Freitag, 9. Juni 2006


Zu Gast bei Fremdsprachlern



Heute beginnt ja dieses Sportereignis, dessen Namen ich nicht besser umschreiben kann, aus Angst, auch dieser könne bereits durch die FIFA als Warenzeichen geschützt worden sein. Nachdem ich hörte, selbst "Hamburg" in Kombination mit der Zahl dieses Jahres sei registriert worden, bin ich nun dabei, mir die Begriffe "Abi 2007" bis "Abi 2037" schützen zu lassen. Die Lizenzgelder, die mir junge Golf- und Opelfahrer fortan zahlen müssen, werden mir hoffentlich einen angenehmen Lebensabend in gemäßigten Klimazonen bescheren.

Es geht also los, und die zahlreichen Gäste, die nun in die Stadt strömen, könnten morgen alle schon perfekt Deutsch sprechen, wenn sie willens und einigermaßen liquide sind. Ob sich der Wortschatz über das hinaus erstreckt, was ich meinen Lesern bereits vor einiger Zeit an Fußballwissen auftrug, entzieht sich allerdings meiner Regelkenntnis. Im Abseits werden die breitbrustigen Schweden und zierlichen Schottinnen in dieser freundlichen Stadt sicher so oder so nicht stehen.

Mein Favorit? Nun, ich denke, wenn Deutschland die Todesgruppe der Vorrunde überstehen sollte, nun, dann ist alles möglich, dann sind die Tore plötzlich weit offen. Nicht das deutsche, hoffen wir mal. Schon allein wegen der Binnenkonjunktur, so ein Ereignis muß sich ja schließlich rechnen. Apropos: Jens Weinreich, Sportchef der Berliner Zeitung und Träger des "Wächterpreises der Tagespresse", sagt: "Die WM-Macher behaupten, diese WM sei das größte privat organisierte Sportereignis seit Menschengedenken. Das ist eine faustdicke Lüge. Nach unseren Erhebungen wurden sechseinhalb Milliarden Euro aus verschiedenen öffentlichen Töpfen für die Finanzierung dieser WM investiert." (M, 6/2006)

Dann also Prost und have a ball!


 



Verdammt, Herr Kid hat gute Laune

Waking up from bad dreams
And smoking cigarettes
Cuddling a warm girl and smelling stale perfume
A hot summers day and sticky black tarmac
Feeding ducks in the park and wishing you were far away

(The Jam, "That's Entertainment")

Erst neue Schuhe, dann 900 Tage Mitteilungsbedürfnis, und dann schickt Herr Pappnase mich noch auf eine Reise in die Vergangenheit. Jetzt muß ich mich die ganze Nacht durch diese Videos wühlen und das Rauschen der kreuz- und querschießenden Anekdoten verkraften. Angeblich verzog ein Lächeln mein Gesicht. Wehe, es beobachtet mich wer dabei!

(Alle Videos via Youtube)

Radau | von kid37 um 02:07h | 29 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Donnerstag, 8. Juni 2006


Bitte beachten Sie meine neuen Schuhe

Es verhielt sich nämlich so, daß ich neue Schuhe brauchte. Ein Graus, ein Schrei: Ich hab' nichts anzuziehen! Und Sally sagte zu mir, "Jack". Jack sagt sie zu mir, wenn sie nicht gerade Mr. Skellington sagt, was sie aber nur sagt, wenn sie mich ermahnen will. Also sagte sie, Jack, ich nähe dir ein Paar, kein Problem, laß mich nur an meine Nähmaschine eilen. (Wo sind eigentlich meine Hosen?)

Und so erhielt ich linken Schuh und rechten Schuh (unterschiedlich, wie es sich für liebevolle Handarbeit gehört), trés chic, und zufrieden bin ich auch. Eigentlich ist Sticheln ja mein Hobby, aber so reizvoll hätte ich es selbst nicht hinbekommen. Das ist kein Flickwerk, das ist Schusterkunst. Damit werde ich bestimmt wieder auf der Straße angesprochen könnte ich glatt in diesem Film von Sally Burton mitwirken. Schuhe voller Narben. Ganz wie das Leben selbst.


 


Dienstag, 6. Juni 2006


... und gebar ein Klötzchen

Hier treff' ich dich
und den Rest der Szene.
Urcool diese Location,
quasi im öffentlichen Raum.

(Otto Europa, "Knietief im Zitronengras")

Als ich am Samstag das erste Mal im neuen Berliner Hauptbahnhof einlief, habe ich fast geheult. Einige werden jetzt sagen, Herr Kid, fast geheult, das ist doch aber nichts Neues, der heult und jammert doch ständig. Aber erstens stimmt das in letzter Zeit gar nicht mehr so, und zweitens war der Anlaß ernst. Denn der Berliner Hauptbahnhof ist schlichtweg eine Katastrophe.

Wo jeder Reeder in Hamburg seine großen Schiffe stolz an den Kais präsentiert, versteckt Die Bahn AG i.G. ihre Flotte verschämt im Tiefgeschoss. So wie saturierte Vorstädter, denen plötzlich einfällt, Ach ja, ein Fahrrad habe ich ja auch noch im Keller. Das könnte ich eigentlich wieder flottmachen, das Wetter ist so schön. Wenn man dann im Keller aus dem ICE steigt, zieht man unwillkürlich den Kopf ein, so niedrig wirken die Decken. Auch meint man, nicht in einem Bahnhof, Verzeihung: Hauptbahnhof gelandet zu sein, sondern in einem Lebensmittelmarkt auf der grünen Wiese. Wände, die aussehen wie perforierte Rigipselemente, verleihen den Charme des örtlichen Aldimarktes, aber nicht die pompöse Grandezza (um dieses Wort mal aufzugreifen), die ich mir vom Hauptbahnhof der Hauptstadt erwarte.

Das Architekturbüro gmp hatte bekanntlich eine ganz andere Vision vor Augen: eine gothisch anmutende Kuppel aus Glas und Leuchtern. Herausgekommen ist der betongewordene Kleinmut, der so symptomatisch ist für diese Republik: Klotzen wollen, aber nur kleine Würfel produzieren. Für 500 Millionen Euro den Großkotz spielen, aber dann eine graue Betondecke einhängen, wo man Licht und Weite - Perspektive eben - erwartet hätte.

So erlebt man, egal an welcher Stelle man sich befindet, ein verschachteltes Etwas, bei dem alle Sichtachsen unterbrochen werden durch quergezogene Ebenen, Pfeiler, Säulen oder runde Aufzüge. Jegliches Gefühl von Weite wird durch Betonrampen der mittleren Ebene versperrt, für diese immense Horizontale des Baus fehlt definitiv die Vertikale, wie sie Bahnhöfe in Köln, Frankfurt oder sogar Hamburg bieten. Einzig an manchen Stellen gibt es das Gefühl von Tiefe. Ich vermute aber, sobald die ersten Selbstmörder die Fallwucht im neuen Bahnhof getestet haben, werden auch noch Netze eingezogen, die die letzte Anmutung von Weite ins Kleinkarierte zurren.

Das mögen am Ende jedoch ästhetische Befindlichkeiten bleiben, über die nur unvernünftige Menschen endlos streiten. Zum Glück. Was aber endgültig ärgert, ist die Verfehlung dieses Bauwerks als funktionaler Ort. Es ist offenbar ein Politikerbahnhof, an dem die Abgeordneten und ihre Mitarbeiter mit einem Attachéköfferchen bewaffnet aus dem ICE steigen und gemütlich die 400 Meter zum Reichstag zurücklegen können. Für jeden echten Reisenden mit richtigem Gepäck, wird dieser Bahnhof zum Purgatorium. Wenn 200 Menschen auf einmal den ICE verlassen, sich mit Koffern, Plunder, Bahncard und quengelnden Kindern die engen Rolltreppen hochquälen, dürfen sie sich durch die Shopping-Touristen manövrieren, die in der mittleren Ebene Restaurants und Boutiquen besichtigen und ansonsten bräsig im Weg stehen, nur um auf der dritten Etage endlich die S-Bahn zur Weiterfahrt in die Stadt zu erreichen. Eine Ochsentour für Kunden, die das eigentliche Kerngeschäft der Bahn bedienen. Der Bahn-Comfort-Kunde sagt schon jetzt: Vielen Dank, Herr Mehdorn! Der Rest überlegt wohl schnell, auf einen Opel ein Auto umzusteigen.

Da mein Lieblingsheiliger Sisyphos heißt, ist mir das egal. Völlig gaga aber werde ich auf dem Bahnsteig. Wenn man (trotz bloß spärlicher An- und Abfahrtstafeln und sonstiger Beschilderung) sein Gleis gefunden hat, wird man von einer Stimme gequält, wie sie in den 70er und 80er Jahren auf Mittelwelle zu hören war. Damals funkten die östlichen Geheimdienste ihre Anweisungen in stundenlang monoton vorgetragenen Ziffern-Fünfergruppen an ihre Agenten: Zwo-Vier-Sieben-Neien-Drei. Mit dem Charme der computerisierten Zeitansage, werden nun die Zugansagen aus der Sprachdatenbank zusammengebastelt. Mehrsprachig piesacken einen fortan völlig falsch betonte Sätze, deren künstliche Intonation einen binnen kurzem in den Wahnsinn treibt.

Dies ist ein Bahnhof für Blade Runner, und die Replikanten, die sind schon lange unter uns.


 


Samstag, 3. Juni 2006


Tu veux ou tu veux pas

Gestern Abend habe ich geübt, Kostüme probiert, Muskeln gespannt und Dekoration ausgewählt. Schließlich kam ich zu dem bislang wohlgehüteten Schluß, ett is wie ett is und ungefähr so wird es dann sein:

>>>Tu veux ou tu veux pas (Youtube)

Herr Burnster, Herr Ole und moi lesen, wie alle Welt weiß, am Pfingst-Sonntag im "Laß uns Freunde bleiben". Entweder ihr wollt oder ihr wollt nicht - zusehen, wie ich Jungfrauen auf der Bühne zersäge (vorausgesetzt, es findet sich eine in Berlin), mein Getränk unsichtbar mache, Balken biege und tote Tiere hypnotisiere. Zieht eure Ringelstrümpfe an oder eure guten Anzüge Kommt doch, wie ihr wollt und laßt uns alle, wenn nicht Freunde bleiben, so doch mit einem Flämmchen über dem Kopf nach Hause gehen. Es muß ja kein heiliges sein.

Schöne Pfingsten.


 


Donnerstag, 1. Juni 2006


Diminutive

How does it feel
To be on your own
With no direction home
Like a complete unknown
Like a rolling stone?

(Bob Dylan, "Like A Rolling Stone")

Und da war die, die sagte, gut, so machen wir es, und da war die, die ein wenig weinte, und da war die, die mich zum Weinen brachte. Und dann war da die, die mich freundlich grüßte, an der Hand ihres Freundes, von dem ich noch nichts wußte und die, die ich vergaß zu grüßen. Und die, die auszog mit zwei Tüten und ihre Sachen später holte und die, die mir Hilfe anbot beim Auszug. Und da war die, die gar nichts sagte, so wie sie vorher schon nie was gesagt hatte, und die, die sprachlos war und gar nichts sagen konnte, weil die Stille so laut war und der Nachklang des Donnerhalls.

Ach, und dann die, die dann weg war und ihre Sachen nie holte, was mich wunderte, aber nur ein wenig, neben den drei Kreuzen, die ich schlug, und den Tränen, die ich vergoß. Da war die mit den Messern und die, bei der ich die Klinge noch umdrehte.

Und so oder ähnlich, mit Schleife, Blut und Stacheldraht, Abschiedswinken, -essen, -küssen und einmal nur noch, du weißt, für die Reise, klappt man ihn auf, immer wieder, den großen Koffer (und manchmal nur das Bordgepäck).
Erst später dann betrachten wir, was überhaupt noch drinnen liegt: Die Reste unserer beschädigten Leben und die Reste der Leben, die wir beschädigt haben. Die Stummel und losen Fäden, die herunterhängen wie lästige Fibrome. Nichts Schlimmes, nichts, für das es sich lohnte, großes Aufheben zu machen. Selbstverständlich nicht. Der Arzt nimmt eine Elektroschlinge oder ein Skalpell und darf nur eines nicht vergesssen: Immer im Gesunden schneiden. Mit ordentlich Rand und sicherem Abstand, damit es nicht durchschlägt oder streut, weiterwächst womöglich, ein Rest, ein Zellbestand, der alles von vorne beginnen läßt. Und so schwindet das Gesunde mit dem kranken, dem nekrotischen Restgewebe, bis wir nur eines werden: immer kleiner.


 


Dienstag, 30. Mai 2006


Florale Zierde

Bei Leiden und Schmerzen aller Art hilft bekanntlich die Ringelblume. Solches Naturwissen ist vielfach verschütt' gegangen, was schade ist, betrachtet man den generell eher unblumigen Alltag. Heute gleich zwei ältere Herren gesehen, beide in beigen Hosen und einem senffarbenen Bluson gekleidet. Was ist nur aus der Fliederfarbe geworden?

Für jemanden wie die Londonerin Veronica Read wohl eine triste Entwicklung.
(Die Installation von Kutlug Ataman ist derzeit übrigens in der Hamburger Kunsthalle zu sehen.)

Neben der blumigen Rede führe ich hingegen gerne meine florale Kleidungspracht spazieren. Man nennt mich auch die schwarze Tulpe. (Oder war es die Tollkirsche?)


 


Montag, 29. Mai 2006


Der gefundene Satz, 32

"Diese Verzweiflung. Die muß doch für etwas gut sein. Es gibt so verdammt viel davon."

(René Pollesch, Heidi Hoh II: Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr. 2000.)