
Freitag, 30. September 2005
Heute morgen saß ich ungefähr eine Stunde vor diesem Foto*. Ich hatte eigentlich eine Verabredung mit der Corpse Bride und eine weitere mit meinem Chef. Aber dann holte ich mir noch einen Kaffee und saß eine weitere Stunde vor dem Bild.
Ein alter Gedanke sagt - und das habe ich von Gilberto Gil, dem Mann, der dem schönen Mädchen von Ipanema dieses großartige Lied gewidmet hat- die perfekte Mitte sei dort, wo zwei Extreme gleichzeitig möglich sind. Wo die Dinge in sich fallen, Bewegung zwischen den Polen möglich ist und alles seinen Platz findet. Eine Struktur wie die gezeigte mag da übertrieben wirken, pedantisch vielleicht. Aber dann dachte ich, es hat auch so etwas Zen-haftes, Beruhigtes. Das Ikebana der Partykultur, vielleicht.
Man kann sich vielfältigste Arrangements im Leben vorstellen. Manchmal ist das Aufeinanderprallen des scheinbar Unvereinbaren ein Schlüssel für eine neue Dimension. Weil man erkennt, daß alles plötzlich seine Ordnung erhält. Eine Mitte. Der Punkt, an dem alles zur Ruhe kommt.
Über den "Zustand des Nichts" meinte Gilberto Gil weiter: Am Ende ist nur Licht. Und Dunkelheit. Der Dialog zwischen Licht und Dunkelheit, in einer Sprache, die nicht mehr unsere ist. Vielleicht ist das der Punkt, an dem man endlich fähig ist, nicht mehr fähig zu sein. (Die Zeit, 28.7.2005)
(*Anmerkung: Das Foto ist durch ein Skript gegen Deeplinking geschützt. Ich kann nur auf die komplette Seite linken. Da sind aber noch weitere Bilder drauf, die ich nicht meine. Wir machen das jetzt so: Hier kann man die Seite klicken und das obere Foto betrachten. Die Bilder darunter hält man am besten mit einem Aktendeckel zu. Müßt Ihr mir versprechen. Da liegt nämlich eine Frau in einem extrem unaufgeräumten Bett, was ich aus ästhetischen Gesichtspunkten nicht gutheißen kann. Ach so: Not safe for work!)

Donnerstag, 29. September 2005
Es ist soweit, der Herbst ist da. Trübes Wetter, kühler Regen - auf der Straße weideten zwei Krähen ein totgefahrenes Kaninchen aus (leider wurden sie von einem Auto verscheucht, ehe ich ein Foto machen konnte) - die Zeichen sind deutlich: Meine liebste Zeit ist gekommen.
Offenbar strahle ich etwas aus, denn als ich heute mit meinem Keine Macht für Niemand-T-Shirt die Treppe herunterhüpfte herunterwankte, plapperte mich leutselig ein brillantinegegeltes Grinsemännchen von der Seite an. (Ich dachte noch, ist denn schon Halloween?)
"Sie sind bestimmt Hansenet-Kunde", meinte Gel-Boy.
"Ja", sag ich. "Aber rundum zufrieden bin ich nicht."
Triumphierend präsentierte daraufhin der wohlgelaunte Dynamic-Man seinen magentafarbenen Ausweis.
"Ich bin von der Telekom!"
"Tja", meine ich freundlich. "Der Verein wiederum ist ja der Grund, weshalb ich lieber Hansenet-Kunde bin."
Grinsemann hatte aber mittlerweile einen anderen schlaftrunkenen Nachbarn am Wickel und beachtete mich nicht weiter - also ganz mit der aufmerksamen Zuvorkommenheit, die man vom Rosa Riesen gewohnt ist.
Nachdenklich wurde ich aber doch. Woher wußte er, daß ich daheim das Foto eines blonden Mädchens an der Wand hängen habe?

Dienstag, 27. September 2005
Am Wochenende dozierte ich noch über die geheimen Schönheitsrezepte der aztekischen Frauen, natürlich vor ungläubigem Publikum. Der kleine Film
(35 MB), der auch aus meiner alten russischen 8mm-Kamera hätte springen können, führt ein wenig näher an dieses mythendurchtränkte Thema heran.
Freudianer und Kunstinteressierte wissen: Wenn nackte Frauenkörper sich in Fische verwandeln und Feuer aus weitgeöffneten Mündern schießt, dann ist Surrealisten-Zeit!
Ich hingegen schredder nun in meinen expressionistischen Supermarkt und lasse mich von inanimierten Objekten ansprechen. Pathetische Milch des Nachmittags! Stürzende Dosen und rollende Rettiche! Verludertes Mahl im fahlen Licht der Kühlgeräte! Pfandmarke nicht vergessen. Bis dann.
(via Miss Wurzeltod)

Montag, 26. September 2005
Ich sehe um mich herum Kinder heranwachsen, die mich verachten. Sie kennen bereits den Preis eines Autos. Sie spielen niemals Räuber und Gendarm.
(Louis Aragon, "Das Schwarze Heft". Das Wahr-Lügen. 1980.)

Freitag, 23. September 2005
Nachdem meine Urlaubsplanung dieses Jahr aus dem ein und auch anderen Grund ein wenig schwierig wurde, fiel die Wahl eher spontan auf Ich hab keinen Plan und O Gott, wo fahre ich hin?. Den Ausschlag gab tatsächlich Frau Gaga, die mich auf die Idee brachte, mein Glück im Osten zu versuchen. Deren Bilder von Hiddensee setzten mich dann sofort in Bewegung. Leider verpasste ich sie um eine Fährenbreite, sonst hätten wir womöglich gemeinsam das Hexenhaus in Vitte zum Epizentrum ritualistischer Blogger-Schwingungen gemacht oder einfach nur gemeinsam eine Flasche Wein geleert.
Hiddensee also. Ich besaß einmal ein Kinderbuch, Hittin der Pirat, hieß es, glaube ich. Das spielte in den Sommerferien irgendwann in den 30er oder 40er Jahren, schätze ich. Weil die Eltern ihre Ruhe haben wollten, kam der Vater auf eine pfiffige Idee. Für seine beiden Kinder versteckte er abends am Strand eine Flaschenpost mit der "echten" Schatzkarte von Hittin dem Seeräuber, die der Vater natürlich selbst gezeichnet hatte. Am nächsten Morgen war die Aufregung groß, als die Kinder die Flasche fanden. Bald zogen sie mit Karte, Kompaß und Schaufel los, und die Eltern wähnten friedliche Ferien anbrechen. Doch wie es das Schicksal in Büchern will: Die falsche Karte führt die Kinder auf die Spur echter Schmuggler und schnell ist die Ruhe vorbei. Ich bin mir nicht sicher, ob das Buch noch auf einem elterlichen Speicher liegt, es wäre eine Suche wert.
Eine seemannsgarnige Geschichte also, die ich im Hinterkopf hatte, als ich im in Kloster an Land ging. (Seit langem plane ich ja, im "Haus der Stille" Urlaub zu machen, um dort in der strengen Regelmäßigkeit des Klosterlebens ein wenig meditative Ruhe zu finden.) Der Ort Kloster auf der autofreien Insel ist da schon ein Anfang. Gottfried Benn war dort, der Hauptmann natürlich, Asta Nielsen, Ringelnatz, die ganze Bande.
Wohl instruiert von Blogger-Tipps, fühlte ich mich gleich zuhause, kaum, daß ich einen Fuß auf das schmale Eiland gesetzt hatte. Muß man dann sofort alles ansehen, aufsaugen, sich mit einreiben. Am nördlichsten Ende der Steilküste liegt der "Tote Kerl" mein Lieblingsplatz. Der Name sagt schon, warum. Hier werden nämlich die Männer mit dem grimmigen Blick, die Schufte und die zum Teufel gewünschten zur See bestattet. In der Nähe, am Enddorn, hatte Frau Gaga einen Ritualplatz zurückgelassen. Aus Ästen, Steinen und Federn gebastelte, magische Kultobjekte wiesen den Weg.
Man sieht hier so einige solcher Plätze unten am Strand im Schutze der Steilküste. Da sitzen dann junge Leute und trinken Alkohol. Vielleicht rauchen sie auch eine Zigarette oder machen im Rhythmus der Brandung ein Liebe.
Ich aber war nun alleine dort. Darum konnte ich mir von niemandem eine Zigarette schnorren. Das stimmte ein wenig traurig, aber ich aß schnell eine Banane und betrachtete Sonnenuntergänge, äsende Rehe und schnürende Füchse. Ein wenig merkwürdig ist es schon, wenn einem aus 30 Metern Entfernung ein Fuchs anstarrt. Aber genügend Leute behaupten, wenn es um Tollwut ginge, müsse das Tier eher Angst vor mir haben.
Da gibt es auch ein Lied von Nena drüber. Nur mal so jetzt
Überhaupt: Steilküste! Da kann man dann wie in einem Indie-Rockvideo aus den 80er-Jahren mit pathetischem Blick, viel Donnerhall (Luftgitarre nicht vergessen!) und weit ausholender Armbewegung das Meer anschreien. Aber anders als in den 80ern schreit das Meer nicht mehr zurück, sondern macht, was es am Besten kann: es rollt unbeeindruckt vor und zurück, vor und zurück. Die Steilküste runter führt eine ziemlich lange, marode Holztreppe. "Machen Sie das ruhig, Herr Kid", hatte mir Frau Gaga eingeflüstert. Da fehlten zwar hier und da vier bis acht Stufen, aber das mache ja nichts. Am Ende der Treppe, als ich die eindringlichen Verbotsschilder las, beschlich mich ein leises Gefühl einer finsteren Bloggerverschwörung. Ich kann nur sagen: Try harder next time. Pah.
Am Strand spielten drei interessante Rothaarige splitternackt Volleyball. Einen Schiedsrichter brauchten sie wohl nicht, jedenfalls lehnten sie mein höfliches Anerbieten rundweg ab. Vielleicht hätte ich erwähnen sollen, daß ich gut baggern kann, öh, bloggen blocken, also Ballgefühl habe. Ich aß also schnell noch eine Banane und zog hinaus in die Heide, die gibt es dort nämlich auch. Jedes Jahr werden dort übrigens Blogger Besucher von Kreuzottern gebissen, weil die unbedingt barfuß dort herumlaufen müssen, statt beispielsweise ins einzige Internetcafé der Insel zu gehen. (ISDN-Anbindung, man lernt eben auch Demut an solch abgeschiedenen Orten).
Überraschend entspannt war die Bevölkerung dort. Inselbewohner eben, die wissen, daß es viele Dinge im Leben gibt, auf die man eh keinen Einfluß hat. Gezeiten, Wetter, Server-Performance. Also gibt man sich entspannt. Schlüssel steckt, gehen Sie rein, heißt es oder Bezahlen Sie das Rad einfach morgen oder irgendwann.
Während ich täglich die hundert Meter bis zur Boje und zurück geschwommen bin mit den Füßen im Wasser stand, die rüstigen, ebenfalls splitternackten Rentner betrachtete, die dort beherzt ihr Bad nahmen, beschloß ich, diesen Ort mal etwas fetter auf der Reisekarte zu markieren.
Beim nächsten Mal dann aber mit eigenem Volleyball-Team.
Ein gutes Dutzend Fotos im Kommentar

Donnerstag, 22. September 2005
Und nun Lieblings-T-Shirts anziehen (mich bekommt man heute aus meinem neuen nicht mehr raus), Luftgitarre raus (Schlagzeug geht auch) und ab zum Indie-Karaoke.
(via the wonderful and enchanting Frau Sonne)

Bislang dachte ich, ich wäre mehr so der Comme de Garçons-Typ. Sieben Zwiebelschalen übereinander, alles in verschiedenen Längen und alles so aussehend, als hätte ich es gerade aus der Zerreisse gezogen. Oder Yamamoto, wenn denn mal Geld ins Haus käme. René Lézard ist ja so eine Geschichte, da trauere ich immer noch dem Anzug aus Schlangenleder(imitat) hinterher, der mich in den späten 80ern so verzückte. Aber ich heiße ja auch nicht Sailor.
Heute jedenfalls bin ich mir sicher, über kurz oder Helmut Lang landen alle bei Monsieur Fabe sein Label. Dem Herrn Le Teil steht das ja auch ganz vorzüglich. (Besser sogar!)
Herr Fabe reagiert auch sehr entgegenkommend auf Sonderwünsche und kleine Detailänderungen. Ich bin sehr entzückt.

Dienstag, 20. September 2005
Den Mittag Morgen begann ich im Garten vor dem Haus. Nach dem Frühstück trank ich einen weiteren Kaffee und schrieb ein wenig an meinem Buch Wie ich das Bloggen überwand und sammelte zu diesem Thema ein paar lose Gedanken.
Von Iggy Pop ist ja die Anekdote überliefert, wie er seinen Dämon niederrang: "Das war die Zeit, als jeder einen Ghettoblaster hatte. Ich schleppte das Ding überall hin. Ich wurde regelrecht abhängig. Bis ich merkte, entweder mein Sony oder ich. Also packte ich eines Tages meinen Ghettoblaster und schmiß ihn ins Meer."
Ich glaube, das ist, was die Leute auf Hiddensee mit ihren MP3-Playern machen. Jedenfalls sieht man am Strand niemanden mit Kopfhörern herumlaufen.
Zurück in Hamburg. Die Leute tragen wieder Kopfhörer.
Das Brandungsgeräusch der großen Stadt.

Als ich feststelle, daß meine Kamera auch bei Sonnenuntergängen funktioniert, glaube ich zunächst an eine Sonderfunktion, die mir bislang verborgen geblieben war. Bis ich entdeckte, daß in der Brandung tote Tiere treiben.
Alles normal also; kann ich auch wieder arbeiten gehen.
