Montag, 9. März 2020
Now I feel like a leaf floating in a stream
(Neil Young, "Walk Like A Giant")
Wie sich ältere Leser hier erinnern, habe ich ja lange in einer Gartenzwergfabrik gearbeitet. Keine große Kunst, aber was Nettes und überaus Sinnvolles für die Leute, manchmal spöttisch belächelt, aber im Grunde eine coole, kreative Sache. Wie manche wissen, ist damit nun Schluß, weil die gesamte Firma entkernt und ohne Stammpersonal, wenn auch mit den alten Gußformen, weitergereicht wurde. Letzte Woche habe ich die wirklich allerletzten Arbeitsmaterialien abgegeben und den letzten Sachverwaltern im zugigen Gebäude (tumbleweed!) kämpferisch die Faust gezeigt und auf Hamburgisch "Tschüß!" gesagt.
Jetzt erst mal Altsackphase, feucht-fröhliche Auskehr, Fenster auf und frische Luft, Gedankenkeller ausmisten und Schuhe frisch geputzt. Mit 37plus denkt man schon mal an Fahrtrichtungsänderung raus aus der Drei-Meilen-Zone. Stichwort: die alte Familienimkerei wiederbeleben und mit sieben Hühnern und drei Ziegen auf den Resthof im Mecklenburgischen ziehen. Eine Garagenband (Name: "Drei Pfeifen im Wind") gründen. Nach New York ziehen, um es dort zu schaffen.
Viele muntern mich auf ("Junge Leute werden immer gesucht!"), andere prüfen schon mal die Bausubstanz. Ich habe fünf Schubladen voller Pläne, fühle mich aber auch ein wenig müde. Aufgabe also: einmal komplett umstülpen, dann wie ein stures Pferd voran. I wanna walk like a giant.
>>> Geräusch des Tages: Neil Young, Walk Like A Giant
Donnerstag, 5. März 2020
Schutzmasken sind all überall ausverkauft. Ich habe nun einfach eine alte Kupferplatte poliert, zurechtgebogen und gelötet und einen Helm zurechtgedengelt. (Und bevor wieder einer meckert: Ja, es fehlen noch die Nieten und natürlich der Schlauch für die Sauerstoffzufuhr.) Bald kann ich auch mal wieder raus und die Sonne genießen.
Willst du aber auch das Internet erobern, so heißt es, vergiß die Katze nicht. Wenn ich dann aber mal ein mir gerecht werdendes Katzenbild im Internet posten will, stößt das nicht immer auf die erhoffte Anerkennung. Mit anderen Worten: Nicht alles, was man in Workshops über neue Medien lernt, führt auch zum Erfolg. Die Lage ist häufig unter schwierigen Umständen wie in einer dunklen Tiefsee erstarrt.
Ich könnte es dafür mit dem Schreiben probieren. Das machen viele, so höre ich. Und viele schreiben in letzter Zeit in der heimischen Provinz angelegte Kriminalromane. Ich könnte daher, sollte ich bald einen Resthof mit drei Ziegen und sieben Hühnern bewirtschaften, ein bäuerliches Milieu beackern und aus dem Bauchladen heraus den vorbeituckernden Treckerfahrern nach ihrer Demo jeweils ein Exemplar verkaufen. Der Auftakt meiner Kriminalromanreihe hieße nämlich: Ährenmord - Ein Bauernkrimi.
Nebenher will ich dann ein Geschäft als Blumenfotograf aufbauen. Da es schon sehr viele, sehr gute Blumenfotografen gibt, werde ich es als sehr schlechter Blumenfotograf probieren, denn in diesem Bereich, das haben meine Marktstudien ergeben, klafft noch eine Lücke, die es zu füllen gilt. Wundert euch also nicht, wenn ihr einen zauseligen Mann mit Taucherhelm Strohhut auf Hamburger Märkten herumlungern seht, der Bilder von ebenso zerzausten Blumen feilbietet.
Mittwoch, 8. Januar 2020
Die Kardinälin, 2020. Acryl, Rost auf Papier
und Schellack. 1000,- Mark.
Als Wuppertaler ist man ja Tränkung und Durchtränkung gewöhnt. Tage-, wenn nicht wochenlang, eingenieselt von mittelfeinem Landregen (Landregen in der Stadt!) spürt man erst noch den nixennassen Griff von hinten in den Kragen, bald gar nichts mehr, außer dem Gefühl einer klammen Pferdecke, die jemand fest um einen gewickelt hat. Dazu das schmatzende Geräusch schiefgelaufener Sohlen auf dem steigungsschrägen Asphalt. Laune entsprechend. Nun ist in meinem Bekanntenkreis die Frage, ob Kindheitserlebnisse prägender Natur sind, umstritten. Die besonnt Aufgewachsenen sagen nein, andere anders. Mich hat es zu einem neuen Werkzyklus inspiriert, bei dem ich an feinste flämische Malerei erinnernde Bilder in Schellack getränkt habe, um sie unempfindlich gegenüber Stadt-, Land- und Flußregen zu machen.
Die letzte Sonne, 2020. Acryl auf Papier und Schellack. 1000,- Mark.
Die Ergebnisse sind berückend (die Scans geben den Reichtum an Details und Farbe nur unzureichend wieder) und Ausdruck einer condition humaine zwischen ständiger Dekonstruktion und Niederschlag, in der weder das Verfinstern der Sonne noch goldener Glaube Hoffnung und Zuflucht bieten. Traurig eigentlich, aber so ist die Kunst. Mehr kann ich nicht erklären, sonst hätten die bei der Monopol ja nichts mehr zu schreiben über mich.
Pastoser Trübsinn im Atelier, während ich Ecken zurechtschmirgle und meine Zukunft grundiere. In der von Lösungsmitteln weichgedämpften Birne wandelte ich mich bereits vom Saulus zum Paulus und vom Kritiker des Projekts Elbphilharmonie zum Kartenkäufer. Aber nur wegen Meredith Monk, die im Februar vortragen wird. Vielleicht kann ich mit einem meiner Apparate eine Schellackaufnahme davon machen. Wasserfest.
Donnerstag, 2. Januar 2020
Als Semiotiker verbringe ich meine Neujahrsspaziergänge durchs Viertel ja mit Zeichenexegese. Dieses Jahr allerdings schlich ein zwielichtiger Mann mit so einer Pfandflaschengreifzange umher und beeilte sich, offenbar im Auftrag einer zwielichtigen Organisation, die kodiert ausgelegten Schrapnelle der Nacht (so der Titel meines Debütromans), die Spurenlage also, zu vernichten und die Beweismittel um Mülltonnen und Verteilerkästen aufzusortieren. Zwielichtig nenne ich das, und als er mich entdeckte, eilte er schnell in ein angrenzendes Neubauhauslabyrinth zurück. 2020 aber werde ich ganz neue bedeutsame Nachrichten lesen.
Dabei hätte es Hinweise, und das wird nun sehr viele interessieren, auf ein von alten Quellen so benanntes böllerozentrisches System gegeben, bei dem sich Erde, Mond und eine enthemmte Bevölkerung konzentrisch um eine Batterie von Knallkörpern drehen. Ich habe derzeit ein bißchen Zeit und werde dem in weiteren Studien nachgehen. 2020 aber werde ich ganz neue bedeutsame Systeme entdecken.
Meine Trash-Tanzkapelle für die soll "El Kid & The 37 Bombettes" heißen, mit der ich auf wilden Silvesterpartys in den Untergeschossen alter Abbruchhäuser sleazy Rock'n'Roll-Klassiker auf Spanisch vortragen werde (kann kein Spanisch). Alle angesagt mit dem Bombenspruch "One, two, three, four, seven!" (Hier ein leicht erkennbares Beispiel. Ich bin ganz links.) 2020 aber werde ich ganz neue bedeutsame Musik, Filme, Bücher und Kunst entdecken.
Derweil brodeln über den Globus verteilt neu entdeckte Vulkane und stoßen heiße Funken aus. Ich habe da kein gutes Gefühl, zumal ein über die Jahre auf dem Syfy-Channel ausgestrahlter dokumentarischer Film über einen Ex-Navy-SEAL und eine knapp bekleidete Vulkanologin ganz ähnliches berichtete. 2020 aber werde ich in meinem geheimen Geheimlabor eine bedeutsame Weltformel entdecken, die uns allen Frieden, mildes Klima und gute Schokolade bescheren wird.
So weit die Vorsätze. Ich will nicht klein anfangen, denn ich brauche ein Haus in den Hamptons für meinen inneren Weltfrieden oder wenigstens einen Gnadenhof für Bienen in Mecklenburg, die dort tanzen und schwarzen Honig für Gothics produzieren sollen.
Dienstag, 31. Dezember 2019
Über die Weihnachtstage habe ich zwei Versionen von "In 80 Tagen um die Welt gesehen", einmal eine TV-Variante mit Pierce Brosnan und dann natürlich die "klassische" mit David Niven. Beide sind nicht wirklich gut gealtert, eine machte aus dem Ballon ein Luftschiff, dazu allerhand Langatmigkeiten und Stereotypen - und am Ende dachte ich, es ist wie so oft im Leben: Am besten, man macht es selbst.
2019 sägte man gleich den ganzen Baum ab, auf dem ich saß, bedachte aber nicht, daß ich mein Seil doch lieber selber kappe. So blieb ich vor dem Fall zu Boden einfach in der Luft hängen. Ab und an reitet ein Bote heran mit Schreiben höherer Wesen, um mich zum Runterkommen zu bewegen. Das letzte erreichte mich sogar noch knapp am 30.12. Aber ich halte aus, ich habe Vorräte, und so bleibt mir ein bißchen Zeit, weiter an meinen Projekten zu basteln, den Ballon zu provisionieren, um dann 2020 vielleicht nicht raketengleich, aber mit hoffentlich guter Thermik Fahrt aufzunehmen. Mal schauen, wohin der Wind so weht, ich habe Karten aller Länder an Bord.
Allen einen guten Rutsch in ein hübsch grau gestreiftes neues Jahr - und achtet auf den Nachthimmel. Vielleicht seht ihr mich, wie ich zwischen all den Raketen durch die Wolken gleite.
Mittwoch, 25. Dezember 2019
Herr Kid hat den Baum schön
Erstmals in all den Jahren hatte ich freie Hand und Muße, einen eigenen Weihnachtsbaum in meinen Leuchtturm am Ende der Wasserstraße aufzustellen. So wird Weihnachten doch gleich gemütlicher! Eigentlich war dann der Plan, rund um den Baum ein paar neckische Fotos nachzustellen, aber ich konnte meine roten Strumpfhosen nicht finden.
Für die jüngeren Leser, die das nicht kennen: Das ist die Form einer Schneeflocke
Am Morgen dess ersten Weihnachtstags, wenn die Eltern noch schlafen, kann man immer schön mit den Geschenken spielen und Reste trinken. Ich bin ja jetzt in dem Alter, wo man sich "nichts mehr schenkt", also das Haus schnell voll mit "Kleinigkeiten" hat. Aber die besonderen sind dann eben doch besonders. Wie diese handgeschöpfte Seife einer Kollegin aus der Ukraine. Ich bin mir nicht sicher, ob sie mir damit etwas sagen will außer, "Schau mal, hab' ich dir mitgebracht". Das Leben ist bekanntlich voll mit verschlüsselten Botschaften und komplex verschachtelten Zeichensystemen.
Frau Harvey hat den Film schön
Rechtzeitig vor dem Fest erreichte mich aus dem bald sehr fernen England die DVD zu A Dog called Money, die Dokumentation, die Musikerin Polly Jean Harvey gemeinsam mit dem Fotografen und Filmemacher Seamus Murphy gemacht hat. Damit ich was habe, falls "nix im Fernsehen" ist. Ich bin sehr gespannt, teile mir wie immer im Leben die Dinge aber ein. Oben auf der Liste stehen ja noch die Weihnachtsspecials der Murdoch Mysteries, worin, wenn ich es richtig vorausgelesen habe, Constable Crabtree die "Picture Novel" erfindet - bebilderte Abenteuer um einen Superhelden, für das schnelle Lesen zwischendruch. Bin sehr gespannt, was das sein soll.
Während ihr also das Geheimnis der Gans lüftet, werde ich ein paar Dinge und Objekte erfinden, von denen das ein oder andere möglicherweise irgendwann einmal den Lauf der Welt verändern wird. Bis dahin: Frohe Weihnachten!
Donnerstag, 7. November 2019
Man müßte das mal rückblickend zusammenstellen. Die Art, wie sich Farben in den Jahren verändern. Herbstmode dieses Jahr ist offenbar so ein Graublau- oder wie die Modeexperten sagen: ein Blaugrauton. Kontrastiert durch signalfarbene (und vielleicht auch richtungsweisende) Rotweiß-Akzente. Sehr schmackhaft übrigens.
Weitere Schnittmenge: Tiere. Norbert Scheuers Winterbienen war mir bei Erscheinen natürlich aufgefallen, aber die letzten Erfahrungen mit zeitgenössischer deutscher Literatur haben mich zögern lassen. Jetzt, wo das Buch ins Haus gesummt kam, muß ich sagen: Der Auftakt ist überraschend einnehmend. Seine Geschichte und sein Thema einkreisend wie ein Schwänzeltanz. Details werde ich einfühlend bei Brehm nachschlagen, der knochentrocken festhält: "Alle Schweine der Erde ähneln sich in ihrem Leibesbau und Wesen". (Die Illustrationen der sehr schönen Ausgabe vom Duden-Verlag sind ebenfalls eine Wucht.)
Man muß den Dingen ins Gesicht und dem Energiefluß in die Steckdosennase sehen. Die letzten Woche bescherten Formulare, Zahlen, Rechenmodelle, Termine und Gespräche, ein Summen wie im Bienenstock. Während ich über einen Urlaub nachdenke, erreichen mich Karten aus anderen Zeiten und Ländern. England nämlich. Vielleicht sollte ich die Chance nutzen, solange es noch einfach ist.
Mittlerweile, ganz anderes Thema, bin ich in der achten Staffel von Murdoch Mysteries angekommen. Nach der noch etwas steifen (und viel zu indianerstark geschminkten) ersten Staffel, hat sich die Serie wie so viele ab der zweiten freigespielt, ab der fünften wird amüsierend locker mit dem mittlerweile erreichten Kultstatus (also im Heimatland Kanada) gespielt. (So gibt es eine selbstironische Folge über den "Murdoch Appreciation Club", wo eine Gruppe Fanboys und -girls einen Mordfall konstruiert, um ihr Idol aus nächster Nähe bei der Ermittlungsarbeit beobachten zu können.) Gesellschaftliche Veränderungen um 1900, wie der Kampf um Frauenrechte, spielen ebenfalls mehr und mehr eine Rolle. Hübsch sind die vielen Anspielungen (gerade habe ich eine Folge gesehen, in der Murdoch als eine Art "Indiana Jones" in den "Tempel des Todes" muß.) Der große Kniff der Serie, den anachronistischen Blick auf die Technikgeschichte, der mal vor- oder auch zurückdeutet, ist nach wie vor der größte Spaß. Murdochs Basteleien und Erfindungen (zwischendurch hat er auch ma eben eine Gangschaltung adaptiert, um an einem Radrennen teilzunehmen - nicht des Rennens wegen,, sondern als "Proof of Concept") sind immer noch teils irrwitzige Beispiele der Entwicklung in der Foresnik: So entwickelt er die von ihm erfundene automatische Kamera mit einem kleinen Ballon zur Drohne weiter, um Luftaufnahmen machen zu können. Letztlich alles ein milder Humor für erschöpfte Menschen, die sich nach einem harten Tag auf Twitter nicht mehr aufregen wollen.
Montag, 28. Oktober 2019
bei kleinem Glühlicht kniend krumm zu sitzen –
an Nieten hämmernd in der Hitze schwitzen.
Verrußt sind Aug' und Haar und Ohr
(Heinrich Lersch, "Mensch im Eisen". 1907)
Den Schreibtisch aufgeräumt, Schlüsselkarten abgegeben, wie ein Eichhörnchen oder ein Trupp fleißiger Ameisen alles, was ich nach und nach im Spind ausgelagert hatte, emsig wieder nach Hause transportiert.
Mein erstes Coaching absolviert in moderner Kommunikation und Gesprächsführung. Gelernt, daß es in Diskussionen nicht "Gott, sind Sie blöd!" heißt, sondern "Entschuldigen Sie, mein Fehler. Ich dachte, Sie hätten studiert." Interessant, aber wenn es einem zu einer gewissen Parkettsicherheit verhilft, soll es kein Schaden sein.
Ich kuratiere jetzt nur noch ernsthafte Fälle und rechne gerade ausstehende Gelder zusammen, weil ich ein Gemälde erwerben möchte, um einen späteren Dienstherren zum Essen einladen zu können. Es sind die kleinen Dinge und Details, die zählen.
Die Jahre zähle ich nicht zusammen. Ich erfahre, daß es da unterschiedliche Betrachtungsweisen gibt, die Endergebnisse über Stufen hinweg nach oben oder unten und vielleicht sogar seitwärts verschieben können. Ich bin aber sicher, es gibt Menschen, die kennen sich mit derlei Rechenödnis wunderbar aus.
Das ist ja auch eine Kunst, wie überhaupt alles Kunst sein sollte.
Sonntag, 22. September 2019
Für die kommende Weihnachts- und Jahresendfeiersaison bereite ich gerade einen kleinen Kalender mit hilfreichen Small-Talk-Openern vor. Man stelle sich vor, man trifft einen wildfremden Menschen am Buffet und sagt launig und unkompliziert, während man Kleingeschnittenes von diesem und jenem auf den Teller schichtet: ""Chanel wird ja jetzt wieder mehr Coco". Durch die Beförderung von Virginie Viard zur obersten Chefdesignerin, wie wir alle wissen, aber das ist für einen Small-Talk-Opener schon zuviel der Information. Keep it simple, heißt auch hier die Zauberformel.
So ein Vorbereitungskalender kann wichtig ein, wie oft steht man da und hat kein passendes Wort parat. Mir selbst verschlägt regelmäßig die Sprache in solchen ungelenken Sozialsituationen meist aus unterforderter Langeweile oder einem zuviel an möglich-munteren Antworten (das Berliner Landgericht hat immerhin mit einem Urteil einer ganzen Reihe Wörtern soeben die Tür zum Alltag geöffnet), manchmal aber auch aus banaler Schüchternheit.
So, als ich gestern ein Netz Äpfel aus den Händen meiner Lieblingskassiererin im Supermarkt entgegennahm (vgl. Gen. 3.6), obwohl ich zuhause noch genug herumliegen habe. Aber so richtig ein eleganter Spruch fiel mir dazu nicht ein, man muß ja auch aufpassen beim Supermarkttalk. Hätte ich da nur meinen Kalender mit Jahreszeitendialogen gehabt! "Danke. Chanel wird jetzt übrigens wieder mehr Coco." Da hätte die junge Dame ("Bedienfrollein" sagte man früher) aber was zu überlegen gehabt und sich gefreut. "Chanel wird wieder mehr Coco", mein Eisbrecher für die kommenden Tage.
Neulich mußte ich schon eine überraschende Kommunikationssituation an der Sprechanlage meistern. Abends um neun klingelte es an der Türe, ein neuer Nachbar, wie ich über die Sprechanlage erfuhr, der mir gestand, daß er es war, der meinen Steuerbescheid aufgemacht und gelesen, dann aber immerhin in meinen Briefkasten steckte. Das Finanzamt hatte die Adresse tatsächlich falsch aufgeschrieben, der Zulieferer tat das nächste - und schon sah man mich verwundert mit einem aufgerissenen Brief am Kasten stehen. Nun aber auch an der Sprechanlage. Jedem fällt jetzt David Lynchs Lost Highway ein, die ominöse Nachricht zu Beginn - "Dick Laurent ist tot" - und jetzt warte ich auf vor der Türe deponierte verstörende Videonachrichten (auf VHS-Kassette). Erstmal aber stand ich abends um neun an der Sprechanlage und führte ein etwas surreales Gepräch sensiblen Inhalts mit einer ätherischen, mir unbekannten Stimme, die mir munter ihren Schreck über meine Steuersumme nannte (ich fühlte mit ihm), fürchtend (haha!), diese selbst als Steuerschuld zu haben usw. usf. Ich wollte den Mann auch nicht unhöflich abwürgen, hatte er sich doch netterweise zu seinem Faux-pas bekannt und mich damit auch ein Stück weit beruhigt. Wir tauschten unsere Berufe aus (sieh an, sieh an!), wobei ich denke, daß mir seiner noch nützlich sein könnte.
Wie gern aber hätte ich ihm auf dem abendlichen Weg ins Nachbarhaus ominös mit auf den Weg geraunt: "Chanel wird jetzt wieder mehr Coco." Da hätte er was zu Grübeln gehabt.
Sonntag, 15. September 2019
Es folgt: der Wochenbericht. Ich denke ja über Neuorientierung nach, mit 37 muß man Weichen stellen. Wie ein empfindsames Katzenschnurrhaar seismographiere ich allerlei "Ideen" und Vorstellungen, lasse mir das als Jobmöglichkeit auf der Zunge zergehen, teste, atme, ein Stellenangebotssommelier, wie neulich, als in Hamburg ein Schokoladengeschäft zum Verkauf stand ("Pralinés und Edelschokolade"). Toll. So viele Möglichkeiten, und nur ein Mann, die zu tun.
Kollegen rümpfen die Nase ("Ideen, Ideen! Machen!"), ich sage, ich habe mein eigenes Tempo und prüfe, wer sich letztlich bindet. Zum Beispiel könnte ich raus aufs Meer. Auf dem Parkplatz neben meiner Packstation hat sich nämlich seit einiger Zeit ein unregulativ entstandener Trinkertreff etabliert, wo launige Männer lebensweise in den Tag hineinkommentieren. "Guck mal, da ist der Kinderkapitän, wie heißt der noch?" rief neulich einer mit Blick auf mein Ringelshirt. "Hein Blöd!" antwortete einer, worauf ich belehrend einschritt. "Ihr meint den Matrosen, der Käpt'n heißt Blaubär." Wissen die das jetzt auch.
Hein Blöd bei der Handelsmarine klingt entspannt, auch ein bißchen abenteuerlich, und als Matrose hat man eh Schlag bei Frauen, die abends gern am Kai weinen. Ich lese aber auch Stellenanzeigen. In Bremen, so vernehme ich, wird ein kriminaltechnisches Institut aufgebaut, und man sucht dafür einen Leiter. Das reizt mich irgendwie schon, fühle mich nach seit den 90ern andauerndem Telelearning "Akte X" auch ausreichend befähigt, zumal ich durch "Murdoch Mysteries" gerade ganz viel über die Anfänge der Forensik (in Kanada) lerne. Herr Kid von der KTU - wie klingt das denn? Allerdings gibt es Hürden zu überwinden: "Einstellungsvoraussetzung ist das bedenkenlose Ergebnis der Sicherheitsüberprüfung". Tja. Seit 37 Jahren bin ich Bedenkenträger und habe daher solche.
Da ich gerne mit Tieren arbeite, käme für mich auch eine Falknerei infrage. Falkner arbeiten nämlich umweltfreundlicher als mit Schußwaffen ausgerüstete Jäger, die ihr Blei in die Wälder verballern. Als wir vor einiger Zeit Ratten im Keller hatten, hätte ich z.B. meinen Falken durch die Gänge jagen können - die Axt im Haus erspart bekanntich den Zimmermann - der ist geräuschlos, gefährlich und pfeilschnell, also alles das, was ich nicht bin. Ein Kompensationstier, sozusagen der SUV des kleinen Mannes.
Auch Modedesign interessiert mich seit einigen Jahren sehr. Zum Thema Destroyed Socks (155,- Euro) fiele mir einiges ein. Zerrissene Jeans können nicht alles sein. Hier im Camp David der Kreativität fliegen mir solche Ideen ja nur so zu - als wären sie ein Falke, der sich auf mich und mein Hirn herabstürzt. (300 Studenkilometer, also schneller als ein SUV).
Letzte Woche war ich auf der Indie Con im Hamburger Oberhafen. Zumeist junge Menschen präsentierten dort ihre kleinen Verlage mit Büchern und Magazinen. Die Leute vom Trust waren da, die vom Weekender, von Fotomagazinen aus Wien, Italien und weiteren Ländern. Stimung: gut. Motto: "Einfach machen!"
Und auch, wenn die Pointe noch fehlt: Immer weitermachen, sag' ich doch.