Freitag, 6. Februar 2004
Heute heißt es Obacht, die gelbe Laterne am Himmel ist fett und feist. Schon jetzt kann ich sehen, wie mir die Haare auf dem Handrücken wachsen und die Zähne lang werden.
Frauen schleichen sich zum gemeinsamen Menstruieren auf brache Äcker, Männer rotten sich in ungezähmte Horden zusammen, um sich ein wehrloses Blutopfer zu reißen... oder selbst gerissen zu werden. Notfalls legen sie die Eckkneipe von nebenan in Schutt und Asche - nur, um sich am nächsten Morgen an nichts erinnern zu können.
Während auf den Äckern die Alraunen sprießen...
Hütet Euch, hütet Euch! Schließt Fenster und Türen, verstopft Euch die Ohren und bedecket die Augen!
Donnerstag, 5. Februar 2004
Da ich ja meine medizinische Studien zu Gunsten der Kulturwissenschaften aufgegeben habe, habe ich eine gewisse Vorliebe für die Doktores in der Literatur. Ein nicht immer ehrbarer Berufsstand, mit nicht immer ausgeprägtem Sinn für ästhetische Verhältnisse. Nehmen wir diesen heruntergekommenen Vertreter seiner Zunft. Mag er aspirierenden Erben einer vom Aussterben und zahlreichen Gesundheitsreförmchen bedrohten Halbgötterdynastie als eindringliche Mahnung gelten.
Die Zeit der Yachten und Bauherrenmodelle auf hippokratischen Kredit ist vorbei.
"Ein Stapel medizinischer Bücher, neben Wälzern verschiedenster Arten, reichte beinah bis zur Decke, wasserfleckig, staubbedeckt; darüber ein kleines vergittertes Fenster, die einzige Lüftung. Auf einer Kommode aus Ahorn, offenbar nicht europäischer Herkunft, lagen ein paar verrostete Geburtszangen, ein verrostetes Skalpell, ein paar andere seltsame Instrumente, deren Zweck ihr rätselhaft war, ein Katheter, einige zwanzig zumeist leere Parfumflaschen, Pomaden, Cremes, Lippenstifte, Puderdosen, Puderquasten. [...] Ein Abfalleimer stand am Kopfende des Bettes, bis zum Rand mit widerlichstem Unrat gefüllt. Der Raum hatte etwas erschreckend Entwürdigendes, ähnlich einem Zimmer in einem Bordell, wo selbst den Unschuldigsten das Gefühl überkommt, Mitschuldiger gewesen zu sein. Dennoch hatte er auch etwas muskulös-männliches an sich, war ein Mittelding zwischen einem chambre à coucher und dem Trainingsring eines Boxers. Ein Fluidim der Feinseligkeit herrscht in einem Raum, den eine Frau nie betreten hat. Jeder Gegenstand bekämpft die eigene Fessel, und über allem liegt metallisches Aroma, wie von Schmiedeeisen auf dem Amboß.
Auf schmalem eisernem Bett, zwischen groben, dreckigen Leintüchern lag der Doktor, in einem Damennachthemd aus Flanell."
(Djuna Barnes. Nachtgewächs, 1936.)
Diese etwas unsentimentale Beschreibung klingt, als hätte sich Flora Sigismondi ein neues Szenario für ein Video mit Marilyn Manson ausgedacht. Sie würde den Raum in ocker- und rostfarbene Töne tauchen und dieser Martin Manson würde sein milchiges Auge umherschweifen lassen... die Türe ginge auf und herein käme: DR. BENWAY! Jawohl, der Mann mit dem abgebrochenen Medizinstudium und dem gestohlenen Rezeptblock. Der begnadete Arzt, der gebrochene Herzen mit einem Toilettenpümpel wieder zum Schlagen bringt. Dieser Dr. Benway also käme herein, träte den oben erwähnten Abfalleimer mit dem widerlichen Inhalt zur Seite, rieb sich die Hände und sagte: Marvin Manson, heute ist ihr Glückstag!
Und er nähme eines der fleckigen Gläser von der Kommode, füllte sich zwei Finger breit Gin aus seiner Taschenflasche hinein und täte einen kräftigen Schluck.
Nächste Woche muß ich, glaube ich, mal wieder hin. Well, well, well.
Mittwoch, 4. Februar 2004
Nur, um mal zu erklären, wie das funktioniert. Nein, nicht neu erfinden. Weder visuell, noch musikalisch, noch inhaltlich. Selbst strukturell gilt immer noch die alte Zeichensetzung. Ein dünner Junge mit einer elektrischen Gitarre (der darf sich auch Patti Smith nennen)... nimmt die alten drei Akkorde ("So you want to be a Rock'nRoll Star")... und die altbekannte Energie, aufgefrischt durch den Zorn seiner jungen Jahre ("My Generation")... und dann macht er elektrischen Sex auf offener Bühne, stellt sich bloß ("Rock'n'Roll Nigger")... und wenn er nicht sexy genug ist... dann läßt er ein junges, verletzliches, melancholisches Mädchen singen ("Dancing Barefoot")... und sexy sein. Und aus einem sehr samtenen Untergrund schwillt ein jugendlicher Klang... über einem simplen Rhythmus... ein kontrolliertes, leidendes Feedback... eine weggetretene, wimmernde Gitarre ("'xcuse me, while I Kiss the Sky")... ein paar hingehauchte Worte... von Sehnsucht und Einsamkeit... an bestimmten Wochentagen ("Sunday Morning")... ganz schlicht, ganz einfach.
Ich glaube, ich traf sie zuletzt in Paris. Sie machte nichts Neues.
Aber für mich war sie neu.
Montag, 2. Februar 2004
Da es hier in diesem Blog gerade ein wenig religiöser als sonst zugeht, hier gleich mal eine Frage.
Mir flattert ja auch so ein plastikverschweißter Werbe-dingsda allwöchentlich ins Haus. Ab und an schau ich auch mal rein. Und was sehe ich hier? Was soll das sein? Offensichtlich spielen hier Kinder etwas nach. Aber was?
Ach so, bekannte Szenen aus dem Buch der Bücher, ich sehe es auch gerade. Die Speisung der 5000. Petrus der Fischer gehörte ja zum Team. Und hier, das andere? Noch bekannter. Paradiesisch.
Aber wieso zwei Äpfel? Ist das die reklametypische Übertreibung? Nimm zwei? Oder gleich mehr, immerhin sind die ja in einer Tragetasche verpackt. He, Adam! rief Eva aus dem Garten aller Gärten. Hilf mir mal die Äpfel reintragen... Nö, jetzt nicht, ich schnupper noch am Fisch. Ach, was schnuppern. Nö, ich steck grad meinen Finger in 'nen Fisch. Wobei wir bei der anderen Konnotation sind.
Los auf die Couch! Siegmund, Siegmund, was willst du uns sagen? Kleine Jungs angeln sich Fisch? Mädchen zeigen ihre Äpfelchen? Au wei, au wei. Und das in einem Prospekt prüder amerikanischer Lebensmitteldiscounter. Gab es da nicht mal vor ein paar Wochen einen Artikel, nachdem es in den USA bei dieser Kette Ärger gab... wegen irgendwie unmoralisch aufgeladener Dinge? Hm, hm. Nichts gegen diesen Laden. Die haben tolle Angebote. Und bestimmt gute Anwälte. Aber gute Reklamefachleute? Man ist ja nur froh, daß die Shampoo-Flaschenbewerbung nicht in ähnlicher Manier durchgezogen wurde. Vollzogen, meine ich.
Ist nämlich heute angekommen. Ihr wißt jetzt nicht, worum es geht.
Ihr dürft Euch aber trotzdem mit mir freuen.
Stimme am Telefon. Selbst nicht erkannt werden. Wer?
Tant pis, c'est moi..
Vorsichtshalber nenne ich meinen vollen Namen.
Und es stimmt. Egal, wie schlimm es ist, Kinder verbinden.
Wenn man welche hat, heißt das.
Das war selbst bei meinen Eltern so.
Nach mehr als zehn Jahren trafen sie sich auf der Intensivstation. Interessant übrigens. Nie an Geburtstagen.
Update: Ist schon ok. Wer ist nicht verwirrt. Gute Besserung.
Sonntag, 1. Februar 2004
"Was brauchst du dramatischen Unterricht? Den wirst du noch genug im Leben bekommen. Verlaß dich drauf."
(Anna Cordsen auf den Wunsch ihrer Tochter Emmy, Schauspielerin zu werden. Emmy Cordsen, spätere Emmy Ball-Hennings, 1885-1948. Schauspielerin, Modell, Muse, Sängerin, Dadaistin, Mitbegründerin des Cabaret Voltaire in Zürich.)
So, ich stelle fest, daß hier in unserer Kuschel-Community zu selten wirklich ernste Themen behandelt werden.
Neulich sah ich Pedro Almodóvars "Sprich mit ihr - Hable con ella". (Zwei Männer freunden sich im Krankenhaus an, als ihre Freundinnen durch einen Unfall ins Koma fallen. Als die eine schwanger wird, gerät deren Freund in große Bedrängnis.) Beim Blättern im Presseheft stieß ich auf eine interessante Geschichte, die Almodóvar zu seinen Quellen für diesen Film zählt.
Ich schalt' schon mal mein Handy aus.
"In Rumänien fühlte sich der junge Nachtwächter eines Leichenschauhauses zu einem toten Mädchen hingezogen. Die Einsamkeit des Todes und die Einsamkeit der Nacht münden in "zu viel Einsamkeit", weshalb der Wächter seiner Sehnsucht nachgibt und mit der attraktiven Leiche schläft. Die folgenden Ereignisse sind eines jener Wunder menschlicher Natur, die der Papst wohl nicht allzu sehr schätzen dürfte. Als Reaktion auf die amouröse Belästigung erwacht das Mädchen wieder zu Leben, da sie an einer Art Katalepsie litt und nur scheintot war. [...] Obwohl die Familie des wiedererweckten Mädchens dem Vergewaltiger dankbar war, konnten sie ihn nicht vor dem Gefängnis bewahren. Sie brachten ihm Lebensmittelpakete und beschafften ihm einen Anwalt. Die ungewöhnliche Situation führte zu einem kuriosen Dilemma: Vor dem Gesetz war der Junge nur ein Vergewaltiger, aber nach Ansicht der Familie, die sich von ihren Gefühlen hinreißen ließ, hat der Junge die Tochter wiederbelebt. Es war von Anfang an eine wunderbare Geschichte, die mich rundum inspiriert hat, einschließlich des "moralischen Dilemmas", das auch in Sprich mit ihr - Hable con ella vorkommt." (P.A.)
Samstag, 31. Januar 2004
Gerade eben sinngemäß im "Wort zum Sonntag":
"Schalten sie ihr Handy aus - nur Gott ist immer erreichbar."
Vor ein paar Tagen musste ich etwas sehr privates hören. Kaum würde ich einen Raum betreten, hieß es, würde sich meine Traurigkeit wie eine radioaktive Wolke über alles legen.
Dabei bin ich ein total witziger Partylöwe, ehrlich.
Es muß daran liegen, daß ich manchmal seltsame Lieder in der Endlosschleife höre. Wie Françoise Hardy und ihr "Tous les Garçons et les Filles".
Oder überhaupt irgendwas von der "frühen" Françoise Hardy.
"If her songs are melancholy at times, it is a melancholy without pretension, for much of her beauty lies in her sadness and her honesty and her innocence."
(Liner notes zu Françoise Hardy "Greatest Recordings")
Dazu lese ich Françoise D'Eaubonne. Die sich selbst betrügen, 1960. Der Roman der Rimbaud-Kennerin ist nach dem Film "Les Tricheurs" (1959) von Marcel Carné mit dem jungen J.P. Belmondo entstanden. Das Buch zum Film. Junge Nihilisten in St. Germain de Près. Auf diese gleichgültige Art düster.
Morbide. Hoffnungslos.
Desparat, heißt das, glaube ich.
Zeit, eine Party zu bewölken. "Je ne suis là pour personne" (Françoise Hardy)...
Freitag, 30. Januar 2004
Ok, was haben die, was ich nicht habe?
Und hier, hier, der auch!
Ja genau. Indianer Nah-am-Wasser-gebaut war gerührt. Die Schnittchen-Affäre geht in eine neue Runde. Dieser Versuch war ja schon sehr herzerwärmend, ging aber zu diesem Zeitpunkt in die falsche Richtung. Andere Frauen hingegen zagen und wägen und wissen nicht, was sie tun sollen.
Das ist nicht gut, sage ich allen da draußen.
Nein, genau SO muss man es machen, meine Damen! Männliches Gegreine und Suppenkaspertum einfach lächelnd beiseite schieben und zur Tat schreiten. Das nenne ich vollendete Gastfreundschaft. Aber etwas anderes würde man von Menschen, die solch schöne Küchen bewohnen, auch nicht erwarten. Danke!