Sonntag, 13. März 2005


Une Tendresse Infinie

Aus dem Schmodder recken sich die Lebensgeister. Das mag man jetzt symbolisch sehen, kindlich faszinierend ist es immer wieder.

Gesprächsfetzen und Erinnerungsreste geistern durch meinen Kopf. Ein unheimlicher Wandschrank, wie in einer Geschichte von Edward Gorey.
"Jedenfalls liegt das maßgebliche Konzept dieser thematischen Konzeption in der Erinnerung an eine bedeutende Zäsur, die der Frau nicht nur einen Platz in der Kunst, sondern auch in der Kneipe erkämpft hat", schreibt Till Briegler in der SZ (25.1.2005).

Endlich mal eine vitalistische Betrachtung, die ich unterschreiben kann. Gerade singen die Les Hurlements d'Léo vom wogenden Leben zwischen Tischen und Tresen. Vielleicht heißt es auch "unter den Tischen" und "hinter dem Tresen" - so gut ist mein Französisch nicht.

Extreme Menschen können auch extrem faszinierend sein, geisterte es in den letzten Tagen auch ab und an durch Gespräche. Das macht sie so extrem gefährlich. Vor Tagen fürchtete ich, ich müsse das Telefon erschießen.
"Doch wenn man schreit/und ist nervös gleich/dann werd ich bös' gleich/und bleibe still", heißt es in dem Schlager von 1919 ("Hallo, du süße Klingelfee").
"Wenn ich dich scheiden seh/das macht mir heut schon Kummer/ich kriege keine Nummer/beim Selberwählen jetzt/ist doch immer besetzt."

Wann wird es den ersten Schlager über Blogger geben?

Selberwählen. Ganz genau. Oder nur Bilder schauen, nicht reden. Pflanzen beim Keimen zusehen. Immer mehr Pflanzen, gieriges Treiben, bis alles erstickt. Sein Leben in ein schwül-dekadentes Treibhaus verwandeln. Entropie. Dann wieder alles Geranke, alle Ornamente abschneiden, zerhacken, mit Energie durchblitzen wie ein zackiger Holzschnitt. Nur noch Schwarz und Weiß.


 



Der gefundene Satz, 14

"Die Shimmywut hatte jetzt alle ergriffen. Gläser, Stühle, Kellner, Arme und Beine flogen durch den Saal. Ich sah noch, wie Emil der spanischen Sybille den Skalp herunterriß, während sie ihm mit Indianergeheul die Hutnadeln ins Gesäß bohrte, dieweil er krampfhaft bemüht war, aus dem Banjo, mit dem er umkränzt war, herauszukommen.
Dann mußte ich meine ganze Aufmerksamkeit dem Ansager widmen, der mich mit seinen andauernden "Knock out"-Gekreisch verrückt machte. Ich brachte ihn durch die gütige Vermittlung eines Stuhlbeins zum Schweigen."

(Harry Reuss-Löwenstein, "Shimmy". Klamauk: Grotesken und Burlesken. 1925.)


 


Samstag, 12. März 2005


Dunkle Kammer - helle Kammer



Der Prozeß des Zeugens - so oder so, natürlich - ist ungleich befriedigender als dieses endlose Starren in einen Computermonitor. Das Tasten im Dunklel, geführt nur von einem schwachen, roten Licht. Das Warten auf die ersten Spuren im Bild, das im Entwickler liegt. Dann das Erkennen.
Immer noch ein alchimistischer Prozeß.


 



Schon mal üben für die Academy Awards

Die wirklich sehr zarten Erwähnungen von Kuchen in letzter Zeit erinnerten mich an eine alte Geschichte von Lyssa, die ja einst die sehr schöne Frau als stehende Wendung einführte (übrigens auch ein hübscher Spruch für ein T-Shirt). Dieselbe hat ja immer noch kein Blog - und das ist wohl für alle besser. Denn so schön wie meine sehr flüchtige Bekannte auch ist und so gut sie auch Kuchen backt - ein Blatt vor den Mund nehmen kann sie nicht.

Ihren Geschlechtsgenossinnen begegnet sie oft spottend, Männern aber auch. Man könnte sagen, daß sie generell dem Phänomen "Mitmensch" leicht ungeduldig gegenüber eingestellt ist. Erzähle ich ihr irgendetwas Possierliches über eine Frau, heißt es oft, "Hat die ihre Tage?". Berichte ich über meine Tage, heißt es, "Zick' nicht rum, sei ein Mann!" Beklage ich mich, weil in irgendeinem Blog stand, "kid37 ist ein Vollpfosten!" - zieht sie nur leicht einen Mundwinkel nach oben und bemerkt trocken: "Diese Blogger sind manchmal erstaunlich hellsichtig."

Dabei ist sie ein weitaus geselligerer Typ als ich. Solange man ihr nicht auf die Nerven fällt (mir kann man ja zu oft zu lange auf die Nerven fallen). Dann neigt sie ungefragt zu messerscharfen Analysen oder schlagfertigen Repliken, die kaum Raum für Interpretationen, wohl aber für fruchtlose Diskussionen lassen. Das Beste ist, man lacht einfach mit. Denn sie ist eine Frau und dazu noch furchtbar klug, also befindet man sich als Mann gleich doppelt im Unrecht.

Zum Glück hat die sehr schöne Frau auch ein paar negative Eigenschaften, sonst wäre es ja nicht auszuhalten. So hat sie einen grauenhaften Musikgeschmack und interessiert sich generell für "Kram". Außerdem kann sie von ungefähr allen 5.000 Kinofilmen, die sie je sah, die komplette Darstellerliste herunterbeten und anstrengungslos aus dem Kopf aus jedem Buch zitieren, das sie jemals las. Das ist zwar völlig nutzlos, nervt aber schlichter gestrickte Menschen wie mich ungemein.

Jedenfalls kenne ich die sehr schöne Frau schon sehr lange und muß sagen, sie hat mit mir manches Mal schweres Gepäck tragen müssen. Oder wollen. Wie auch immer. Trotz diesem oder jenem mußte ich aber feststellen, daß man sich nicht nur auf die Kuchen der sehr schönen Frau stets verlassen kann.

Und dafür möchte ich Danke sagen.


 


Freitag, 11. März 2005


Mein Hirn ist mein Haus

Das ist nach meinem Geschmack. Japanese Psychiatric Art - Werbung für Medizinische Geräte von 1956 bis 2003.

(via Nase)

Tentakel | von kid37 um 22:21h | 6 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 



Augen geradeaus, Mann!

Haha, wie surreal. Habe gerade "Taste the new Snatch" gelesen. Dämliche internationale Claims.

Andererseits...


 


Donnerstag, 10. März 2005


Die ekstatische Melancholie

Vor den eigenen Träumen muß man warnen. Vor Man Rays scham- verlorenen Fön auch.

Heute Abend auf der Vernissage von "Begierde im Blick - Surrealistische Photographie" drängelte sich wieder einschlägig bekanntes Kunstvolk durch die luftarmen Katakomben der Hamburger Kunsthalle. Jedes zweite Wort war "surreal", und das ist auch ungefähr das, was mich an dieser Kunstrichtung so stört. Kaum eine avantgardistische Kunstrichtung ist so dermaßen für den Mainstream kanonisiert wie dieses traumhafte Ratatui des ungehemmt Beliebigen. Im Namen dieses Bric-a-brac sind hochspannende, aber sicherlich auch die nervendsten und brechreizerregensten Manifestationen entstanden, deren Aussageplattheit nur noch von symbolistischen Werken aus dem Kunstleistungskurs 11/2 übertroffen wird.
Ich sage nur, Miró- oder Magritte-sammelnde Zahnarztfrauen.

Anders als die Liebe ist dieses Objekt unzerstörbar.
Man Ray: Indestructable Object, 1923


Als alter Dadaist (nach meiner expressionistischen Phase) ackerte ich mich Anfang der 80er Jahre durch die Pissoirs des linken Seine-Ufers, hielt mich kurzzeitig für die Reinkarnation Man Rays und traf tatsächlich meine Kiki de Montparnasse, eine wunderschöne Frau von unberechenbaren Charakter. Die Beziehung war schwierig, surrealistisch also, nach heutigem Sprachgebrauch. Vor allem neidete sie mir, daß ich in Figueras, einem ehemals verschlafenem Bergdorf und seit Jahrzehnten Heimat des Dalí-Museums, das Regentaxi gesehen hatte, das dort im Innenhof steht. Das ist eine interessante, eher sexuell geprägte Installation, denn dem Passagier des Taxis, einem Mannequin, kriechen Schnecken über die entblößte Brust.

Von solchen Brüsten habe ich heute noch surrealistische Visionen

In unserem hedonistischen Zirkel an Nachwuchs- surrealisten und Sonntagsdadaisten ging es oft lustig her, auch wenn über Trunk, Entkleidung und Gelächter das kreative Schaffen oft zu meinem Leidwesen zu kurz kam. Bald gab es Zank und Zwist, Max Ernst zog nach Berlin und Bréton warf mich aus der Surrealistischen Internationale, dann bezwang mich Duchamp beim Schachspielen, wie man sehr gut hier sehen kann. Wir hatten - ganz surrealistisch - Kiki als Preis ausgelobt, und so war ich sie los.

Hans Bellmer band die Puppen einfach fest.

Irgendwann war ich es aber leid, in Träumen und Visionen rumzu- bohren, mich über die banalen Erkenntnisse anderer Leute auszutauschen ("Nichts ist langweiliger als die Träume anderer Menschen", Robert Smith). Ich las "Nadja", weil ich bei Patti Smith das schöne Zitat "Beauty will be convulsive or not at all" gefunden hatte. Ich wühlte mich auf der Uni durch Freud, Breton, de Sade, Éluard, Artaud und Bataille, verwarf aber bald diese immer gleichen Fixierungen im Analen, Genitalen, Surrealen. In spätpubertären Jahren findet man das natürlich toll, dieses Revolutionäre, Ach-so-Wahnwitzige und Befreiende. Bis man lernt, das eigentlich ein "angeblich" vor diese Begriffe gehört. Dieser Kampf gegen "bürgerliche Werte" - das Spießertum also - wurde getragen von Bürgersöhnen (und -töchtern), die ihre eigenen Obsessionen, ihre eigenen Verklemmtheiten zu Grabe trugen - auch darin den 68ern vergleichbar. 1924 sicher eine wichtige Sache, 1954 ganz bestimmt auch. Aber 1984 kam ich zu dem Schluß, daß man diese Kämpfe nur noch symbolisch, im Rahmen der eigenen Entwicklungsgeschichte nämlich, für sich selbst austragen muß. Surrealismus ist eine Coming-of-Age-Geschichte, ein Erwachsenwerden und Zähmen der eigenen Dämonen. Adoleszente Anarchie, und dann ist aber auch gut, der Rest endet im Späthippietum.

Irre: Heute hält man die Träume und Visionen fest, digital oder im Postershop.

Heute liefen Frauen mit medusenhaftem Haar durch die Ausstellung und fabulierten davon, so sein zu wollen wie Dora Maar. Kleinbürgerliche Mädchenträume vom Künstlerleben, das sie keine drei Wochen durchhalten würden. Dennoch muß ich der Ausstellung Lob zollen. Auch wenn manche Beiordnungen eher willkürlich (Brassaï) erscheinen und dafür die surrealistische Moderne (Joel-Peter Witkin, Gilles Berquet, ungefähr 500 Tschechen bspw.) fehlt. Aber dafür entschädigen viele Vintage-Prints und vor allem das (nachgebaute) begehbare Modell aus der Surrealismus-Ausstellung von 1938. Man zieh mich gleich der Beschädigung dieses Objekts - nur weil ich die Klappe, auf der deutlich "Sortie" steht, ihrer Bestimmung zuführte.
Man einigte sich mit meiner kunstdidaktischen Hilfe darauf, daß dies auch so sein müsse, und passiert war schließlich nichts. (Anders als auf der letzten Documenta, wo irgendjemand aus Versehen aus einer Installation eine lose aufliegende Eisenstange riß, und das Personal kurzzeitig darüber debattierte, den Künstler einfliegen zu lassen, während ich vergeblich anbot, das Ding einfach wieder zurückzulegen.)

(Begierde im Blick. Hamburger Kunsthalle, noch bis 29. Mai 2005)


 



Liegen lernen

"Barbara ist so versunken in ihrem nihilistischen Universum, ich glaube, die macht sich gar keine Gedanken, was sie von Helmut halten soll. Wahrscheinlich würde sie ihm ein Zitat von George Bataille entgegenschleudern."

(Sophie Rois über ihre Rolle in Liegen lernen.)

Super 8 | von kid37 um 18:38h | noch kein Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Mittwoch, 9. März 2005


Freunde, Römer, Mitverschwörer!

Liebe Mit-Hypochonder,

gerade stelle ich fest, daß die Scheibe norwegischer Zuchtlachs (wer sowas ißt, hat es nicht anders verdient, ich weiß), die ich gerade gegessen habe, vor ein paar Tagen schon entsorgt gehört hätte. Solange ich also noch im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte bin die Finger auf die Tastatur bekomme, möchte ich noch schnell zwei, drei Dinge sagen.

Es war nett mit Euch, Ihr konntet mir alle nicht das Wasser reichen habt mich oft erfreut, und wie Erich Mielke schon sagte: "Ich liebe euch doch alle."
Eine Bitte: Wer mich noch schnell per Mail beschimpfen will, wie es heute gleich zwei, drei Menschen versuchten (Mondphase? Ich habe leider nicht so ein Plug-in in meinem Blog), denke sich doch bitte mal etwas anderes als "Arschloch" aus. Das habe ich in den letzten zwanzig, dreißig Jahren schon so oft gehört. Ich kenne sogar Menschen, die kann man nachts um drei wecken und zu einem solchen Statement bringen. Ein bißchen origineller darf es in einer solchen Hop-oder- Top-Situation ruhig sein.

Das war es aber auch schon. Sollte ich gleich also komplett wirres Zeug faseln verstörter als sonst wirken oder mich gar nicht mehr melden - nun, die Antwort kennt nur das Mindesthaltbarkeitsdatum.

(Ob wohl eine Flasche Wodka zur inneren Desinfektion das Mittel der Wahl ist?
Ist ein Assistenzarzt im Publikum?)


 



Element of Crime

Demnächst wohl auch in einem vernünftigen Lichtspielhaus in eurer Stadt. Die Wiederaufführung von Lars von Triers fulminantem Debüt The Element of Crime. Ein Inspektor, selbst ein psychisches Wrack, ermittelt in einem desolaten, heruntergekommenen Europa im Fall eines Serienmörders. Morbide, schräg, hermetisch. Ein Film für Somnambule, Neopathetiker und romantisch Liebende.

(The Element of Crime. DK 1984. Regie. Lars von Trier.)

Super 8 | von kid37 um 20:53h | 2 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 



Oralabora

Als ich erfuhr, daß Lunally Croft auf drangvoller Suche nach dem "blauen Stab" ist, fiel mir ein, wie es damals war. Sagen wir, im 12. Jahrhundert. Männer suchten nach der blauen Blume, meist reichte ihnen auch ein blaues Tuch, das von den Burgzinnen herunterwehte, ehe sie sich davon- tristanisierten oder -parzivalten. (Der Sinn für getragene Unter- wäsche ist vielen Troubadouren ja bis heute erhalten geblieben.)
Wie aber mußten sich die Frauen verdingen? Die Hildegards und Edelgundes hinter Klostermauern?

Nun, die starrten inbrünstig zum romanischen Fenster hinaus und dachten beteten sich eins. Glaubens- freudig und kontemplativ gossen sie tagsüber mächtige Altarkerzen, nur unterbrochen von den Stundengebeten, die sie an die Gelübde der Beständigkeit („Stabilitas“) und des Gehorsams („Oboedientia“) erinnern sollten. Tätigkeit und Denken fielen in eins und spiegelten sich in der Architektur.

Frau Croft zieht es hinaus in die Welt auf der Suche nach Abenteuern und dem blauen Stab. Statt einfach mehr aus dem Fenster zu sehen. Sobald man aber im klösterlichen Leben und im Glauben Fortschritte macht, weitet sich das Herz, und man geht den Weg der Gebote Gottes in unsagbarer Freude der Liebe. (Aus den Regeln des hl. Benedikt)

Das leuchtet doch ein.


 


Dienstag, 8. März 2005


Im Winter mußt du in den Harz

"Eigentlich wollten wir Kollegen K. für den Job, aber nun nehmen wir auch dich. Also, äh, gerne auch dich." Die Abteilungsleitung verplapperte sich heute. Das paßte gut zum Spiel beim Mann mit dem Geldsack, der die Leute shanghait und bezahlt. "Jeder ist ersetzbar - auch du. Ich selbst natürlich auch, haha." Draußen gäbe es 5,2 Millionen, die würden das gerne machen, was ich mache. "Man kommt sich da natürlich erpresst vor, ich weiß." Ich weiß es auch. Man kommt mit dem Betriebsrat. Die Entlassungen gerade, du verstehst. "Der fragt sich, warum ich mich nicht einklage", antworte ich ruhig. "Oh. Nun ja..." Dann kommt das Lied, Wenn ich könnte, wie ich wollte... und ich halte mir innerlich die Ohren zu. Als er bei Ich hoffe, du nimmst es nicht persönlich ankommt, fahre ich dazwischen.
"Ich persönlich muß sehen, wie es weitergeht. Offenbar geht es das nicht."
Ich fasse die Fakten zusammen. Ich trage mehr Verantwortung, das werde aber nicht honoriert. "Wir sind dir ja auch sehr dankbar...", sagt er. Ich freue mich. "Aber es gibt ja auch keine Alternative in der heutigen Zeit. Oder gibt es eine?" Ich lächle ihn an mit meinem süßen Lächeln. "Du", werde ich vertraulich, "es gibt immer eine Alternative." Er schaut skeptisch. "Herr Sakanachan hält einen Platz auf der Parkbank für mich frei. Aber da muß ich mich bald entscheiden, denn in Zeiten wie diesen, sind auch diese Stellen sehr beliebt."
Ich erkläre, daß ich keinen alten Bauernhof in Mecklenburg finanzieren und auch keinen kleinen Kindern Winterschuhe kaufen muß. Daß ich dies oft bedauerte, aber daß dies auch meine Freiheit bedeute. Er will mir ein Buch über einen Amokläufer leihen, das er gerade liest. Ich bedanke mich.

Ich merke immer wieder, daß ich irgendwie nicht gut genug bin für diese Fabrik. Immer nur bin ich Ersatz, denke ich und gehe die Alternativen durch. Ziegenzüchten in der Steiermark, das wäre was. Oder Fotograf für das Crack Whore Magazine. Manchmal denke ich, wenn es eh keine Perspektive gibt, warum nicht eigene Gartenzwerge entwerfen, anstatt die von anderen Leuten bemalen? Na ja, erstmal wie immer. Erstmal weitermachen. Ich habe jetzt Physiotherapie. Gegen den krummen Rücken.


 


Sonntag, 6. März 2005


Exorcism of the Last Painting I ever made

Naked, save for a thin gold chain around her neck, constantly available for public scrutiny [...] through sixteen fish-eye lenses set into the walls of the space
she occupied, Tracey Emin spent three weeks of February 1996 cloistered within
a studio-cum-living space[...].
(Chris Townsend, "Heart of Glass". In: Merck/Townsend (Hrsg.). The Art of Tracey Emin. London, 2002.)

Die britische Künstlerin Tracey Emin sollte ein Blog führen. "I always say if I didn’t make art, I’d probably be dead", sagte sie einmal. Welcher Jammerblogger kennt das nicht. Auch spektakuläre Ausbrüche unter Alkoholeinfluß lassen in mir eine bekanntlich selten gezupfte Saite klingen.

In der Austellung Emotion konnte ich einmal hineinlugen in das berühmte bestickte Zelt. Der Titel dieses Objekts Everyone I Have Ever Slept With 1963-95 (1995) wird ja häufig mit "Alle meine Liebhaber" falsch übersetzt. Dabei ist (oder "war" muß man besser sagen, denn das Zelt wurde beim Brand der Sammlung Saatchi vernichtet) dies ein ganz unschuldiges Werk in der Tradition der Inventarlisten des American Journals. Sicher sind alle ihre Liebhaber dort verzeichnet, aber auch der Name ihrer Mutter und die ihrer abgetriebenen Feten. Schlafen, das Bett oder Zelt teilen ohne übertragenen, romantischen Überbau, sondern als nüchterner, emotionsloser Tätigkeitsbegriff.

Was mich an Tracey Emin anrührt, ist ihre Rücksichtslosigkeit. Schonungslos steht sie Ihrem Publikum gegenüber (das nicht gerufen wurde, sondern sie gefunden hat) - sich selber aber auch. Bis hin zur unerträglichen Albernheit und Selbstentblödung. Auch das kennen wir vom Bloggen, das Selbst-Referentielle, das Selbst-Vergewissernde. Die Aufmerksamkeit, die Tracey Emin "genießt", ist eine Mischung aus Neugierde, Voyeurismus und Projektion und Selbst(be-) spiegelung. Dabei streift der Schmerz des sich selbst sezierenden Künstlers den des sich selbst erkennenden Betrachters - und landet häufig genug im Treibgut des Banalen: "Ist es von Woolworth (3,99) oder ein echter Emin (1000,-)?" fragt ein bekannter Kunst-Cartoon und zeigt eine getragene Unterhose.

Lebst du noch oder bloggst du schon? könnte man den Verständnislosen entgegenhalten. (Selbst-)Entblößung, Grenzerforschung, Bloggen als Kontaktanzeige - manchen Traditionalisten möchte man gleich Emin ihrem Malerfreund Billy Childish entgegenrufen:
"You are stuck! Stuck! Stuck!" (Der, ebenfalls nicht auf den Kopf gefallen, sogleich die Bewegung der "Stuckisten" ins Leben rief.) Emins Karte im durchaus satirischen Künstlerquartett liest sich jedenfalls wie ein Blogmanifest.