Mittwoch, 7. Dezember 2022
Femke Hiemstra
Ende des Jahres schleichen die Kinder auf Zehenspitzen durch die große Stube, um Daddy nicht zu wecken - dabei sitzt der hellwach in Mitten guter Kunst. Zum 17. Mal lud Feinkunst Krüger, Hamburgs immer noch wichtigste Galerie für vernünftige Kunst, zur famosen Jahresendschau "Don't Wake Daddy". Kuratiert von Heiko Müller, der auch wieder selbst mit einer Reihe Porträts hintergründiger Tiere an Bord ist, sind Werke von 30 Künstler:innen zu sehen, und wer die fantastische Eröffnung am Samstag verpasst hat, hat dazu noch bis zum 23.12. Zeit.
Brad Woodfin
Jason Limon
Chris Leib
Regelmäßige Gäste wie Moki und Femke Hiemstra waren zu sehen, aus Übersee gesellten sich Künstler wie Caitlin McCormack, Jason Limon, Fred Stonehouse, Ryan Heshka, Brad Woodfin und zahlreiche weitere dazu. Einige waren auch anwesend, darunter Allison Summers (die leider auf dem Flyer nicht erwähnt ist, aber ein Bild in der Ausstellung hat).
Heiko Müller
Moki
Umstände und die "allgemeine Situation" hatten mich auch lange in meinem kleinen Polyester-Stadtteil festgehalten, aber hier war nun ein unwiderstehlicher Anlass, mal wieder aufgeschlossen Hallo zu sagen, Lokalgrößen wie Gerd Brunzema in der Menge zu entdecken und im Stillen schnörkellos nachzurechnen, ob man den Galeristen irgendwo einen roten Punkt kleben lassen könnte.
Ryan Heshka
Caitlin McCormack
Wer noch kein Weihnachtsgeschenk hat, sei hier ermuntert: Das ein oder andere Werk ist noch zu haben. Vergesst ETFs und Anteilscheine, investiert in Kunst. Ich bin dadurch auch sehr arm geworden, lebe aber glücklich. Denn Geld ziert keine Wände, Kunst aber wärmt das Herz ganz ohne Heizung.
"Don't Wake Daddy XVII". Bei Feinkunst Krüger, Hamburg. Bis 23.12.22)
Sonntag, 24. Juli 2022
Man nennt sie auch die documenta des kleinen Mannes, aber das ist natürlich kein Wettbewerb. Da mich bislang nichts von dem, was ich von der aktuellen documenta gesehen oder gehört habe, irgendwie neugierig gemacht hat, nutzte ich lieber das Neuro-Ticket für einen Ausflug ins nicht allzu weit entfernte Büdelsdorf, gleich bei Rendsburg, auch bekannt als die Stadt am Nord-Ostsee-Kanal.
Bis zum 9.10. gibt es hier die Nordart zu sehen, ein Kunstfestival auf dem Gelände der ehemaligen Eisengießerei Carlhütte, das mittlerweile zum 23. Mal stattfindet. 200 internationale Künstler und Künstlerinne zeigen dort ihre Werke, zu einem großen Teil Skulpturen, die im weitläufigen Park und in der Carlshütte selber verteilt sind. Einer der Schwerpunkte dieses Jahr ist Kunst aus China und der Mongolei, die in der alten Wagenremise gezeigt wird. Ein weiterer Länderfokus liegt auf Polen.
Von Hamburg aus ist man mit dem Regionalzug und einer kurzen Busfahrt in anderthalb Stunden vor Ort, eine beschauliche Fahrt durchs Norddeutsche, hingetupften Einfamilienhaussiedlungen und Felderwirtschaft. Am Ende ist der Nord-Ostsee-Kanal erreicht, die Hochbrücke grüßt, dann auch Industriekultur, Eisen, Rost und aktuelle Kunst. Vieles von dem, was da auf einem weitläufigen Gelände gezeigt wird, hat nicht den Anspruch als "Weltkunst" wie auf der documenta durchzugehen. Und doch gibt es mitunter faszinierende Positionen, gewitzte Einfälle und wuchtige Metalskulpturen in allen Windungen und Deformationen zu bewundern.
Im polnischen Pavillion gibt es ein paar plakative, pop-motivige Sachen, die Sektionen mit chinesischer und mongolischer Kunst spreizen sich auf zwischen Kitsch süß-sauer, starken Farben und erdiger Wucht aus Material. Darunter eine übergroße Venus und schruppige Objekte, die sich mit den schrundigen Wänden und zerrissenen Nischen der alten Werkstätte verbinden. Eine zwischen rostigen Platten, Eisenträgern und alter Maschinerie aufgebaute Bühne gibt es auch. Ich habe jeden Moment die Einstürzenden Neubauten für ein kleines Impromptu-Konzert erwartet.
Die Installation im alten Leitstand hat mich so beeindruckt, dass ich mir völlig versunken den Namen des oder der Künstler:in nicht gemerkt habe. Eine Szenerie wie aus Twin Peaks: The Return oder Fire Walk With Me genommen zeigt die desolate Bude mit wehendem Vorhang und Projektionen in den Fenstern, die hilflose Gestalten zeigen, die offenbar um Hilfe rufen. Ab und zu ist Feuerschein zu sehen, und ich warte eine lange Zeit, ob jemand wie ein rußgeschwärzter Woodsman das Gedicht "This is the water and this is the well" zitiert. Aber so viel Twin Peaks ist dann doch nicht.
(Nachtrag und Hinweis aus den Kommentaren: Die Installation stammt von Pat van Boeckel. Danke!)
Zu Essen gibt es auf dem Gelände auch ein paar Kleinigkeiten, ausreichend Toiletten und vor allem Sitzgelegenheiten sowohl im Park als auch in der Eisengießerei. Einfach, um die Kunst anzuschauen oder um die alten Knochen auszuruhen. Sehr löblich!
>>> Webseite der Nordart
>>> Der Youtube-Kanal der Nordart mit Ausstellungsrundgängen und weiteren Infos
Dienstag, 12. Juli 2022
(Doom von Merlin Reichart. Hamburgensie, möglicherweise prophetisch.)
(Alien Skin Tolles Fungusprojekt, Name des Künstlers entfallen.)
Die jährliche Diplomausstellung, neuerdings Graduate Show genannt, an der Hamburger Hochschule für bildende Künste (HFBK) ist in Zwischen-Corona-Zeiten wieder etwas barrierefreier zu erreichen, kein Check-in, keine langen Schlangen, zum Glück aber doch viele mit Maske. Vorbildlich. Zu sehen gibt es wie immer etwas aus allen Regalebenen. Manches, wie das pilzige Hautprojekt in der Eingangshalle, schon spektakulär. Angefangen von der amorphen Unterkonstruktion hin zu den ledrigen, außerweltlichen Häuten ein sehr faszinierendes Projekt.
(Changing of the Guard. Der Künstler dreht Teller.)
Oft spielt die Musik aber auch einfach auf den Gängen, wo achtlos vollgekritzelte Kreidetafeln geheime Botschaften offenbaren oder Zusammengefegtes zu skulpturalen Interventionsinstallationen zusammenfindet. Das Haus atmet Kunst, und die bohrt sich wie ein extraterrestrischer funguider Finger durch achtlos Weggeworfenes, lockt und winkt und will nach Hause telefonieren.
(Tafelbild. Sieger im Cy-Twombly-Ähnlichkeitswettbewerb)
Manches steht offenbar im Zeichen der diesjährigen documenta, wo ja Gruppen zusammenfinden und abhängen, reden und abhängen und reden sollen. (Das ist jetzt nur grob wiedergegeben.) Man merkt, wie sich eine Funkstrecke bildet zwischen den einzelnen Kulturinstitutionen, und da gibt es auch gar nichts zu lachen. Freude darf es trotzdem machen.
(Gruß an die documenta. Einfach gesellig abhängen.)
(Gruß an die documenta. Einfach gechillt abhängen.)
In vielen Ateliers finden sich weitere Exponate für mein seit Jahren gepflegtes Projekt Blumen & Waschbecken (streng genommen: Blumen & Flaschen & Waschbecken), weshalb ich gerne am Tag nach den ganzen Feiern und Parties im Gebäude zum Sondieren gehe. Nicht alles habe ich gesehen, nicht alles fand ich überzeugend, aber wie fast immer gab es doch ein paar interessante Positionen (dieses Jahr vor allem Bildhauerei).
Immer weitermachen!
(Blumen & Waschbecken. Mein eigenes wegweisendes Projekt.)
Dienstag, 28. Juni 2022
Ich war ja schon lange nicht mehr bei Karstadt. Ich meine, schon lange vor der siebenjährigen Pandemie, die uns wie unablässiger Regen in den Häusern hält. Noch weniger bei "Karstadt Sport", wo ich ab und an mal etwas fürs Rad oder zum Radfahren gekauft habe und einmal auch ein Theraband. Dann war es ja vorbei mit Karstadt oder Kaufhof oder Galeria, und dann stand auch Karstadt Sport auf einmal leer.
Nun hat aber auch Hamburg das Prinzip der Zwischenlösung erkannt und sich entschlossen, das große Gebäude am Eingang der Fußgängerzone zu bespielen. Für jemanden, dessen Leben eine einzige Zwischenlösung darstellt (bislang!), natürlich eine willkommene Einladung. Artstadt heißt das Ereignis nun. Im Erdgeschoss gibt es Kunst und eine Theke und wilde Nu-Metal-Musik, was das Ganze zu einer Art Chambre Close für normale Stadtspaziergänger macht, aber darüber weiß ich vielleicht zu wenig. Ich persönlich kenn da ja nix, wie man so sagt, weil Zögern ist nichts für Zwischenlösungen. Ja oder ja ist schließlich mein Motto.
Informationen zur Kunst sind hinter QR-Codes versteckt, die Meinungen, ob man dort etwas kaufen oder nur betrachten soll, gingen zudem auseinander. Ein Stapel Gurken sah interessant aus, manches war auch einfach noch nicht fertig installiert. Über den Sommer wird die Fläche noch von Kampnagel bespielt, Platz ist ja da und ein guter Wille auch. Mir scheint es auf jeden Fall interessanter als die Banksy-Postergalerie-Wanderausstellung schräg gegenüber im ebenfalls defunktionierten alten Kaufhofgebäude (in dem nach meinem gutem Willen die Stadt Hamburg hoffentlich bald ihr Naturkundemuseum errichten wird als Ankerpunkt am Eingang zur Innenstadt.)
Ein Gebäude als weiterer Möglichkeitsraum. Die leeren Flächen lassen Platz zum Träumen, ich würde da große Maschinen plazieren, die einfach nichts weiter tun, Fluggeräte und eine Ballettruppe. Livrierte Kellner würden herumgehen und den Besuchern sauber bedruckte Karten aus groben Karton überreichen, auf denen Sätze über fehlgedeutete Eulen stehen, aber in eigenen Worten. Vielleicht was Erotisches, aber nur gut verhüllt. Nähmaschinen, Regenschirme, all so was.
Hätte ich einen Klappstuhl dabei gehabt, ich hätte mich zum Ausruhen in die zweite oder dritte Etage gesetzt, die Wand betrachtet und ein paar lose Kabel. An Möglichkeiten gedacht. An eine Zwischenlösung.
Freitag, 17. Juni 2022
Zur Triennale der Photographie in Hamburg ließe sich vieles sagen. Die aufreizend unübersichtlich gestaltete Webseite des Veranstaltungszirkus' ist nur ein Teil davon. Neben flankierenden größeren und länger laufender Ausstellungen in den Hamburger Museen und Kunsthallen, lag der Schwerpunkt zahlreicher kleinerer Auftritte gedrängt in der ersten Woche. Man muß sich halt ranhalten, wenn man im Leben etwas oder irgendwen erreichen will. Ausdauer ist hier wie da gefragt.
Das Kraftwerk Bille war wohl eines der interessantesten Spielstationen. Da gab es aus Bielefeld eine Gruppe junger Fotografen mit "Die Spuren der anderen", Found Photos und Archivmaterial vom Manhattan Project und aus Hiroshima (Max Ernst Stockburger), die überraschend verdichteten Hamburg-Perspektiven von Nicole Keller und Oliver Schumacher, die verschmitzten Blumen- und Insektenbilder von Eva Häberle oder die preisgekrönte Serie über Weltkriegs-Reenactments in Polen von Ostkreuz-Schülerin Natalia Kepesz.
In der alten Kesselhalle gab es Spuren der Vergänglichkeit (Claudius Schulze) mit berührender Taxidermie zu sehen - das Verschwinden der Arten dokumentiert mit gefiederten Aufprallopfern (Bürofenster), nah und tot zugleich.
Der Außenposten der Triennale im ansonsten kulturell weitgehend abgehängten Stadtteil bot auch die Gelegenheit, neben der immer mal wieder für Veranstaltungen geöffneten Kessselhalle einen Teil der an Künstler vermieteten Atelierräume zu besichtigen. Abbruchspuren, schrundige Wände, Investorenträume - die Zukunft des Areals ist noch nicht wirklich unter Dach und Fach und Tüte. Derzeit ist das alte Kraftwerk eines der in Hamburg dringend benötigten Möglichkeitsräume, ein Traumlabor und (meist versperrter) Freiraum, der zeigt, woran es in dieser auf Verwertung angelegten Stadt mangelt: Ungekämmte Kreativhüllen, die sich mit Ernstem und Unsinn, Spielerischem und streng Konzipierten füllen lassen.
Wo man dann sitzt, dort sitzt man dann. Das verwinkelte Gebäude mit seinen zahlreichen Positionen bietet hinter jeder Ecke überraschende Entdeckungen und Begegnungen, Entblößtes, Verhülltes und farbig verklärte Lichter. Treppen, Räume, Träume und Lebenspuren. Man muß sich Zeit nehmen, hier und da vorsichtig auftreten, Wege in den eigenen staubigen Spuren zurücklaufen, alle Türen offen lassen.
Dienstag, 18. Januar 2022
Im letzten Herbst war ich kurz Gast im Museum für Hamburgische Geschichte, ein charmantes historisches Gebäude am Rande einer großen Parkanlage mitten in der Stadt mit wirklich sehr freundlichen Menschen an der Kasse und bei der Aufsicht. (Ein Aspekt, der in Ausstellungsberichten ja meist sträflich unterschlagen wird.)
Zu sehen war unter anderem eine Ausstellung über das Leben des jüdischen Fotografen Max Halberstadt (1882-1940) in Hamburg. Halberstadt gründete 1907 ein Fotostudio in der Hansestadt, mußte aber 1936 dem Druck der Nazis nachgeben und emigrierte nach Südafrika. Als Fotograf schuf er viele Porträts im Auftrag, heute interessante Dokumente des jüdischen Lebens im Hamburg des frühen 20. Jahrhunderts. Berühmt wurde er auch: Beinahe jeder kennt seine Porträts von Sigmund Freud, dessen Schwiegersohn er war. Die Bilder vom ergrauten Psychoanalytiker und seiner Zigarre sind längst ikonisch geworden.
Der Schwerpunkt der Ausstellung lag allerdings weniger auf den fotografischen Arbeiten denn auf die Rekonstruktion einer Biografie: auf das Leben eines "Lichtbildners", seine Verbindungen zur Hamburger (jüdischen) Gesellschaft und Tempelgemeinde, die Auftrags- und Gebrauchsporträts von Familien, höheren Töchtern, der Nachbarschaft und Handwerkern und seine Korrespondenz mit den Behörden, den Anträgen und Genehmigungen rund um seine beschwerliche Ausreise. Am Ende trägt man aber doch ein Bild nach Hause - vom Leben in der Hansestadt und von dem, was heute fehlt.
Alltagsgeschichten wie diese konstruieren sich oft über Zufallsfunde. So hatte ich vor einiger Zeit eine kleine Unterhaltung auf Instagram mit dem US-Künstler Dave Benz, der unter dem Namen Benz and Chang auftritt. Für seine wunderbar nostalgischen Aquarellbilder bezieht er sich immer wieder auf gefundene Fotos und sogenannten Cartes de Visite vom Anfang des letzten Jahrhunderts. Darunter war eine Werbeaufnahme des jüdischen Kaufhaus Heilbuth in der Steinstraße in der Nähe des Chile-Hauses. Die Brüder Heilbuth hatten 1903 Hamburgs erstes Kaufhaus eröffnet, an der Stelle, wo heute die Mundsburg Towers stehen und ein großes Einkaufszentrum existiert. Sie betrieben drei weitere Filialen in der Stadt, eine davon war die erwähnte in der Steinstraße. Im Fotostudio der Firma entstanden allerlei Ansichts- und Werbepostkarten, von denen eine den Weg über den Atlantik nach Portland gefunden hatte.
So wandern Geschichten durch die Zeiten, tauchen an unterschiedlichen Orten in neuen Zusammenhängen auf, transformiert, verwandelt oder auch bloß nur verdreht.
>>> Website von Benz and Chang
Dienstag, 26. Oktober 2021
Kaum schreibe ich über Flitzpiepen, mußte ich heute die Sammlerausgabe der kleinen Tageszeitung hier kaufen. Wer weiß, ob die mich nicht in den Knast bringt mir nicht irgendwann die Rente aufbessert, wenn ich die später mal versteigern will. Soll keiner sagen, in Hamburch sei nichts los. Zwar konstatierte unlängst auch die Zeit in 1 kleine Kritik zu Fritzi Ernst, daß die Hansestadt in den letzten zehn Jahren deutlich provinziell geworden sei. Hauptsächlich, weil die Freiräume immer weniger werden. Also die Plätze, wo junge Bands üben können, Künstler was bemalen, Dichter rezitieren.
Stimmt auch. Die putzige Schlacht der Nuller-Jahre, also es noch hieß "Hamburg oder Berlin" war damals schon entschieden und ist es heute erst recht. "Hamburger Schule"? Ja, damals. Um Abwechslung bemüht ist immerhin der Senat, dessen Mann fürs Innere sich seit geraumer Zeit eine muntere Auseinandersetzung liefert, die man im Internet wohl als Meme-War bezeichnen würde. Allen Ernstes werden Polizeikräfte bemüht, Aufkleber von Laternenpfählen zu kratzen und Wände im öffentlichen Raum zu übermalen. (Der Ablauf ist hier in diesem Twitter-Thread gut zusammengefaßt.) Cringe.
Ich frage mich, ob zum Beispiel das Museum für Hamburgische Geschichte solche Ergeignisse und dazugehörigen Artefakte (etwa die rund um G20 berühmt gewordenen Klobürste) sammelt und bewahrt. Oder wenigstens das Polizeimuseum, die sicher beste Beziehungen zur Asservatenkammer unterhält. In zehn Jahren möchte man dazu vielleicht eine kleine Rückblick-Ausstellung zum Thema "Die wilden Zwanziger" wagen. Ich könnte dann das Titelbild aus meinem Archiv (manche sagen: "Stapel") zaubern. Es ist also schon was los, und die ganze Stadt eine Bühne.
Sonntag, 4. April 2021
Dear God, I've served my time.
(PJ Harvey, "Send His Love To Me")
Eigentlich muß man ein Licht anzünden. Eigentlich muß man einen Ausflug machen. Ich mache nicht viele Ausflüge, und jetzt soll man es ja auch nicht. Vor ein paar Jahren war ich an Ostern in einem Kloster, das war ganz interessant. Da gab es einen Kreuzweg, da gab es eine Orgelprobe, eine Kunsthandwerksmesse, ein bißchen was Anzuschauen, Gräber, Leute, Tod, Schokolade und Auferstehung.
Beim Fotografieren stand immer jemand im Weg, heute hält man zu vielen Menschen Abstand. Manche sind nur aus ungewöhnlichen Perspektiven betrachtbar, man muß sich verrenken, sich totstellen, nach drei Tagen überraschen. Ein Licht ins Fenster stellen, alles neu machen. Sich ein ungestörtes Bild machen. Frohes Fest!
>>> Geräusch des Tages: Patti Smith Group, Easter
Sonntag, 7. Februar 2021
Früher™ schaute ich regelmäßig Aspekte, das beschloß den offiziellen Freitagabend, ehe man dann aufbrach, um in eine sogenannte "Discothek" zu gehen. Oder grübelnd ins Bett. Seit Aspekte mal so, mal so läuft, vor irgendwas, nach irgendwas, fluide Sendezeiten im Aufmerksamkeitslaboratorium Linear-TV, verpasse ich regelmäßig den ungeregelten wöchentlichen Kulturbeitrag.
2 Ameisen II (2015)
Jetzt aber stieß ich beim Herumstrolchen durch 52 inhaltslose Kanäle auf einen Beitrag bei Aspekte über Maximilian Prüfer, der fantastische Sachen im Zwischenfeld aus Biologie und Kunst macht. Es sind grundeigentliche Naturbeobachtungen, Aufzeichnungen von Insektenspuren zumeist, die als abstrakte Strukturen auf präparierte Malgründe erscheinen. Angezogen durch tote Tiere ("Lockmittel: Toter Fisch") ziehen allerlei Verwesungskäfer (oder ihre Larven) ihre Laufwege über den Grund, hinterlassen Bienen, Schnecken und Ameisen ihre verrätselten Spuren oder werden als Skulpturen neu geordnet. Der kurze Beitrag vom BR erläutert ein wenig seine Arbeits- und Denkweise. Man mag an Jean-Henri Fabre denken, dessen Naturbebachtungen und Insektenforschungen Ansatzpunkt für philosophische Betrachtungen und Vergleiche mit der menschlichen Natur wurden. Rausgehen, aufmerksam sein, eine schöne Tradition.
>>> Webseite von Maximilian Prüfer
Donnerstag, 19. November 2020
Ende Oktober lag bereits deutlich der kommende Lockdown in der Luft, und auch der Gedanke, daß dabei erneut die Museen geschlossen werden würden. So verbrachte ich schnell noch einen bummeligen Tag in den Deichtorhallen bei der von mir hibbelig erwarteten Ausstellung von William Kentridge "Why should I hesitate: Putting drawings to work". Spektakuläre Großveranstaltungen sind in Hamburg nicht häufig zu sehen, und als ich letztes Jahr von der geplanten Retrospektive erfuhr, war ich gleich begeistert. Ein überzeugendes Hygienekonzept (siehe Bild links) und ein besucherarmer Vormittag waren dabei charmante Rahmenbedingungen.
Kommunikation: Immer weiterzählen
Da ich an dem Tag ein Jahr älter geworden war, nahm ich auch die falsche Bildnummer nicht krumm. Du kannst nicht immer 37 sein, heißt es ja schon im Schlager. Der Südafrikaner Kentridge wurde mir vor ein paar Jahren durch eine Freundin aus Übersee nahegebracht, das ist ja alles weit weg. Südafrika. Und Übersee auch. Streng genommen kannte ich aus Südafrika nur Roger Ballen und Die Antwoord, die in ihren oft provozierenden und bestürzenden Arbeiten die Randbezirke und abgehängten Teile der zerrissenen Gesellschaft des Landes herausstellen. Durch Kentridges Werk zieht sich die brutale Geschichte von Politik und Apartheid, ist dabei aber oft eingekleidet in Humor und fantasievolle Symbolik. Ausgreifende Schwarzweiß-Zeichnungen, Installationen und immer wieder wilde Animationen sind zu sehen, darunter die mehrere Meter breite, beeindruckende Panoramaprojektion "More sweetly play the dance", in der wie in einer karnevalesken Prozession mit allerlei Gegenständen, Ackergeräten und Musikinstrumenten beladene Silhouetten vorbeiziehen.
Kommunikation: hin und her
Kommunikation: rundherum, herum, herum
Kommunikation: Die Botschaft ist klar und deutlich
Kommunikation: Welcome to the machine
Meine Lieblingsinstallation ist "O Sentimental Machine", die den Eingangsbereich eines türkischen Hotels um 1930 nachstellt. Dort hat Leo Trotzki Station gemacht, gemeinsam mit seiner Sekretärin Evgenia Shelepina. Der Raum (inklusive Bakelittelefon) wird zur Bühne eines wildgewordenen Boulevardstücks, in dem die zahlreichen Türen zwar nicht auf- und zuklappen, aber zu Leinwänden für simultan projizierte Filmschnipsel werden. Agitation, Philosophie, Liebschaften und surreale Maschinenmenschen geben sich hier förmlich die Klinke in die Hand. Fast wie bei mir zu Hause, wenn mal jemand da ist.
Kommunikation: Bitte leise sprechen!
Wie es sich für jedes gemütliche Hotel gehört, gibt es einen Lesesaal mit Bibliothek. (Jeder zweite Platz gesperrt.) Eine Möglichkeit zum Verschnaufen, zum Lesen natürlich und Eintauchen. Hoffentlich ist bald wieder auf.
"William Kentridge – Why Should I Hesitate: Putting Drawings To Work". (Deichtorhallen, Hamburg. Bis 21.4.2021.)