
Dienstag, 21. September 2004
Von draußen vom Lidl, da komm ich her.
Und ich muß Euch sagen, es weihnachtet sehr.
All über all im Regalgehäuse
Sah ich buntverpackte Nikoläuse.
Auch Lebkuchen, Spekulatius, Kalender zum Advent
- ist der Sommer vorbei, der Herbst schon verpennt?

Ich persönlich glaube ja, daß die freie und Hansestadt Hamburg das schlechteste Radioprogramm dieser Welt hat. Möglicherweise hielte Berlin wie so häufig auch in dieser Hinsicht noch eine Überraschung für mich parat, aber dort war ich schon länger nicht mehr. Jedenfalls nicht zum Radiohören. Weichgespülter aber als im Norddeutschen habe ich es nirgends erlebt. Ich habe GEZahlt, da darf ich auch mal vom Leder ziehen. (Zum Glück gibt es den Deutschlandfunk. Wortbeiträge als letzte Ausfahrt aus Hammerbrooklyn.)
Dann aber fährt man in die Bretagne und kann dort einen Sender hören, der 24 Stunden am Tag alte Punkscheiben, Independent Rock, Dance-Hall-Reggae, Dub, Dark Wave und sogar Industrial (in der Mittagsschleife wohlgemerkt, nicht versteckt in der Nacht) zu einem aufpeitschend-düsteren Potpourri mischt. Ich meine, Küstenfunk! Man macht einen auf leger und nasse Badehose an einsamen Sandstränden und wird mit Adrian Sherwood, Gun Club, Pixies, Sonic Youth, Current 93 oder Queen Adreena (oder waren es doch Daisy Chainsaw?), The Cure, „Nü Ordörr“ oder irgendwelchem Undergroundzeug beschallt, das ich nicht identifizieren konnte. (Kennt übrigens noch jemand E.S.G. aus den frühen 80ern?)
Morgens um 7 ist die Urlaubswelt in La France nicht nur in Ordnung, sondern meldet sich mit den Cramps zu Wort. Dazwischen kommen exquisit-schrummelige 60er-Jahre Ye-Ye-Beat-Scheiben französischer Provenienz oder auch mal ein Stück von den Beatles oder den Doors. Kein Gequatsche dazwischen (sonst die große Domäne des Franzosenfunks), dafür abends redaktionell mit Hingabe betreute Spartenprogramme. Da rotzt dann schon mal zwei Stunden Death Metal durch die Membranen. "Gorrrrrgoroth!" "Berserrrrrker!" "Our Bodies Decomposed" und so ein Dreck. Beim NDR würden die sich bei solchen Vorgaben ja gleich Angsttröpfchen ins Höschen machen. Oder meinetwegen bei NoEnjoyFFNDeltaAlster95Nora. Aber nein, statt mit Axtgitarren oder Stahlgeschredder terrorisiert mich diese elektromagnetische Schundfunk-Bande mit Klingeltönen und jaulendem Top-40-Brei. Und glaubt nicht, daß Freie Stotterkombinat wäre besser. Stockend vorgetragene Proseminarreferate über die Probleme homosexueller Migrantinnen im Maghreb interessieren mich alten Sack doch nicht - auch wenn ich ehrlich überzeugt bin, daß diese Sache ein ganz heißes Eisen ist. Ehrlich: Guglielmo Marconi hat das nicht gewollt! Hört Bretonen jetzt!
(Malheureusement: Die kennen noch kein Internetz. Folglich gibt es keinen Stream und nur den Zwang, dort öfter mal hinzufahren. Und sei es zum Radiohören.)

Montag, 20. September 2004
Nach meiner Heimkehr gestern nacht vergaß ich, Brot aufzutauen.
Nun mußte ich eben Kuchen essen.

Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht
Der Schnellzug tastet sich und stößt die Dunkelheit entlang.
Kein Stern will vor. Die ganze Welt ist nur ein enger, nachtumschienter Minengang,
Darein zuweilen Förderstellen blauen Lichtes jähe Horizonte reißen: Feuerkreis
Von Kugellampen, Dächern, Schloten, dampfend, strömend...
nur sekundenweis...
Und wieder alles schwarz. Als führen wir ins Eingeweid der Nacht zur Schicht.
[...] Und dann die langen Einsamkeiten. Nackte Ufer. Stille. Nacht. Besinnung. Einkehr. Kommunion. Und Glut und Drang.
Zum Letzten, Segnenden. Zum Zeugungsfest. Zur Wollust. Zum Gebet. Zum Meer. Zum Untergang.
(Ernst Stadler. 1914.)

Drei tolle Tage in Köln. Nach Jahren wieder und außerhalb der jecken Saison. Leider war die Cartier-Bresson-Ausstellung im Museum Ludwig schon beendet. Dafür gab es eine kleine Schau mit reichlich anzüglichen Zeichnungen von Picasso und die sowieso recht ansehnliche Dauerausstellung. Dummerweise war ich ein wenig malade, so daß ich auch vergessen habe, mir den Namen eines Objektkünstlers zu notieren, über den ich noch etwas nachlesen wollte. Überdies sah ich zwei schöne japanische Filme: Dolls von Takeshi Kitano, eine symbolgeladene, traurige Studie über die Liebe. Und IKU, ein schriller Pink Eiga, diesmal im Gewand eines skurrilen japanischen Sci-Fi-Pop-Art-Pornos. Barbarella in Cyberland mit hübschen Referenzen u. a. an Blade Runner.
Miss Monolog übrigens kann sehr gut kochen, auch wenn es für mich natürlich wie immer auch ein Käsebrot hätte sein dürfen. Aber wer sich in diesen und anderen Dingen so viel Mühe gibt, wird eben mit einem hungrigen Esser belohnt.

Sonntag, 19. September 2004
Es gibt eben auch schöne Tage.

Freitag, 17. September 2004
Im Rahmen eines selbstfinanzierten Forschungsstipendiums hat es mich gerade nach Köln verschlagen. Gelegenheit, ein wenig rheinische Luft zu schnuppern. Und kölsche Tön' zu hören. Bei einem kleinen Rentnertreff vor einer Kirche setzte ich mich solidarisch zu den alten Leutchen auf die Bank. Hier wird ja noch viel geredet. Nicht wie bei den norddeutschen Opis, die den ganzen Tag auf der Bank sitzen und höchstens mal "jo jo" oder gesteigert "och jo" herausbringen.
Die Hausfrauen klären selbstbewußt die Mittagsfrage auf der Straße ("Isch henn noch wat von jestern, det muß auch ens weg."), dazwischen wird Lokalpolitik verhandelt ("Un' dat mit'm Effzeh, dat is' ne Affenschaand!"). Man ist hier im Veedel nicht allein.
Im Dom lauschte ich einer Orgelprobe. Allein dafür hat sich der Bau dieses Mammutwerkes schon gelohnt, sollte mal jemand fragen. Diese Architektur führt ja dazu, daß man selbst sich ganz klein fühlt. Aber ein wenig Demut soll ja nicht schaden. Und auch das verklemmte "a" dieses gekaperten iMacs soll mich nicht von weiteren Forschungen abhalten.
"Bleiben Sie dran, Herr Kid?" - "Ja, sischer dat."

Donnerstag, 16. September 2004
Lauren Bacall feiert heute ihren 80. Geburtstag. Vielleicht schlägt sie noch einmal die Beine übereinander wie in The Big Sleep und fragt uns was. Mit rauchiger Stimme. Glückwunsch.

Donnerstag, 16. September 2004
Manchmal möchte man dazwischenhauen. Oder mit vorgehaltener Knarre zum weitermachen zwingen.
Dann, wiederum, geht es mich nichts an.

Ich stopfte mir eine Pfeife, ließ die Schachfiguren aufmarschieren, inspizierte sie auf französische Rasur und lose Knöpfe und spielte ein Meisterschaftsturnier durch zwischen Gortschakow und Meninkin, zweiundsiebzig Züge bis zum Remis, ein Musterbeispiel für den Kampf der unwiderstehlichen Streitmacht gegen das unbewegliche Ziel, eine Schlacht ohne Waffen, ein Krieg ohne Blut, und die komplizierteste Vergeudung menschlicher Intelligenz, die sich außerhalb einer Werbeagentur nur finden läßt.
Raymond Chandler. Der lange Abschied. 1954.

Dienstag, 14. September 2004
"Mir tut's leid um sie", sagte er langsam. "Sie ist einfach durch
und durch ein Biest und ein Flittchen. Könnte sein, daß ich sie irgendwo
auch wieder ziemlich gern habe. Eines Tages wird sie mich brauchen,
und dann werde ich der einzige in ihrer Nähe sein,
der keinen Schürhaken in der Hand hat."
(Raymond Chandler. Der lange Abschied. 1954.)
Der Schlaf vor Morgengrauen ist ja bekanntlich der erquicklichste; und so bin ich seit jeher wenig amüsiert, werde ich um vier Uhr nichtsahnend aus dem Schlummer gerissen. Ob die Ursache nun blutdürstige Frauen oder liebeshungrige Mücken oder umgekehrt sind, meiner Ungnade seien die Unglückseligen gewiß. Was sage ich: In solchen Momenten bin ich bereit zu töten.
Gewöhnlich liegt man nichtsahnend in irgendwelchen verrenkten Positionen zwischen Himmel, Erde und Deckengewirren, bevor man die Propellergeräusche eines kleinen Erkundungsmoskitos mehr erahnt als wirklich auf dem Akustikradar wahrnehmen kann. Ehe man die Bedeutungstiefe dieser luftaufklärerischen Aktivitäten noch richtig verarbeitet hat, übertönt schon das scharfe Sägen der Sturzkampfmaschinen - Stechrüssel voraus - jegliche strategischen Finessen der Obersten Heeresleitung. Flak ist angesagt, Sperrfeuer und zwar sofort. Wildes Gefuchtel mit den Händen also in der Luft, es ist Krieg, und alle Mann zu den Waffen. Natürlich bringt das unkoordinierte Gehampel der allerersten Flugabwehr gar nichts. Im Gegenteil. So mancher hat sich im Friendly Fire schon die eigene Ohrmuschel plattgehauen und kann sich mit dem Resthörvermögen das hämische Gezirpe des heimtückischen Feindes anhören, der schön längst seine provozierenden Runden in sicherer Deckenlampenhöhe dreht. Mein Gegner aber hat die Gefahr des ersten fahlen Morgenlichtes der bretonischen Sonne unterschätzt. "Resistance!" gellt eine Stimme in mir, als ich den pumpenden Körper einer Fokker-D III-Moskito an der weißen Wand neben mir erspähe. In grimmiger Entschlossenheit und wohlabgeschätzten Bewegungen greife ich zum Buch auf dem Nachttisch. Raymond Chandler. Der lange Abschied. Es ist ein kurzer Prozeß, Pour le Mérite, und Blut färbt den frühen Morgen rot. Schweigend nehmen wir Abschied, die Rote Baronin und ich.
Der bretonische Spätsommer strotzt vor vitalem Saft. Draußen in der keltischen Natur überkommen selbst den verzärtelten Städter die archaischsten Gelüste. Was kann es also schöneres geben, als zwischen phallisch in die Höhe ragenden Menhiren wie ein halbnackter Pan durch die Botanik zu springen und den in der Sonne bratenden Eidechsen was auf meiner Flöte vorzuspielen? Und so genoß ich es - zum Zeichen meiner Manneskraft mit einem ungefähr drei Meter langen Baguette bewaffnet - wie ein junger Faun durch die Heide zu gaukeln und allerlei Unsinn auszuhecken. Leider war an diesem Tag auch Schwarmtag der Ameisen. In dichten grauen Wolken hatten sich hunderttausende flügge gewordener Prinzessinnen über ihren Nestern versammelt, bereit, sich mit jedem Ameiserich der Umgebung zu paaren. Die Hormone schienen den rolligen Biestern gehörig die Sinne vernebelt zu haben. Hielten mich vielleicht für einen Iren. Jedenfalls stürzten sich ganze Scharen der bissigen kleinen Emsen auf mich, bereit, mir gierig die Flöte zu zernagen. So müssen sich die Beatles gefühlt haben, wenn sie aus Versehen den falschen Bühnenausgang genommen hatten, dachte ich, und suchte schleunigst das Weite. Immer das Motto meiner Altvorderen gedenkend:
The man who runs away, lives to fight another day.
Am Strand unten war es jedoch nicht viel besser. Im Allgemeinen halten sich die Franzosen mit dem Oben-ohne-Baden ja gepflegt zurück. Aber natürlich mußte sich ausgerechnet am halbeinsamsten Strand der Bretagne auf dem Nachbarhandtuch eines dieser Gauloise-verrauchten Luder umständlich ihres Oberteils entledigen, Halleluja. Und während ich noch dachte, klar, und gleich noch die 0190-TV-Spot-Nummer und sich ausgiebig die Brüste mit Sonnenmilch einreiben, während ich im Urlaub bin, Halleluja, da fing sie an, sich ausgiebig die Brüste mit Sonnenmilch einzureiben. Ich begann schon Stimmen zu hören, so wie Quentin Tarantino in From Dusk Till Dawn, als er Juliette Lewis gegenüberstand, Halleluja. Zum Glück lag knapp vor meinen Füßen eine ziemliche Menge recht kalten Atlantiks. Der kühlte ziemlich schnell, Halleluja. Das stolze Baguette, das ich nach wie vor fest umklammert hielt, knickte rasch ein und verfiel in kurzer Zeit zu klumpigem Brei. Ich war sehr stolz auf mich, während ich mit kräftigen Zügen schaumiger Gischt und saugenden Wellen trotzte. Man hat als älterer Herr schließlich Vorbildfunktion. Halleluja.
Am nächsten Tag fand ich Absolution. Für böse Taten und schmutzige Gedanken. Auf dem großen Pardon, einer Art bretonischer Wallfahrt, von Ste.-Anne-la-Palud. Da werden im Anschluß an einen schlichten Dankgottesdienst in alten Trachten Heiligenbildnisse einmal um die Düne getragen. Und das ist wirklich ergreifend. Da findet alles seinen Platz und auch ein Spötter einmal Ruhe.
