und auf die vielen perfiden Details achten. Die Saalwächterin und ich hatten eine Menge Spaß, da einiges zu entdecken. Ganz groß.

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suzanne - Dienstag, 12. Dezember 2006, 19:38
Komisch...
Ich wusste ja gar nicht, dass Sigg mit der Ausstellung um die Welt tourt?! Ich hab sie in Bern vor etwa nem Jahre oder so gesehen. Es gab da einen riiiiiesen Skandal wegen den Embryo-Vogel-Skulpturen von Herrn DingsBums und die SVP hat gegen die Stadt Bern geklagt. Naja.. mir haben vorallem die Eierdingchen von Shen Shaomin gefallen, der schon mal in Luzern seine kurligen (sagen Sie das in Germanien überhaupt?) Knochleimtierchen präsentiert hat.

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kid37 - Dienstag, 12. Dezember 2006, 20:53
Ach, die Fotos kannte ich, habe aber gar nicht eins und eins zusammengezählt. In Hamburg ist man ja an Harrys Hafenbasar gewöhnt, vielleicht reichte es deshalb nicht zum Skandal.
"Kurlige" (das Wort kennt man hier, glaube ich, nicht) Tierchen gab es auch, in einer Vitrine präsentiert:

© Shen Shaomin, Sammlung Sigg

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suzanne - Donnerstag, 14. Dezember 2006, 15:35
Ja, beim Harry war ich auch schon mal, als grad die Ladenkatze an einem Schrumpfkopf knabberte. Obwohl Vegetarierin ertappte ich mich bei dem Gedanken: "Naja, schmeckt wohl bestimmt ein wenig wie geräucherte Salami". Das mit dem "kurlig" ist schade; aber ihr kennt ja auch nicht einmal "grusig".

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nebelherz - Mittwoch, 21. März 2007, 16:47
besser spät als nie..
im allerletzten moment war ich dann übrigens doch noch da, problem war aber: viel zu wenig zeit (2einhalb stunden) und viel zu voll. und wegen der fehlenden zeit habe ich das ganze dann ohne audioguide angeschaut und natürlich das meiste nicht verstanden, wegen fehlenden wissens.
trotzdem teilweise beeindruckend. zb das, was hier als bild gepostet ist, aber auch diese fast monochromen landschaftsmalereibeeinflussten sachen. und manches mehr.
also nochmal vielen dank für den tipp!
(am selben tag übrigens auch die "gute aussichten" foto-ausstellung in den deichtorhallen. auch etwa zwei stunden, was dafür genau richtig war. diese wunderbaren dunklen natur- und tierbilder!)

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kid37 - Mittwoch, 21. März 2007, 17:54
Sehr schön, freut mich, daß ich Sie nicht auf eine falsche Fährte gelockt habe.

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