Dienstag, 11. Oktober 2005


Haltet mal den Film an, der Projektor ist kaputt

Dieser Tage geht es die halbe Zeit so: Meine Finger machen tapp-tapp auf der Tischplatte. Oder tock-tock gegen die Stirn. Ich schaue aus dem Fenster, sehe das gelb-braune Laub der Bäume und lasse meine Gedanken schweifen.

Jeder Baum eine Vorstellung. Meine Finger machen tapp-tapp. Jedes Blatt eine Leinwand. Meine Finger machen tock-tock. Ich höre das Wispern der Bäume und das Knistern der Blätter. Das Raunen und Rauschen. Das ist der Wind, natürlich. Immer nur der Wind. Meine Finger machen tapp-tapp. Eine neugierige Katze belauert zwei spielende Eichhörnchen. Und hangelt gefährlich durchs Geäst. Meine Finger machen tock-tock.

Lungern, lauern, harren. Wer zuerst zwinkert, hat verloren.
Das werde nicht ich sein.
Ich kann lange warten.
Meine Finger machen tapp-tapp.


 


Montag, 10. Oktober 2005


Der Tod, das Mädchen und ich

Honey, I'm a prize
And you're a catch
And we are a perfect match -
Like two bitter strangers

(Pavement, "Spit On A Stranger")

"Bau mir ein Haus aus den Knochen von Cary Grant" (Foyer des Arts).
Den Abschied vom Palast der Republik begleitet die Fraktale IV, die sich diesmal mit dem Thema Tod auseinandersetzt. Da sieht man eine Fliege auf dem Seziertisch, die auf eine Nähmaschine (aber keinen Regenschirm) trifft, vermüllte Bastelzimmer wie bei Dieter Roth, ein angeschnittenes, etwas körperweltliches Mammut, Fotos von toten, wenn nicht gar zerstörten Kriegs- und Gewaltopfern mit der undekorierten Offenheit von Rotten.com, dazu allerlei Skulpturen und Gewerke, deren inhaltlicher Zusammenhang mit dem Ausstellungsthema sich erst auf dem zweiten oder dritten Blick erschließt.

Oder auch gar nicht. Von der Terrasse der Fraktale-Lounge jedoch kann man einen Sonnenuntergang genießen, der sich offenbar gewaschen hat. Es liegt nämlich überhaupt kein Grauschleier mehr über der Stadt.

"In den 80ern hatte ich sogar Sex", erkläre ich meiner Begleitung, die in diesem Jahrzehnt in die Grundschule kam, gewichtig. "In den 90ern nicht, da hatte ich keinen Sex. Bis auf den heißen Sommer 1995, da hatte ich sogar zweimal Sex. Einmal davon habe ich es mir allerdings selbst gemacht."

Meine Begleitung mag die 80er nicht, und ich merke, daß meine Generation auch bereits ein Thema für diese Fraktale-Ausstellung wäre. Gerade aber spiegelt sich mein schales Gesicht golden in der verrotteten Außenhaut des Glaspalastes.
Ich sage, ich könnte das Hermetische Café verpfänden und von dem Geld ein Schiff kaufen. Das würde ich trunken machen und den großen Fluß hinuntersteuern. Wie in dem Film Drei Blogger und ein Boot.

"Mach mal", sagt meine Begleiterin und hält ihr schönes Gesicht in die letzten warmen Strahlen der Sonne. Ich beschließe, noch in der ersten Nacht die beiden anderen Blogger über Bord zu werfen, gleich hinter der ersten Schleuse. Dann würde ich mein Schiff nur noch von schönen Begleiterinnen entern lassen.
Als das Gewissen mich wegen der Schlechtigkeit meiner Gedanken übermannt, beginne ich ein wenig zu weinen. Meine Begleiterin sieht mich aufmerksam an, und ich rede etwas von der Sonne, die mich irritiert hätte.

A connection was made
Through a shared love of science

(The Faint, "Birth")

Ich merke, wie ich manche Fragen nicht beantworten kann mit Worten. Weil ich dazu lieber eintauchen würde in eine orgiastische Wolke aus Lärm. In eine diffuse Wand aus dem Feedback einer sehr lauten elektrischen Gitarre. Sie würde unter meinen Händen wimmern und stöhnen, die harten Membranen der Lautsprecher mit einem Ächzen nach außen stülpen und einen Klang schweben lassen, der sich nicht beschreiben ließe. Er würde mich einhüllen wie ein schützender Mantel aus reiner Energie, eine Welle bilden, die mich forttrüge, Segel mit Wind füllte - und zwar solange, wie es mir gelänge, den Sog des Klangs, das Feedback nicht abreißen zu lassen.

Aber gleich wie man nie Zeugen aus Zeit und Geschichte, auf die man sich für seine absurden Behauptungen beruft, bequemerweise am Nebentisch sitzen hat, so steht nie ein solches Instrument in Griffweite, wenn man mal eins braucht, um ein Gefühl zu erklären. So trägt man Rätsel, weicht aus in Sprachen, unentzifferbar wie der zeichenhafte Flug der sich sammelnden Zugvögel am abendlichen Himmel. Ein großes Fragezeichen.

Vielleicht aber ist die Antwort diesmal auch ganz einfach. Vielleicht nämlich ringt man dem Tod einfach etwas Zeit ab.

(Fraktale IV: Tod. 25 Positionen zeitgenössischer Kunst zum Phänomen Tod. Palast der Republik, Berlin. Noch bis zum 22.10.2005)


 


Freitag, 7. Oktober 2005


Dada est mort, vive Dada!

Wer die Aufführung eines Dada-Balletts im Stile Jacques Tatis sehen will, begebe sich in Hamburg zur Mittagszeit zur Kreuzung Dammtor.

Hamburger Autofahrer, schon immer nach der Devise verkehrend "Wie, Kreuzungsbereich freihalten? Was soll das heißen?", versammeln sich dort zur großen Atonale. Von allen Seiten fahren sie unbeirrt von Ampelphasen mit ihren Autos auf die Mitte der Kreuzung und stehen bald verkeilt und fest und durcheinandergewürfelt wie Ravioli in der Dosensuppe.

Sogleich geht es fröhlich los mit dem Hupkonzert. Denn Hupen befreit, denn Hupen beschleunigt, Hupen levitiert blockierende Fahrzeuge aus dem Weg. (Das ist wissenschaftlich erwiesen.) Und so legen die Hamburger - sonst mit der ihnen eigenen Kaufmannszurückhaltung gesegnet - los mit einer Verve, die man sonst nur in Rom auf der Piazza vermuten würde. Da wird wild gestikuliert, mit beiden Händen auf das Lenkrad getrommelt, vereinzelt sogar die Seitenscheibe heruntergekurbelt. Man redet, flucht und schreit. "Vive Dada! Mach weg, du Arsch!"

Ein Fest! Eine anarchistische Sause, bei der ab und an sogar Streifenwagen der Polizei mitschwofen. Die Beamten bleiben meist gelassen. Sie sind nur Ordner und weisen die Plätze. Loge links, Parkett rechts. Herr Kid steht am Rande, träumt und mümmelt sein Pausenbrot.


 


Mittwoch, 5. Oktober 2005


Merz/Bow #1

I should have noticed the beauty,
And not how it hurt,
Wet like a cherry,
In a bloodbath of birth.

(The Faint, "Birth")

Das schwarze Papier ist alle. Nun muß ich bunte Post-its kleben.

*

Vertrauen is something like a Turm aus Bauklötze im Småland.

*

Deutlich sprechen. You say tomato. I say, fuck off.

*

"Erwachsen zu sein ist wie einen Tacho bis 210 zu haben und nur 60 zu fahren".

*

Älter werden heißt auch, nicht mehr in jeder Kneipe eine Lieblingsbarfrau zu haben. Jetzt habe ich nur noch in jedem Supermarkt eine Lieblingskassierin.

*

Geschichte wiederholt sich tatsächlich. Einmal als Tragödie, einmal als Komödie. Erst New York, New York, dann What's Up, Doc?.

*

Das trunkene Schiff.

*

Bei den Nightmare before Christmas-Action-Figuren nicht wissen, ob ich lieber Sally oder mein Alter Ego, den bösen Dr. Finklestein, nehmen soll.

*

Folgen des Absinth-Abusus oder eine seltene Hormonkrankheit. Plötzlich sehe ich auf dem Mittelstreifen Blumen blühen, und die Frauen sehen so schön aus. Ich zwinkere ihnen allen zu.

*

Staub ins Auge bekommen. Ich bleibe bei Sally.

MerzBow | von kid37 um 17:27h | 15 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Dienstag, 4. Oktober 2005


Zieht blank, wenn ihr Männer seid!

So, wer schon immer mal dem Wiener Aktionismus auf die Sprünge helfen wollte, erhält jetzt seine Chance. Frau Ginger hat eine mannstolle Aktion initiiert und benötigt dafür herrschaftliche Unterstützung.

Eine gute Gelegenheit für Blogger, mal nicht über Worst BJs und ähnliches zu lamentieren, sondern auch selbst einmal Flagge zu zeigen.

Geschnitten oder am Stück ist wohl herzlich egal, nur dezent sollte es sein. Und Photoshop-Spielereien und andere Verlängerungshilfen sind sicherlich überflüssig.

(Ich kann das Foto erst nach Dienstschluß machen, Frau Ginger. Mein Kollege schaut schon ganz irritiert.)


 


Montag, 3. Oktober 2005


Das Kabinett



Den Tag des deutschen Flohmarkts beging ich mich der Sehr Schönen Frau™, die mir wieder spektakuläre Geschichten erzählte, eisenhart zudem. Ein Blog hat sie aber immer noch nicht. Da sind mir zuviele Bekloppte unterwegs, sagte sie, und ich wußte in dem Moment wirklich nichts zu erwidern, was dieses Argument hätte entkräften können.

Warten wir also ab. Weil wir ein paar Bücher fanden, die jemand weggeworfen hatte, kauften wir weiter nichts. (Gabriele Wohmann, die habe ich ja schon lange nicht mehr gelesen.) Kein Konsum am Einheitstag! Nur stille Einkehr im Warenwirtschaftscafé.

Die Fingerpüppchen oben sind übrigens auch Deutschland. Vor allem der Teufel, Superman und die Krankenschwester. Ich glaube, dieses Trio wird uns demnächst regieren - ich habe da nämlich schon meine Finger drin! Zudem wird bereits allerorten eifrig gestrickt, denn gerade Handarbeit soll sich wieder lohnen. So liest man die Welt auf dem Flohmarkt. Und wäre meine Wohnung nicht so klein, ich besäße eine voll funktionsfähige Zahnarztapparatur aus den 50er Jahren. Muß ich halt so allen auf die Nerven gehen.


 


Montag, 3. Oktober 2005


Dem Trunke

Wir, in unserm Alter, wollen wissen,
Daß der Weg nun wieder rückwärts führt. -
Glücklich wer den freien Drang noch spürt,
Das Getrunkne über Bord zu pissen.

(Joachim Ringelnatz, "Kopf hoch, mein Freund!" 1935.)

MußmehrRock'n'Roll, sag' ich. Zuviel pomadige Ruhe oder bloßes Troll. Briefe zerschneiden und neu, alles neu, zusammensetzen. Meindein Sinn und Deinsein Sinn. Am Ende der Prozente, neige, neige ich den Kopf. Durchs Glas betrachtet, zieht Buchstabensuppe den unscharfschweifenden Nachhall. Machma , du JesusMaryChain. Issaber bißchen wie MachtBefreiungUngeheureEnergie, lall ich. Machma Rev'lution, ich sach Come on, Baby, gib mir Fender.

Am Tag, an dem ich eine Rickenbacker kaufe, wird ein Ruck durch dieses Blog gehen. Denn ich bin Rockland. Prost.

Radau | von kid37 um 00:55h | 13 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 



Liebe Werbepsychologen, 5

Als ich heute morgen mit eisernem Besen mein Haus-und-Hof durchfegte, fiel mir dieses verblüffende Werbematerial in die Finger. "Gesund" und sehr "stilvoll" präsentiert sich eine überaus reichhaltige Menükarte von Gäng Panäng Tofu bis zum Yam Nua (scharf) und schlichtem Soundso-Fleisch auf Szechuan-Art. Eine echte kleine Rundreise also, wie im Text versprochen.

Krieg? Da nehme ich Red Nog Gaijotgte für 6 Euro. Terror? Wie wäre es mit Mongobohnen-Salat für 2 Euro, gefolgt von gerösteter Ente süß-sauer (9 Euro)? Wirtschaftskrise? Da hilft die Getränkekarte: Tshing Tao Bier, Flasche nur 2 Euro. Wer mag, darf auch Pflaumenwein ordern, ohne Stiel, sehr saftig, 7 Euro die Flasche.

Und Arbeitslosigkeit? Vielleicht das Zweimal gebratene Schweinefleisch (7 Euro)? Oder ist das zu sehr altes System? Neue Ideen braucht das Land. Die Fastenspeise Chop Suey ist mit 6 Euro nicht ganz Hartz-IV-tauglich, aber den Mund macht es schon wässrig.

Mit leerem Magen wird man nur unsicher. Frau Modeste, die mich unermüdlich immer wieder auf die Vorzüge der asiatischen Küche aufmerksam macht, hat recht. Nichts hält so sehr Leib, Magen und Gedanken zusammen und löst so viele Probleme wie eine gute Mahlzeit. Eine heiße Badewanne vielleicht, wenn man eine Frau ist.

Endlich Werbung, die hilft, und das sehr konkret. Ich bin begeistert.