
Samstag, 27. Mai 2006
Und, dann. Wer hätte es gedacht? Das sieht ja aus wie bei mir zu Haus: Anregende Fotoarbeiten aus der Türkei mit Ringelstrümpfen und allerlei morbidem Gothic-Chic, Tüdüü und Tadaa: Nazif Topçuoğlu. Da fällt mir glatt noch ein, was ich heute auf dem Flohmarkt kaufen finden will. Etwas für hier, etwas für da. Ich hoffe, es paßt alles auf den Gepäckträger meines Hollandrads.
Sonst nehme ich ein Pferd.

Donnerstag, 25. Mai 2006
Ich hab mich selbst zum Altglas gestellt.
(Taumelnd hinab ins Flaschengrün. Kennen wir uns? Von der Neige des Glases. Du Flasche, zischt sie. Ich habe dir gestern erst den Korken gezogen. Du steiler Zahn, nuschel ich zurück. Du Assoziationsschlampe, alkoholisches Luder, du. Grinsend ringelt sie ihren Strumpf wieder hinauf. Haltlos, lalle ich. Allohaltlos.)
Morgen arbeiten nur mit höchstem Unwillen. Das ganze monotone Leben wie eine Nagelbettentzündung. Selbst ein Kuß nur pilziger Atem. Mir war als hätte ich das Ticken der Uhr zu lange nicht gehört. Ticktack, der Stempelkasten. Aus dem Nebel wird auftauchen der Personalleiter der Gartenzwergfabrik. Mirdochegal wie ihr arbeitet, wird er grinsen. Fertig muß die Scheiße werden.
(Neulich beim Entgraten, der Kollege hebt die blutenden Finger, will den Boss der Bosse grüßen. Der aber schleicht vorbei, über die Flure, nickt & sagt nicht Guten Tag. Jasollnwirunsdennalleselbstentleiben? Nur für ein bißchen Augenblick?)
Ich habe es genossen. Im Regen sieht es aus, als söge meine faltige Haut mehr Tropfen auf als die Jugend, deren Glanz wie Sonne scheint. Im schrundigen Haus, zwischen welker Tapete und verschlissenen Hemden, die Trauer. Mit Bedacht, stillem Eifer und vorgespitzter Zunge wickel ich ein schwarzes Band, rundherumundrundherum ums Treppengeländer. Ich bin auf links genäht, Bruch der Schokoladenfabrik.
(Keine Himmelfahrt.)

Mittwoch, 24. Mai 2006
His hand cracks the chair,
Moves on reaction, then slumps in despair,
Trapped in a cage and surrendered too soon,
Me in my own world, the one that you knew,
For way too long.
(Joy Division, "I Remember Nothing")
Neben - unvermeidlich fast - Man Ray war meine große fotografische Inspiration (das Wort Vorbild möchte ich meiden) von früher Zeit an der Amerikaner
Ralph Gibson. Fast am selben Tag geboren wie David Lynch, kennzeichnet beide eine obskure Mischung aus strenger Klarheit, eifrigem Ernst und hypnotisch entrücktem Traumfragmenten.
Erst jetzt entdecke ich, daß seine Seite im Netz auch ein umfangreiches Archiv beinhaltet. Serien wie Somnambulist haben mich nun schon seit Jahren begleitet, verwunschene Bilder, verfolgende Albträume, Schimmer, ein Wehen, kurze Momente aus verstörenden Geschichten herausgegriffen. Wer Joy Division noch von Vinyl her kennt, wird sich an das Foto auf dem Innencover der Unknown Pleasures erinnern.

Mittwoch, 24. Mai 2006
und schauen dem Todestanz
eines jungen Mädchens zu,
das geopfert werden soll,
um den Gott des Frühlings günstig
zu stimmen. Das war das Thema von
"Le sacre du printemps".
(Igor Strawinski)
Während anderswo noch Wunden geleckt, Fahrzeuge neu betankt oder Nagelketten gesucht werden, also grad als der Pulverdampf sich lichtet... dämmerte mir aus der Ruhe des geziemlichen Abstands des B-Bloggens heraus schon wieder (!) eine Erkenntnis.
Letztes Jahr bereits wies ich auf einen auffälligen Umstand hin: dem zyklisch auftretenden Bloggerkrawall. Die erste Arbeitshypothese lautete ja noch, es handele sich um eine Art Warmraufen vor größeren Bloggertreffen (übrigens so gewohnt einfühlsam wie hart am Leben von Lisa9s ToonCam festgehalten). Aber dann habt Ihr mir da draußen was Wichtiges verschwiegen, Ihr Schweine meine Freunde. Von einem solchen Treffen weiß ich nichts.
Nun bin ich nie verlegen, notfalls auf die Schnelle eine neue Hypothese aus dem Ärmel zu ziehen. Versuchen wir es also einmal so: Mittlerweile anekdotische Blogger-Flame-Wars wie "Hinter Belle de Jour steckt in Wahrheit Don Dahlmann", die Affäre der "notorisch unterfickten Brotspinne" und die seinerzeit berüchtigte "Marienerscheinung" traten, so weit ich es erinnere, immer zwischen März und April auf.
Es scheint sich um eine Art Frühlingserwachen zu handeln. Mit dissonanten Stakkatos wie bei Strawinski, eine Opfergabe an den dionysischen Gott des zucht- und ordnungsbefreiten Bloggens. Ein allgemeines Freischwingen eingerosteter Griffel, vergleichbar dem Bastabscheuern der Geweihe und dem Recken phallischer Hilfsmittel aller Art. Dieses Jahr schreiben wir zwar schon Ende Mai. Aber mal ehrlich, war der Winter nicht besonders hart und andauernd? War die Sehnsucht nach befreiendem Krawall nicht lange unterdrückt? Und:
Ist der Sieg der finnischen Monstertrolle beim Liederfest in Athen mit diesem Wissen noch verwunderlich zu nennen?

Montag, 22. Mai 2006
Ich fahre ja kein Auto. Ich würde allerdings nicht nein sagen, wenn mir jemand einen Buckelvolvo vor die Tür stellte. Allerdings für deutlich länger als vier popelige Wochen. So billig darf das nicht sein. Vielleicht würde ich mich auch von einer Brausefirma nach, sagen wir mal, Tokio schicken lassen, um von dort zu bloggen. Aber auch nicht für jeden Brausefritzen. Vielleicht würde ich auch für Wolford den Ringelstrumpftest machen oder als "La Perla"-Blogger Herz und Nieren testen. Mag sein. Wer weiß, wo der eigene Preis liegt. Ich habe da aber auch ziemliches Glück, mich fragt halt keiner.
Bei einer Autofirma, deren Werbestrategen notorisch nichts dabei finden, ungefragt Underground und Ex-Underground-Rockgrößen auszuschlachten (Tom Waits, Iggy Pop), wäre ich allerdings hellhörig, wenn es um Dinge wie Authentizität und Glaubwürdigkeit geht. Spätestens aber, wenn ich diesen TV-Spot gesehen hätte, bei dem es um eine Geschlechtsumwandlung geht, hätte ich die Nase voll. Wahrscheinlich fanden die Werbejungs und -mädels das furchtbar witzig und haben sich endlos auf die Schenkel geklatscht. Warum nicht mal Witze über die Not von Transsexuellen machen?
Ein Bierzelt-Brüller!
So als wäre eine Geschlechtsumwandlung etwas, was man mal eben machen läßt, wie ein billiges Tattoo vielleicht, nach einer durchzechten Nacht auf der Reeperbahn.
Spätestens dann würde ich die Karre wieder auf den Hof fahren, die Schlüssel auf den Tisch legen und sagen, was der Held in Melvilles "Bartleby, the Scrivener" sagte, als er sich der Wall Street verweigerte: Danke, ich möchte lieber nicht.

Sonntag, 21. Mai 2006
Das Leben und der Flohmarkt lehren: Irgendwas fehlt immer. Da heißt es improvisieren. Mal über seinen eigenen Buchstaben springen. Das hohe C gerade sein lassen. Und bevor man das Alphabet vor dem Abend lobt, nachschauen, wie die Zahlen stehen. Es sind nämlich auch nicht alle Ziffern im Schrank.
Aber die wichtigsten schon, ein Glück.

Freitag, 19. Mai 2006
Post aus Berlin? Nicht immer bettet Freude sich beim Nennen dieser Stadt. Neulich aber frohe Kunde im Briefkasten. Ein Geschenk von der Strychnin-Galerie.
Was Mrs. Young mir schickte, was birgt der schwarze Schrein?
Das Geheimnis nicht zu lüften, so tapfer muß ich sein.
Heute abend jedenfalls mache ich mich auf die Suche nach meinem inneren Kind. Stapfen durchs Dunkel, huh, huh, und dann womöglich die ein oder andere schwarze Träne verdrückt. Paul Booth, Großmeister der Tätowierkunst, zeigt zehn neue Gemälde und setzt vielleicht die Nadel an. Ich möchte die betenden Hände, einen Engel und Flügel, mit denen ich über der Stadt schwebe. Über mir selbst am besten. Was braucht man für einen Motor, wenn das Herz so pocht? Ich bringe Regen mit, ein kleines Geschenk. Ich bringe zwei oder drei Gedanken mit, das Bild eines blutenden Fingers und schreibe alles auf, was ich sehe, höre und schmecke. Da in der großen Stadt, in den tiefen Kellern, am Rande. Am Rande von irgendwas.
(Paul Booth, The Inner Child. Noch bis Mitte Juni in der Strychnin-Galerie, Berlin.)
