Dienstag, 3. Mai 2005


Sonic Nurse


Im Süden meines Hauses, jenseits des Kanals liegt das Tierheim. Nachts höre ich dort die Kampfhunde bellen, die gerne ein wenig Spielen möchten. Zur anderen Seite hin, wiederum meinem Haus gegenüber, befindet sich die Berufsschule für Krankenschwester. Die bellen lungern immer in der Mittagspause vor der Tür, weil sie gern ein wenig Rauchen möchten. Wenn ich mir die freundlichen jungen Damen so betrachte, die sich dort mit Teer einölen, stelle ich mir vor, wie es wäre, ein paar von ihnen abhängig zu machen. Von mir natürlich, denn vom Nikotin sind sie es ja bereits.

Dann kämen mittags zwei oder drei von ihnen durchs Stiegenhaus geschlichen, die vier Etagen hoch bis zu meinem Dachgeschoß, um mir ein Süppchen zu kochen. Ich klagte dann ein wenig über ein Zwicken hier oder ein Zwacken dort. Vielleicht gäbe ich auch vor, etwas am Kopf zu haben, mich dünkt, daß wär wohl das Überzeugendste. Ich legte dann ein wenig berufsbegleitende Musik auf, während wir Brot und Suppe schmausten. Sonic Youth vielleicht oder Leonard Cohens "Sisters of Mercy".

Abends, nach Schulschluß, schleppte ich die herzensguten Dinger zu
Feinkunst Krüger und zeigte ihnen Poster und Grafiken von anderen jungen Krachmachern. Aber nur bis zum 21.5.

(Feinkunst Krüger, "ART OF MODERN ROCK - THE POSTER EXPLOSION".
Poster und Grafiken von Derek Hess, Jay Ryan, Lindsey Kuhn, Chuck Sperry und Ron Donovan. Vom 30.4. bis 21.5.2005)


 


Montag, 2. Mai 2005


Schundbloggen

Is this the Kid's final defeat? Das möchte ich nicht hoffen. Gegen den alten Affen Angst habe ich schon so oft gerungen, das müßte doch mit dem Teeufel zu... ups.
Nun gut, The Planet of Sardines jedenfalls liefert eine Menge schöner, obskurer alter Pulp-Fiction-Cover. Wer sich also für Retro-Sci-Fi-Ästhetik, Altherrengrusel, finnischen "Schokki" und natürlich gewachsene Frauen ohne erhöhten Kleiderbedarf interessiert, kann hier den ein oder anderen Schatz heben. Tentakelmonster und andere, zumeist vom Geschlechtstrieb moralisch verdorbene Wesen aus dem Weltall, Werwölfe und muskelbepackte Barbaren bevölkern einen Kosmos, der gar nicht so weit von unserer Realität 2005 entfernt zu sein scheint. Jedenfalls, wenn man morgens die U-Bahn benutzt.


 



Kein Brocken auf dem Herzen

Irre Schatten, lauft nur zur eurer Süchte Ziel;
Niemals gelingt es, eure wütende Gier zu stillen.
Den Scharen der Lebendigen fern, Umschweifende, Verdammte,
Lauft durch die Wildnis wie die Wölfe hin;
Erfüllt , was euer Los, maßlose Seelen,
Und entflieht der Unendlichkeit, die ihr im Innern tragt!

(Charles Baudelaire)

Zur Walpurgisnacht fielen dieses Jahr wegen Völlerei die handelsüblichen Orgien aus. Statt unmoralischer Eskapaden und Besenflügen rund um den Blocksberg machten die Bibis und anderen Spaßhamster vielfach nur noch "blp" oder ein anderes onomatopoetisches Erika-Fuchs-Wort. Börps, vielleicht. Dabei soll man doch nicht eine Todsünde durch die andere ersetzen.
Völlerei. Lust. Lüge.

Denn niemals gelingt es, die wütende Gier zu stillen. Wie wild es auch war. Die feinen Narben und Striemen damals, kaum sichtbar zwar, ließen sich nicht verbergen. Ich erinnere mich, wie ich die Linien nachzog, sachte und widerstrebend, den Finger eintauchend in die Abenteuer von Fremden. Auch sie war mit einem Mal fremd, eine Unbekannte, die sich entfernte, mit immer größerer Geschwindigkeit. Als hätte sie in Flugsalbe gebadet, möchte man meinen. Doch keine Salbe konnte die Kratzer und Spuren tilgen, die selbstverständlich ohne Bedeutung waren. So wie die magischen Runen, die rings um das Haus auf Mauern und Wände gemalt worden waren, über Nacht. Vielleicht sollten es auch ganz normale Graffitis sein, weiß man das? Obwohl, wie normal kann es sein,ihren Namen zu lesen, direkt vor der Tür, eingeschrieben in die Herzen anderer Leute? Das hat doch einen Geschmack, hat es doch. Und zwar nicht meinen.

Leider gab es damals die praktischen Helfer nicht, die heute mich vor dem Bösen schützen. Ich jedenfalls bin gewappnet, bekreuzige mich vor meinem kleinen Heiligenschrein und wische den Rest mit dem feuchten Tuch einfach ab. Nothammer raus, Scheibe einschlagen und fort damit. Kratzer, Spuren, alles. Purifikation. Wenn ich mir also den künstlichen Bocksfuß umschnalle und Panflöte spielend ums schwefelsaure Feuer springe, male ich mir seit Neuestem ein großes Haha ins rußverschmierte Gesicht. Kein faustisches Grübeln dann. Denn Erinnerungen treibt man nicht mit der Flasche aus. Und auch nicht mit der Peitsche. Man muß immer selbst durchs Feuer gehen, junge Hexen jagen, ein wenig herumhopsen, auch mal albern sein, frech grinsen und am Ende "börps" sagen. Ganz unverfroren. Sollen die Raben krächzen.


 


Donnerstag, 28. April 2005


The Fragile Circus

Angesiedelt zwischen den surrealistischen Welten eines Jan Svankmajer und den absurden Grotesken tschechischer Zeichentrickfilme aus den 70er-Jahren drehen sich die grausamen Geschichten des Fragile Circus um Liebe, Verlangen, Schmerz und Verlust.


 



For The Benefit Of Mr. Kite

Hübsche Entspannung.

(via Charming Quark)

Tentakel | von kid37 um 17:05h | noch kein Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Mittwoch, 27. April 2005


Moralbloggen

Das mache ich jetzt immer mittwochs.

Nächste Woche: Tierversuche
Sterbehilfe
19 Jahre Tschernobyl - Atomkraft, nein oder danke?
1000 ganz legale Steuertipps


 



Aufklärung

Irgendwie ist das ja alles putzig. Vermutlich sind solche Menschen oder auch solche von ihrer eigenen "Aufrichtigkeit" noch regelrecht berauscht.

Dabei liegt die Antwort auf der Hand.

Ich wiederhole es auch hier noch einmal gerne: Wahrheit ist eine Bürde, die man nicht einfach irgendwo abladen kann. Die muß man schon hübsch selber tragen.

Und, was immer Ihr tut: Keine Details.


 


Dienstag, 26. April 2005


Ceremony

There was too many ways that you could kill someone
Like in a love affair, when the love is gone

(New Order, "1963".)

Noch etwas am Fenster sitzen, nachts noch. Im Radio läuft Nancy Sinatras "Bang Bang". My baby shot me down, singt sie, ein wenig leise. Remember when we used to play? weht es heran. Unten am Wasser quakt eine unruhige Ente. Vielleicht sollte ich mir das Rauchen angewöhnen. Ich könnte einen tiefen Zug machen, das rote Glimmen der Zigarette betrachten und die Asche in den Kanal schnippen.


 


Montag, 25. April 2005


Art Brut



Als junger Student, also irgendwann in den frühen 80ern, stieß ich auf die Arbeiten des österreichischen Psychiaters Leo Navratil. In Landeskrankenhaus in Klosterneuburg/Gugging entdeckte und förderte er das kreative, künstlerische Potential von psychisch Kranken. Seine wissenschaftlichen Arbeiten über Literatur und Schizophrenie und die editorische und kuratorische Tätigkeit im Bereich der bildenden Künste machten ihn und Patienten-Künstler wie "Alexander" oder Oswald Tschirtner (der als "O.T." durch ein Album der Einstürzenden Neubauten bekannt wurde) berühmt.

Navratil stellte fest, daß durch eine Psychose ein poetischer Sprachgebrauch zu Tage treten kann, seiner Theorie nach sind "Kreativität und Psychose [...] kortikale Interpretationen höherer Erregungsstufen des zentralen vegetativen Nervensystems, die sich überschneiden können."
(Literatur und Schizophrenie, 120.)

(Als junger Mensch, wenn man sich sowieso "anders als die anderen" (Family Five), ausgestoßen und "irre" fühlt, zum Dichter berufen sogar, identifiziert man sich mit solchen grenzgängerischen Theorien, die einen durch Selbsterniedrigung zum Erhabenen führen sollen, besonders leicht. "Genie und Wahnsinn" heißen die Schlagworte solcher (post-)pubertären Seelenzustände, wobei die Betonung häufig allzu voreilig auf dem und liegt.)

Der von Navratil zusammengestellte Band Art brut und Psychiatrie (Wien: Brandstätter, 1999.) versammelt einige der eindrucksvollen Zeichnungen, die seine Patienten wie "O.T.", Johann Hauser und August Walla über die Jahre angefertigt haben. Skurille, oft linkische Zeichnungen, die nur vordergründig wie die von Kindern wirken, aber häufig viel besser im Format sitzen oder andere, "reifere" Züge des Gestaltens zeigen. Andere Werke zeigen elaborierte, versponnene, von ideologischen oder religiösen Wahnwelten und Symbolen durchzogene, nachgerade pedantisch ausgeführte Wandgemälde und rohe, den Bildern Dubuffets nahestenden, von sexueller Thematik durchzogene Kritzeleien.

In den umfangreichen Erläuterungen Navratils erfahren wir, wie die kreativen Prozesse durch den Verlauf der Krankheit beeinflußt wurden und wie sich die unterschiedlichen Stile ableiten lassen. Jean Dubuffet gehörte zu den ersten, die das Besondere der Art brut erkannten und förderten. Für ihn war die künstlerische Isoliertheit der psychisch Kranken, das "Primitive" und ihre "Unbelecktheit" von zeitgenössischen künstlerischen Strömungen das herausragende Merkmal einer wirklich eigenständigen Kunst.
Nach Donald W. Winnicot ist alle Kunst nur Mittel, Schmerzen und Enttäuschungen der Realität zu ertragen. Der Schizophrene ist demnach den weitesten Weg gegangen - hat er sich doch eine komplett eigene Welt erschaffen.

--
Leo Navratil. Art brut und Psychiatrie. Wien: Brandstätter, 1999.
ders. Gespräche mit Schizophrenen. München: dtv, 1978.
Gotthard Wunberg (Hrsg.). Literatur und Schizophrenie. München: dtv, 1977.
Andreas Franzke. Dubuffet. Köln: dumont, 1990.


 


Sonntag, 24. April 2005


Ha! Ha! Houdini!

His name was fake but he was not.
He was no alchemist. No scientist.
No trickster plucking radishes from
top hats. No cup and ball man. No
heaven-born conjurer. But a man who
sought heaven thru natural magic.
He studied our savior's tactics religiously.
He was internally airborne.

(Patti Smith. Ha! Ha! Houdini! 1977.)


Als Kind wollte ich nie Zauberer werden. Ich mochte keine Illusionen und schon gar keine Delusions. Wirkliche Macht, ja. Ein Hexer sein, omnipotent das Böse zurück in die tiefen Lovecraft'schen Brunnen oder Lehrerzimmer stoßen, aus denen es hervorgekrochen war. Aber der simple Kartentrick, das weiße Kaninchen, das ich aus dem Hut ziehen würde, das war nichts für mich. Jetzt auf dem Flohmarkt war ich fasziniert. Welche Mühe sich da jemand gegeben hatte. Vielleicht ein Vater, der so eine Zauberbude für sein Kind gezimmert hatte.
Wie rührend, und wie schön.

Ich begreife langsam, daß ich keinem kleinen Houdini eine solche Bühne basteln werde. Da wird mir niemand mehr was aus dem Hut zaubern. "Überleg dir mal, warum keine Frau ein Kind von dir haben will", giftete mich mal eine an, von der ich dachte, sie wolle es vielleicht. Ich verstand die Frage nicht und wußte auch keine Antwort. Vielleicht, weil ich zuviele Geschichten erzähle. Oder welche erfinde von Zauberern und verwunschenen Bäumen, in denen Schätze verborgen liegen, wenn ich die simplen, die rationalen Antworten nicht wußte.

Gut, das ist für Kinder sicher nicht gut. Die müssen heute so viel wissen. Da kann man sehr viel falsch machen, wenn man nicht aufpaßt. Mir mußte erst ein Vierjähriger sehr ernsthaft erklären, wie das funktioniert mit der Familie. Mit Vater, Mutter, Kind. Auch ihm konnte ich die Frage nicht beantworten, wo denn eigentlich meine Kinder seien. Zu meinem Namen addierte sich keine Funktion.

Gerne hätte ich gesagt, ich bringe die Kohlen rauf (wenn schon nicht nach Haus). Aber man heizt ja heute zentral oder nimmt sich eine Wärmflasche, das ist bequemer so. So war ich mehr Gast, jemand vom Hauspersonal. Na ja, "Freund", sagt man dazu heutzutage. Ein Substitut. Ein Josef. Ein Houdini. Denn der große amerikanische Magier konnte sich nicht nur aus den unmöglichsten Situationen befreien, er blieb auch kinderlos. Eine Folge womöglich der vielen Röntgenversuche, die sein Bruder, ein begnadeter Arzt, an ihm unternahm.

Houdini hatte einen Ziehsohn, den er beim Vaudeville-Theater kennenlernte. Es war der spätere berühmte Filmkomiker Buster Keaton. Der Mann, der nie lachte.

On October 31, with his brother Hardeen at his side, Houdini passed away. His last words were, "I'm tired of fighting". Dann befreite er sich von den letzten Fesseln.