
Mittwoch, 26. Oktober 2005
Das Wetter ändert sich, die Menschen stehen wieder vorwärts in den Straßen. Oder gehen entzwei.
Am Samstag will ich bloß unverfänglich zur Vernissage, gerate aber schon auf der Straße in eine böse blöde Auseinander- setzung. Ein psychopathischer Spacko Typ in einer psychischen Extremsituation rangelt da mit seiner baldigen Exfreundin (hofft man) und verbittet sich höflich jede Einmischung springt mir fast an die Gurgel. Ob ich keine eigenen Probleme hätte, fragt er besorgt brüllt er mich an.
"Klar, habe ich die", sage ich, erzähle ihm von meinem Jammerblog und gebe klein bei versuche, ihn zu beschwichtigen. Irgendwann kommt die Polizei. Irgendwann.
Im Knust singt Bernadette, aber ich fühle mich an diesem Abend nicht knarf genug, mich von fremden blonden Frauen anrocken zu lassen. Andererseits gibt es viel Auflauf beim Helium Cowboy. Junge Menschen, schöne auch und übriggebliebene. Meine Begleiterin will sich gar nicht von mir die Kunst erklären lassen, daher mache ich mich nützlich und hole Getränke. Mokis Bilder sind mir streckenweise ein wenig zu illustrativ, so eine Art plakativer Hyper-sur-Realismus. Aber oben auf der Galerie sind die wahren Schätze verborgen: Sehr hübsche Zeichnungen auf Sperrholz, z.B. Mädchen in Ringelhemden, die Eichhörnchen füttern. Bild Nr. 37 ist bereits verkauft, sonst wäre ich unter Umständen dabei gewesen.
Herzerwärmend sind die taxidermisch aufgepimpten Plüschtrophäen. Vielleicht ehemalige Insassen der Anstalt, wer meint das schon, genau zu wissen. Die kleinen anondulierten Monster strecken einem zudem schneller die pelzige Zunge in den Mund als man "Ääääh" sagen kann. Aber dann will man ja eh immer nur tief in die Augen schauen. Sehr anheimelnd und ein würdiges Ende für den alten Streichelzoo.
Auf dem Boden liegt Laub, herbstliche Wälder im pumpenden Artspace. Gegenüber hat Frau Hengst mittlerweile zu Ende geschwitzt. Die Bühne ist leer, nur die eine, die ich kenne, steht noch mit britischem Lächeln am Mischpult und wartet.
(Moki - Fox in the Snow. Helium Cowboy Artspace, Hamburg. Bis 4. November 2005.)

Dienstag, 25. Oktober 2005
Die Formen moderner Autos transportieren als subliminale Botschaft einiges - nur echte Erotik will nicht mehr aufkommen. Geschwungene Formen, bauchige Kurven, schnittige Linien? Das war einmal. Die heutige windkanalgeprüfte Langeweile im Karosseriebau läßt keinen mehr stramm stehen.
Man sollte mich mal nackt vor einem Buckelvolvo fotografieren. Da würde aber mein Schal wegwehen.

Montag, 24. Oktober 2005
Auch völlig bekloppt. Ich fahr am Sonntag mit dem Einsatzwagen der Tierrettung. Doch die Katze will gar nicht sterben, sondern hat anscheinend einfach nur durchgemacht.
"Beim nächsten Mal machen Sie erstmal eine Atemkontrolle, junger Mann", ermahnt mich der Tierretter und steigt belustigt in seinen Wagen zurück. "Junger Mann" hat er allerdings nicht gesagt, fällt mir gerade ein.
Jetzt muß ich erstmal was essen. Ich fühle mich, als hätte ich die Nacht durchgemacht.

Samstag, 22. Oktober 2005
From the window
Warm and strange, i can't remember
Where the heartbreak mends
When the fevered remains
(The Stills, "Fevered")
Die rot und schwarz geringelte Markise zeigte mir einst gleich: Hier befindet sich das beste Geschäft der Stadt. Warmen Herzens hieß man mich willkommen, reichte Kaffee und änderte für mich die Ladenzeiten. Und gleich am Anfang der Geschäftsbeziehungen gab es beachtlich viel Kredit. Bis herauskam, das ich nur mit ungedeckten Schecks bezahlen konnte. Und am Ende nur Schulden blieben.
Am Ende kontrollierten auch zuviele externe Buchprüfer und Wirtschaftsberater den Kassenbestand und gaben Prognosen. So mag ich keine Geschäfte machen. Denn externe Berater wissen doch immer noch einen besseren Anlagetip. Das ist bekannt. Manche Schulden kann man am Ende auch nicht begleichen. Auf manchen muß man auch sitzenbleiben, damit man nicht vergißt.
Nun heißt es: Gebongt ist gebongt. Die Geschäftsziele haben sich verändert, die Öffnungszeiten sind mir nicht bekannt.
Manche Lektionen müssen auch eiserne Geschäftsleute lernen, die nur die Spielsucht ins Casino treibt. Es ist nicht möglich, alles auf die 37 zu setzen.
Was bleibt, sind Lektionen, die man voneinander lernt. Loyalität und Nähe, Fragen und die Fragen nach den richtigen Fragen. Intensität und Vertrauen, das sich nicht schenkt, sondern erarbeitet ist. Interessen und Interessantes, Unaussprechliches und einen Blick, der tiefer geht als das Auge.
Was bleibt, sind Berührungen. Die bleiben. Zart, flüchtig, zu kurz, wie es immer ist, mit den wichtigen Berührungen.
Die Bilanz? Ich bin dankbar für so vieles und kann doch nur raten:
Laß niemals mehr anschreiben. Bestehe auf Barzahlung und gib Lumpen wie mir keinen Kredit.
Dieser Tag ist Deiner. Halte ihn fest.

Freitag, 21. Oktober 2005
Endlich wieder angezittert werden. Endlich wieder Zischelwinde über stoppeligen Äckern. Endlich wieder Verfall in den porös geword'nen Knochen und Schauer und Ahnung der Endlichkeit auf der schrundigen Haut. Wer zum Wochen- und Weltende seine grau- und schimmelgrüngefärbten Augen mit den Visualisierungen labyrinthischer Kellergedanken füllen will, ist bei den mittlerweile sieben Ausgaben von Spartan Dog richtig.
Fotografen und Grafiker wie Matt Lombard, J. R. Rossbach, Chad Michael Ward und Robert Gregory Griffeth u. a. öffnen hier ihre staubigen Schatzkästlein und zeigen makaber Lüsterndes, mehr als Totes, Kitschig- und Tandiges und unverzichtbare Haushaltsgeräte.
Morbid? Mitnichten, Madame. Sweet Dreams are made of this...

Donnerstag, 20. Oktober 2005
"Steckt in seiner Seele ein bindungsunfähiger, unehelicher Bastard, der zum Sex-Süchtigen wurde?" (Bild vom 20.10.2005 über Jack Nicholson)

"Um ein Geheimnis unter drei Menschen zu bewahren, müssen zwei von ihnen tot sein." (Benjamin Franklin)

Dienstag, 18. Oktober 2005
Im Mai berichtete ich von Joan Sfars Comic-Erzählung Der Mexikaner mit den zwei Köpfen. Eine phantastische Gruselmär, denkt man, über einen manisch-besessenen Mexikaner, der von einem im Kopf eingewachsenen zwergenhaften zweiten Kopf mittels finsterer Tricks manipuliert wird. Ein Foetus-in-Foetus, ein medizinisches Phänomen, das wohl öfter vorkommt als man gemeinhin denken mag. Zumeist verwächst aber der tote Zwilling unbemerkt irgendwo im Körper und ist - je nach embryonalem Entwicklungszustand - kaum nachweisbar. Selten finden sich voller entwickelte Teile des Zwillings außen am Körper des Überlebenden, denn meist, so die mir bekannte Theorie, findet die Verschmelzung viel früher in der Gebärmutter statt.
Sfars Figur des Mexikaners mit den zwei Köpfen jedenfalls basiert auf einem realen Vorbild, wie ich nun hier entdeckte. Pasqual Pinon, so der Name des Mexiakners, tourte ab 1917 mit dem Sells-Floto-Zirkus und sorgte für beachtliches Aufsehen.
Leider aber ist die Geschichte nicht ganz wahr (hört, hört!). Pasqual Pinon war ein Arbeiter bei der mexikanischen Eisenbahn und litt unter einem riesigen Tumor auf seinem Kopf. Bei einer Operation wurde ihm eine Platte aus Silber, die zu einem menschlichen Gesicht geformt war, unter die Haut des Tumors geschoben - wodurch sich ein echt wirkender zweiter Kopf ausbildete. Eine frühe Form der Body-Modification anders als zu rituellen Zwecken also. Eine Show.
Wer weiterlesen und entdecken möchte, empfehle ich
Sideshow World und eben
Phreeque.
