Mittwoch, 2. August 2006

Dienstag, 1. August 2006
soll dein Mal gesegnet sein
ist gut kochen lernen.
(Sprichwort)

Von allen spontanen Menschen dieser Erde bin ich sicher nicht der allerspontanste. Manche Dinge müssen reifen, und ehe ich mich auf eine Expedition begebe, werden Wege wohlgeplant. Karte, Kompaß und für den Fall des schlimmen Falls eine Schwimmweste - so ausgerüstet breche ich auf und bin dann nicht mehr aufzuhalten.
Be prepared! lautet ein Wahlspruch meiner Familie, deren Vorfahren einst im napoleonischen Gefolge in den sumpfigen Regionen Osteuropas hängenblieben, aber immer genau wußten, wo sie waren. Auch waren meine Ahnen stets erfindungsreich, vor allem die Männer (die Frauen hielten das oft und völlig zu unrecht für "Spielerei"). So war es einer meiner Altvorderen, der den Mittagsschlaf für Erwachsene erfunden hat. Leider wurde der gutgläubige Alte aber, bevor er zum Patentamt eilen konnte, von einem Spanier bestohlen. Der Rest ist Geschichte und die Siesta ein teurer Importartikel.
Neulich war es an mir, unwegsame Gefilde zu beschreiten. Es schien mir eine prickelnde Herausforderung, auch mal neue Wege zu gehen, als ich neulich morgens erwachte und auf das Leinentuch über meinem Bett blickte, mit dem eingestickten Spruch: "Käsebrot, Käsebrot - laß ich nicht liegen ohne Not". Aber manchmal kann man ja auch mal spontan sein, einen draufmachen, fünf gerade sein lassen, und den wilden nackten Küchenchef markieren. To go, where no man dared to go before! Aber natürlich nicht ohne meinen Plan. Was der Schneiderin der Schnittmusterbogen und dem Bahnreisenden der Fahrplan ist dem Küchenmaestro das Kochuch. Mir jedoch jagte Marguerite Patten mit ihrem Werk Cookery in Color: A Picture Enzyclopedia for Every Occasion Schauer der Erregung über den Rücken. Für nur 1 Euro im Antiquariat erstanden, wird es mich nun begleiten, Mahlzeit für Mahlzeit.
Köche, so lehrte mich nämlich das Leben, haben nicht nur immer Sahne im Haus, sondern auch Schlag bei den Frauen. Und das habe ich jetzt auch.
Zwar ist das Werk schon etwas älter, es stammt aus dem Jahr 1964, als die Beatles gerade mit "Eight Meals A Week" die Spitze der Charts erklommen. Aber ein anderer Wahlspruch meiner weitverzweigten Familie lautet "Alte Suppe rostet nicht", und so bin ich frohen Mutes, was den Erfolg meiner Speisen angehen wird. Ms. Patten erklärt erst einmal ganz genau, was es mit Boiling, Braising, Poaching und Stewing auf sich hat, und macht dann mit der Aussicht auf "many very unusual dishes" gleich Lust aufs Loslegen.
Nur kurz empfand ich Sorge, als mein Blick auf die englischen Maße fiel, die in diesem Buch benutzt werden. Aber als höfliche Britin nimmt einem Ms. Patten schnell alle Ängstlichkeit, was das Umrechnen angeht. "For practical purposes", so schreibt sie, entsprächen zwei amerikanische Maßbecher dem britischen Pint. Und was französische Maße anginge, nun, auch da hat unsere legere Köchin eine hoffentlich wohlbegründete Meinung: "It is difficult to convert French measures with absolute accuracy". Eine entspannte Frau, ganz nach meinem Geschmack, deren Leitworte offenbar die folgenden sind: "This is an approximate guide only."
So unbekümmert also frisch an die Vorspeisen: "Without spending a great deal of time or trouble you can assemble a very interesting selection of foods for hors d'oeuvre" - interessant, interessant! Rollmop Herrings ("Use large herrings") halten sich nach Ms. Pattens Rezept drei bis vier Wochen. Das ist fein, hat man doch immer was im Haus, wenn überraschend Gäste kommen. Die Suppen überspringe ich, auch wenn "Mint Pea Soup", nun ja, interessant klingt. Mir ist aber mehr nach einem Hauptgericht, meinetwegen auch eher geschätzt zubereitet denn präzise.
Fleisch in allen Aggregatzuständen, angereichert mit Dosenobst, Fett und minzigen Saucen - und alles in Bergarbeiterportionen. Soll noch mal einer behaupten, die englische Küche machte Blogger nicht satt! Wild, Geflügel und die glückliche Kuh: Ms. Patten weiß, wo selbst fürs Lämmchen der Hammmer hängt, verschont aber auch nicht die Vegetarier: Gemüsepasteten werden hier zu turmhohen Essdenkmälern geschichtet. Ein wenig ab vom Wege komme ich, im
Brutterbot Sandwich-Kapitel. Tolle, leichte Schnitten für hungrige Mäuler, da läuft einem doch gleich die Mayonnaise im Munde zusammen.
Fluffige Süßspeisen in aufmerksamkeitsheischenden Farben gibt es zum Nachtisch im Kommentar.

Freitag, 28. Juli 2006
a fantastic farm where ashes grow like wheat.
(F. Scott Fitzgerald. The Great Gatsby. 1925.)
Am Ende einer weiteren heißen Woche verebbt sogar in den sumpfigen Wäldern die Häme, erinnern sich freiere Geister, daß der Fröhlichen Wissenschaft ursprünglich ein Zitat von Emerson vorangestellt war: "Dem Dichter und Weisen sind alle Dinge befreundet und geweiht, alle Erlebnisse nützlich, alle Tage heilig, alle Menschen göttlich."
Die Lektüre von Der große Gatsby lehrt, neben vielerlei anderer Dinge, die skeptische Betrachtung eines Ich-Erzählers. Er sei, so schreibt Nick Carraway, der aufrichtigste Mensch, der ihm je begegnet wäre. Man begreift allerdings recht schnell, daß ihm nicht zu trauen ist. So wie meist mit vorlaut selbstauskünftigen Menschen. Jene "Befreiten" - von Moral, Drangsal, Schuld & Vorurteilen - beispielsweise. Man tut nicht schlecht daran, das Gegenteil zu vermuten. "Trust in me", singt die Schlange so beschwörerisch, daß selbst Fünfjährige kapieren, was die Stunde geschlagen hat.
Überhaupt. Von den Tieren des Waldes kann man manchmal noch am besten lernen. Klopfer, der kleine altkluge Racker, wußte es genau: "Wenn man nichts Nettes zu sagen hat … dann soll man gar nichts sagen." Dann zog er weiter mit seinem Freund, dem Stinktier, mied die Sümpfe und machte auf Kindchenschema.
Mit dieser kleinen Betrachtung hänge ich am Klavier, in das auf der letzten Party jemand Bier gegossen hat. Seither hat mir die Besitzerin verboten, meine melancholischen Weisen darauf zu spielen. "Es ist nicht das Bier", sage ich. "Es ist mein Anschlag. Es sind meine ungelenken Finger. Es liegt daran, daß ich es nie gelernt habe."
"Und weißt du was?" setze ich nach. "Deshalb mache ich mir auch nichts daraus."
"Komm", sagt sie und schiebt mich beiseite. "Ich spiele es für dich." Und ich lehne mich zurück, im oleanderduftigen Zimmer, in meiner hypertrophen Einsamkeit, und lasse sie spielen. Verträumt male ich groteske Gesichter in den Staub auf den Möbeln und lausche der Musik. Es sind zarte Töne, schnarrende auch (vielleicht wirklich bloß Bier), sie verlieren sich, hauchen sich selbst sanft durchs Zimmer, in dem eine stickige Schwüle das Atmen erschwert. Wo aber selbst die Spinnen geringelte Strümpfe tragen und aussehen wie verführerische Wesen.
Illustriert hat die Szene übrigens Rozi Demant.

Donnerstag, 27. Juli 2006
(Cocteau Twins, "Pandora")
Am Fenster, den Blick hinaus auf den Kanal, leichter Wind streift meine schwitzige Haut. Im Hintergrund läuft die Playlist eines fremden Blogs. Musik, die nicht ganz die meine ist, aber heute gar nicht fremd. Sie erinnert mich an etwas, das nie war. Ein Radio, ein Versprechen für den Abend. Und morgen? Was weiß ich morgen schon?
Ich lasse Gedanken hinaus. Die schweren fallen hinab, versinken im algengrünen Wasser. Die leichteren segeln davon auf der warmen Strömung der Nachtluft. Doch für jeden Gedanken, der mich verläßt, schwirrt ein Insekt herein, angelockt von meinem Licht, meinem Schweiß, purer Neugier und bloßem Zufall.
Welches Insekt es ist, erfahre ich hier.

Mittwoch, 26. Juli 2006
Ich weiß nicht, wie es anderen geht. Aber um als Jammerblogger bei dieser Großwetterlage bestehen zu können, erfordert es Maßnahmen, die wahre Größe zeigen. Eine alte Familienweisheit besagt: Es braucht mehr als ein Pferd, um über den eigenen Schatten zu springen. Und einen Schatten muß man erstmal haben bei dieser Dauerbestrahlung.
Aber nun heißt es, beide Daumen hoch. Ich halte Sonnenbrille und Badehose griffbereit und sage: Ja! Ich bin Gastgeber. Die Sonne zu Gast bei Freunden!

Montag, 24. Juli 2006
erst vor kurzer Zeit entdeckte Art von Bazillen;
man kann sie Sonnenbazillen nennen.
Sie existieren nur bei abnorm starker Hitze.
Gewöhnlich rinnen sie mit der warmen Luft
durch Ohren, Nase, Mund und Augen in den
menschlichen Körper. Sie dringen in das Gehirn ein
und richten dort eine furchtbare Verwirrung an.
(Heinrich Nowak. Die Sonnenseuche. Wien, 1920.)
Am Wochenende hielt ich es in meiner Dachkemenate nicht länger aus, schnappte mir eine weizenblonde Begleitung, ein Paar vierteloffener Schuhe, und dann nicht etwa nischt wie raus nach Wannsee, sondern zum Öjendorfer Friedhof. Ausnahmsweise nicht etwa für einen sepulchral-meditativen Spaziergang, so von hüben nach drüben, vom Diesseits zum Jenseits - sondern um wohlgeplant einen weltlichen Trampelpfad zu suchen, der auf die berühmte andere Seite führt: den Öjendorfer See. Wenn da nicht gerade Mittelaltermärkte stattfinden oder Seuchenbakterien und Algen das Baden verbieten, ist der Park dort eine lockende und meist sogar unbedenkliche Grüngegend.
So kommt es also, daß man verhärmt-bleiche Vampirkinder wie den Herrn Kid bis zu den Knien im pipiwarmen Wasser stehend ertappt! Mit grimmig gefrorenen Gesichtszügen (kein Vergnügen vor Mitternacht!), "Sonne macht blöd!"-rufend anlaßlos vergnügte Kleinkinder ermahnend und morlakeulenschwingend freilaufende Hunde und anarchistische Grillgeister in die Schranken von 14/18 verweisend. Was für ein Spaß!
Der weizenblonde Sonnenschein an meiner Seite war schnell völlig mitgerissen von der Piratendichte in Hamburg, dem seidigen Wind auf seidigerer Haut und den locker aus dem schwitzigen Ärmel geschüttelten Urlaubsplänen für noch sonnigere Gefilde. Denn hat die Seuche einen erst gepackt, kann man schnell kaum genug bekommen. Ich mache das jetzt öfter. Alufolie wie bei einer Backkartoffel um den Kopf gewickelt, den Sonnentrichter in den Bauchnabel gerammt - und dann heißt es aufgetankt mit solarer Energie für noch luzidere Gedanken. Gleißen wie 1000 Sonnen, jedermann sein eigenes Bosonen-Kraftwerk, ein Quasar in der türkisen Kühltasche und das Geheimnis aller Antiteilchen gelöst. Denn wie allen hier bekannt, empfahl der Quantenphysiker Richard Feynman völlig zurecht jedem Theoretiker, er solle an die Wandtafel seines Büros schreiben: "137 - wie wenig wir doch wissen." (zitiert aus 137 und die große Vereinigung)
So verknüpft sich wieder eins zum anderen. Und im nächsten silberdisteligen Sommer erkläre ich, wie das alles paßt und was das zu bedeuten hat.

Freitag, 21. Juli 2006
Rinnen muß der Schweiß,
Soll das Werk den Meister loben,
Doch der Segen kommt von oben.
(Friedrich Schiller, "Die Glocke")
Heute morgen stellte ich fest: Man braucht tatsächlich keine Jacke mehr. Vielleicht ein bißchen zügiger gehen, damit man nicht auskühlt. Dann aber ist nichts zu befürchten. Die Kollegen aus der Gartenzwergfabrik sehen mich allerdings verstimmt. Entgegen meiner Rundmail von gestern, in der ich anregte, über Nacht die Heizung auszudrehen, finde ich die Werkräume schom am frühen Morgen muckelig warm vor. Mißmut perlt mir aus allen Poren, während ich Mützchen um Mützchen rot lackiere.
Kein Zornesrot. Auch kein Blutgericht. Eher wie das scharlachfleckene Mal des feuerroten Badetuchs, mit dem der Teufel persönlich seinen Platz am Strand von Putadimare reserviert.

Montag, 17. Juli 2006
So you had to be sold
(Marilyn Manson, "Saint")

Ich finde das nicht unsympathisch. Besser als daheim den Maulhelden in Monsterpuschelpantoffeln zu spielen, den Brüllaffen, den Freizeitmandrill. Aber draußen, auf Teer, Asphalt und Eisengleisen, nur duckendes Grau, fettige Schuppensträhne statt gesträubtem Fell. Denn entgegen der weitverbreiteten Meinung im Volksmund trainiert lautes Schreien nicht das Rückgrat.
Daheim, da macht es nichts. Da schaue ich nicht mal selbst mir zu. "Ich zieh' mich nur noch im Dunkeln aus/Und schau' nicht an mir herab", sangen Armutszeugnis früher, in den goldkranzumwundenen Zeiten. Morgens beim Bäcker immer die Altbrötchen mit echtem Mutterkorn, nicht wegen der Alkaloide, sondern wegen des Wortes Mut darin.
Schüchtern, wenn man vor lauter Worten keines mehr herausbekommt. Nackt, bloß, ein Wurm vielleicht. Und manchmal gar ein Würmchen. Offene Haut, kein Panzer, nichts derbes wie ein Elefant. Ach schüchtern, alles Quatsch, setz dich einfach her zu mir.

Sonntag, 16. Juli 2006
Dieses Wochenende sind in Hamburg ja die Harley Days, wo schwere Jungs sich um schwerere Motorräder drängen, in der Hoffung, leichte(re) Mädchen zu beeindrucken. Ich versuchte das früher ja immer, wenn ich mit meinem altersschwachen Hollandrad (drei schwere Gänge) und laszivem Schutzblechgeklapper runter zum Elbstrand fuhr, lässig wie der junge Bobby Vee, beim Versuch, sich eine flotte Vespafahrerin zu angeln. Heutzutage geht es natürlich brav und nur mit einem Zweiradmagazin ins Bett.
Schöne alte Scopitone-Musikfilme, alles angucken!

Mittwoch, 5. Juli 2006
Die runde Sache lief nun lange rund und für einige glückliche Momente auch geringelt oder wenigstens gestreift. Heute abend dann das Projekt Füüünale, standesgemäß draußen auf der Straße auf St. Pauli, mit anderen Mediennutten Gartenzwergpolierern, Hartz-IV-lern und den mitfiebernden Jungs vom türkischen Büdchen nebenan. Erste Halbzeit mit "'Schlaaand! Schlaaaand!"-Rufen in Stimmung gebracht. Wir sind alle Frings - und zur Hälfte auch Odonkor. Gelungene Aktionen (weniger) und Einsatz (mehr) von Team Schland werden eifrig beklatscht. Die zunehmend dreister werdenden Aktionen von Team Thespis zugleich verächtlich ausgebuht.
Heim zu Mama! gellt es, wenn einer der Blauen, vom Windhauch berührt, sich theatralisch auf dem Boden wälzt. Bald wälzt ihr euch in der dritten Liga, brüllt einer. Ständig halten sie sich das Gesicht. Was ist los, rufe ich. Frisur kaputt? Die sehr schöne Frau™ ruft nach Udo Walz, während sie Würstchen grillt, was bis zum Abpfiff noch die neue Lebensart in Schland zu werden versprach. Straßenpartys, Fangesänge, Kulturaustausch. "Wir halten zu Deutschland", meint der türkische Ladenbesitzer. "Morgen dann vielleicht zu Italien", fährt er fort und lacht. Jaja, noch sind wir gönnerhaft und lachen mit. Irgendwann kurz vor Schluß lassen die in Blau Haare, Haare und Wehleidigkeit, Wehleidigkeit sein. Zwei Dinger schenken sie dem Fußballgott ein. Ballack dreht sich beim ersten verdächtig zur Seite, Lehmann machtlos. Ich lasse mich vom türkischen Nachbarn trösten, wir alle starren ausdruckslos ins Leere. Totenstille herrscht auf einmal über dem Viertel. Und doch: Wir haben Spaß gehabt.
