Samstag, 17. November 2007
in die Straßen der Städte ergossen
Und spülen vorüber die Trümmer zerborstener Welt.
(Ernst W. Lotz, "Aufbruch der Jugend". 1913.)
Um das allgemeine Empörungsgedröhne und Waschküchengezänk nicht zu hören, verlasse ich für gewöhnlich ja kaum noch das Haus. Selten jedenfalls ohne meine Kaufhalle- Einkaufstüte über dem Kopf. Aber nachdem mir immer wieder die netten Einladungen ins Haus flattern, dachte ich, komm, ist Samstag, da darfst du eine Stunde länger, gehen wir doch mal bei Linda bei. Dort zeigen im ehemaligen Feinkostladen Spirituosen Sigvald Hansen die Herren Jens Mittendorf und Daniel Schieben sehr hübsche Fotoarbeiten.
Mir gefielen dabei vor allem die Bilder Mittendorfs, nicht nur, weil sie aus den Achtziger Jahren stammen und in stimmungsvoll körnigem Schwarzweiß Alltagsbilder aus der DDR zeigen, die mich ebenso wie die kahlgerupften Wände in der Hein-Hoyer-Straße an mich selbst erinnern: zerbröselnd, perdu und mit dem mittlerweile leicht beklemmenden Gefühl, selbst auch einmal jung gewesen zu sein. Möglicherweise meinte der Autor der Bilder was völlig anderes, aber das kann mir mal schön egal sein. Nette Menschen übrigens dort bei Chez Linda, auch das muß man mittlerweile ja dick hervorheben.
Aber selbst wenn es hieße, ich mochte euch, ihr müßt das nicht unbedingt, ist es doch genau das, worum es Damals™ eben auch ging: einfach machen, eine Erinnerung schaffen, weil euch die als einzige nicht genommen werden kann.
(Jens Mittendorf und Daniel Schieben, bis 27. November im Kunstverein Linda, Hein-Hoyer-Straße 13, Hamburg.)
Freitag, 16. November 2007
Es wird kalt in den Straßenschluchten und draußen auf dem Lande. In Berlin aber hat man ein Herz für Künstler und daher drei von ihnen ans wärmende Feuer (gespeist aus Emotion & Hingabe) der Strychnin Galerie gelockt. Dort sind sie nun eingesperrt wohnen sie für zwei Wochen im Showroom in Friedrichshain und müssen schuften und arbeiten dort an der Ausstellung Goldmine Shithouse.
Das gleichnamige Kunstprojekt wurde 2003 von den US-Künstlern David Hochbaum, Travis Lindquist, und Colin Burns ins Taufbecken geworfen, eine Art Open Saturday, bei dem Freunde und Kollegen sich zur kreativen Jamsession im Atelier treffen - und dabei ordentlich Kunst machen und Quatsch vielleicht auch.
Begleitend kann man die Aktion im Blog der Gruppe verfolgen, dort gibt es auch kurze Videos zu sehen. Aber denkt daran, Internet ist nicht alles!
Wer nämlich einen näheren Vorgeschmack erfahren möchte, merkt sich den 16. November - ach, das ist ja schon heute. Berlin macht da, was es am besten kann, nämlich eine Party. Das Motto heißt: Nicht ins Hemd machen, sondern was drauf: Auf der T-Shirt Printing Party (heute ab 19.00 Uhr) packt man sich ein T-Shirt ein (oder zieht seins dort einfach aus, man ist da erfahrungsgemäß recht ungezwungen) und läßt sich für den Preis von zwei Bieren in Hamburg (ich kann das gerade nicht in Berliner Währung umrechnen) super Designs aufdrucken, mit denen man dann nach Ende des Winters Kunst auf die Straße bringen kann.
Am 23. November, also nächste Woche, eröffnet dann am selben Ort die Ausstellung Iron Lung und dazu kann man ruhig mal sein Viertel verlassen. In der ansonsten sorgenlosen Metropole gilt ja das Verlassen der enggesteckten Reviergrenzen als die gemeinhin größte Herausforderung.
(Goldmine Shithouse. Ab 23. November 2007 in der Strychnin-Galerie, Berlin, Boxhagener Str. 36)
>>>
Webseite von Goldmine Shithouse
Webseite von David Hochbaum
Seite von Travis Lindquist beim Brooklyn Art Project
Mittwoch, 7. November 2007
(Jonathan Meese)
Ohne Herrn Ichichich hätte ich es vielleicht gar nicht mitbekommen:
In der Reihe Keine Diskussion befragte Moritz von Uslar unser aller Lieblingskünstler Jonathan Meese zum Thema Sex. Der Saal war zum Knuddeln gefüllt, Musik von Metallica (nur vom Band) peitschte die erwartungsvolle Stimmung nach oben, künstlicher Weihrauch Nebel stieg allerdings nicht auf. Im Publikum ein wenig Hamburger und andere Semi-Prominenz. Eine NDR-Moderatorin, der ich zuvor jegliches Interesse für das Schaffen des Künstlers glattweg abgesprochen hätte, zog im Dunkeln plötzlich eine Brille auf, ein als "Popliterat" auch bundesweit bekannter Mensch unterhielt seine kleine Entourage mit sehr eckigen, sehr fahrigen Bewegungen, sich dabei immer nervös und hektisch umschauend, als erwartete er einen Lieferanten oder Autogrammwünsche.
Jonathan Meese, derzeit auf Platz 227 der BloggerKünstlercharts, war dann plötzlich da, körperlich, und stellte sich den Fragen von Moritz von Uslar. Es ging um Geschlechtsmerkmale ("unwichtig"), Pornographie ("immer"), Betten ("mehrere") und die Nr. 1 - das ist derzeit die US-Aktrice Scarlett Johansson ("Der Pferdeflüsterer"), die in einer gelungenen Montage ("In der Kunst gibt es keine Probleme") nackt mit dem Meister posiert.
Das war oft lustig, öfter noch ganz nett, manchmal auch bloß unvorbereitet - an manchen Stellen ("weiß ich nicht") kamen die Antworten ein wenig uninspiriert daher. Aber das macht nichts, die Hamburger sind freundlich und Meese ein Mensch, den alle nur liebhaben wollen. Immerhin fielen alle wichtigen Begriffe aus dem Meeseversium: Tierbabies, Erz, Pimmel, Demut & Revolution, Diktatur der Kunst - ein leichtes Spiel für Eingeweihte, Quereinsteiger wunderten sich über das heitere Gelächter im Saal. Ein wenig war es so, als stünde ich auf einer Bühne und zählte einfach Begriffe wie "Ringelstrümpfe" oder "tote Tiere" auf und beendete jede Erläuterung mit "immer weitermachen". Wer hier erst seit zwei Stunden mitliest - Hallo! - kratzt sich vielleicht am Kopf, andere machen mit der Hand Wischerbewegungen vor dem Gesicht und eine dritte, ausgesprochen sexy Gruppe weiß Bescheid!.
So gesehen, könnte ich eine zeitlang Jonathan Meese doublen, denn mittlerweile geht mir sein Wortschatz schon recht flüssig über die Lippen. Leider habe ich zwar, wie nebenbei zu erfahren war, offenbar dieselbe Hosengröße wie der Meister, besitze aber nicht länger dieses kräftige Haupthaar, so daß es schon in Ordnung geht, daß er seine Bilder für weit mehr Geld umsetzen kann als ich etwa ausgedruckte Blogseiten. Ist doch herrlich, einfach wunderbar.
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"Meese, Meese, Großgewese" - Ausstellungsimpressionen (super Wort!) hier im Blog
"Wie werde ich Jonathan Meese?" SpOn
"Ich bin verwirrt", Jonathan Meese beim Zünder
"Selbstreinigung" - Meese im Video (via Kunstkontakter)
Freitag, 24. August 2007
Zum Ausklang einer wundersam arbeitsreichen Woche, nehme ich mal lieber den Fuß vom Gas und mir gleichzeitig Zeit, ein wenig die Rosen zu genießen. Wo die wilden Rosen blühen - Es handelt sich, soweit ich es überhaupt verstanden habe, um ein höchstwahrscheinlich religiös-sentimentales Singspiel, bei dem Schlangenfrauen sich durch Dornbüsche swingen und Erzengel mit gleißenden Schwertern die Wahrheit ins Innerste bringen. Junge Nonnen singen, beseelte Priester lesen aus symbolbehaftetem Kartenwerk, ich will nicht behaupten, die Lithurgie genau verstanden zu haben.
Aber mit Glück werde ich als Freiwilliger ausgewählt, die Fußfesseln junger Damen zu überprüfen (ich bin da genau), ehe sie sich in einem Wassertank von ihren Ketten befreien. Kurz: Bei Profis schauen, was sich sonst nur in der stillen Kammer übt. Vielleicht wird auch wieder ein junger Mann zum Mitreisen gesucht. Solltet ihr nichts mehr von mir hören - sucht in einem Wassertank achtet auf die Plakate in eurer Stadt.
Freitag, 24. August 2007
Amerika, so heißt es, habe keine Kultur, es sei denn die von Mord und Totschlag. Statt feinem Pinsel das gestichelte Tattoo, als Skulptur der hängende Mann am Dorfeingang, statt Blattgold das Herz einer Hure aus dem nächsten Saloon. Preisen will ich die großen Männer: den Aussatz also, die An- und Abgetriebenen oder das, was man dann den "Amerikanischen Albtraum" nennt.
Joe Coleman, Maler, Musiker und als Vaudeville-Performer von einnehmend selbstironischem Humor beseelt, preist die seltsamen, grausamen Anti-Heiligen der Neuen Welt, in akribisch-obsessiven Legendentafeln, Ikonen einer Unterwelt: Serienmörder und andere Verbrecher, Freakshow-Artisten, Vergessene und Verstoßene zwischen Blutdurst, Sexlust und schlechter Kinderstube. Amerika und seine Rasselbande: Hier sind sie in Öl gebannt.
Der Sammler Coleman hat seine New Yorker Wohnung in ein "Odditorium" verwandelt, vollgepackt mit "Krempel" (wie ich immer zu hören bekomme), Kuriosa, Erotika, Blutrünstika - eine Art Harrys Hafenbasar des Mordgewerbes, darunter den unrühmlich erworbenen letzten Brief von Albert Fish. (Wenn du das liest: Gib ihn zurück, Joe, es gehört sich nicht.)
Die Ausstellung im Berliner KW setzt vielleicht ein bißchen sehr auf die Freakshow-Atmosphäre, stellt mit Wachspuppen und Zirkuswagen einzelne Sammlungsstücke recht aufwendig in Szene. Andererseits sind alte Bauwagen vielleicht nichts, was schwer zu bekommen wäre in Berlin, und überdies finde ich gerade Wachspuppen überaus langweilig. Das ist mir zuviel staubiges Panoptikum, in dem selbst die zweiköpfigen Kälber, falschen Mumien und echten Killer-Devotionalien teilweise ein wenig albern wirken. Immerhin eins wird deutlich: Coleman ist ein Künstler, bei dem das einzelne Stück wenig, die überbordende, totale Sammlung aber alles ist.
Das gilt im Detail auch für die eifernd kleinteiligen Bilder in den oberen Etagen der Ausstellung. Stationen exemplarischer Leidenswege, Apotheosen aus dem Gleis gesprungener Lebensläufe, darunter auch die jüngst mit Catherine Keener als An American Crime verfilmte Geschichte der Gertrude Baniszewski. Pardon wird in aller Drastik nicht gegeben, wenngleich man schon Fan eines an Robert Crumb erinnernden Comic-Stils sein muß, um diese Schau- und Erschütterungstafeln auch jenseits ihres Lehrgehalts ansprechend finden zu können. Aber man stelle sich diese naive Ästhetik als mexikanische Perlenstickerei auf einer Motorradlederjacke vor! Aufwand der Unangemessenheit!
Der Burnster hat noch ein paar Bilder und Impressionen mehr, ich möchte vielmehr auf den verdammt guten Kuchen hinweisen und auf die frappierende farbliche Nähe meines Notizbuchs zum kleinen Begleitplan durch die Ausstellung. Geht alle hin.
>>> Webseite von Joe Coleman
(Joe Coleman: Internal Digging. Noch bis zum 2. September im KW, Berlin.)
Donnerstag, 16. August 2007
Von meinem Unfall ist wohl doch etwas nachgeblieben. Der Hüftschwung von Elvis will mir plötzlich nicht mehr gelingen!
Dabei ist gerade die Comic-Biografie vom King erschienen, zu Papier gebracht von Titus Ackermann und Reinhardt Kleist. Heute abend, also jetzt, ist Vernissage bei Knoth und Krüger in Berlin. Aber Kid Creole Hüftsteif kann ja nicht.
So kann ich alternativ auch nicht Blood Tea And Red String schauen, den Kollege Groh in der Hauptstadt zeigt. Ah, Tischkante. Heulen könnt' ich wie ein Hound Dog.
Und Freitag? Nun, in meinem persönlichen Heartbreak Hotel wird man mich ebenfalls nicht tänzeln sehen. Dawn of the Dark Hearts heißt die Gruppenshow in der Strychnin-Galerie mit der Litauerin Natalie Shau, dem Kalifornier Matthew Bone, dem Franzosen Bijou und der Berlinerin Mimi S.
Es wird bunt, tragisch und berückend schön. Ich bin gewiß.
(Dawn of the Dark Hearts, ab 17.8. in der Strychnin-Galerie, Berlin.)
Freitag, 3. August 2007
Ich komme zu nichts, die Tage in der Fabrik fühlen sich an, als schlüge alle halbe Stunde das Personal eines Rob-Zombie-Films mit einer Schaufel auf meinen Kopf. Schnell dann aber doch in der Mittagspause zu Otto Dix gehuscht. Eigentlich hatte ich nicht viel erwartet, Aquarelle und Gouachen, Bucerius-Forum, eher zwei Signale, die gleichsam Achtung, kreuzende Rentner schreien, aber dann, he, war es doch sehr schön. Vielleicht werde ich einfach nicht nur alt, sondern echt alt. Außerdem, muß man ja auch mal sagen, sind diese Senioren oft äußerst interessiert, ganz anders als diese furchtbaren jungen Leute, die immer schon alles wissen und sogar besserwissen, nur weil sie ein, zwei Bücher zum Thema gelesen haben. Also so wie ich z.B.
Mit Geisterbahn und Glanzrevue lockte man mich folglich ins gar nicht so Dunkle, und Auswahl und Hängung haben nicht enttäuscht. Da verliert sich nichts im Spitzfindigen, da ufert nichts ins Beliebige, da sind für jede der fünf, sechs Stationen exemplarische Bilder gewählt. Angenehm auch, eine Ausstellung zu sehen, die aus der Beschränkung des Themas viel herausholt und nicht mit dem Superlativ des Von-Bismus nervt. Die bekannteren (Öl-)Gemälde fehlen denn auch und werden dennoch nicht vermißt. Die feschen Matrosen und kecken Deerns vom "Hafen der Lüste" bieten genug, daneben sorgt das Dix'sche Panoptikum mit Lustmord, Kriegskrüppeln und Großstadtschranzen für Schauder und Wiedererkennen. "Er führt seine Krüppel in einer auf Maßlosigkeit versessenen Gesellschaft vor, deren Hochaltar das Schaufenster ist", mahnt der Ausstellungstext den Geizgeil-Betrachter.
Unverschämt auch die zwei, drei offenherzigeren Werke, die Huldigungen an die Fetischisten und Sadisten beispielsweise. Der "Traum der Sadistin II" ist mit einem ebenso effektiven wie suggestiven roten Vorhang verhängt. Ein nebenstehendes Schild bedeutet dem Besucher, den roten Schleier vorsichtig zu lüpfen. Man weiß nicht, gilt die Vorsicht dem Stoff oder dem Empfinden - aber allemal spitzbübischer als die verschämte Verwahrung damals bei den Surrealisten in der Kunsthalle, als man die provozierenderen Fotografien mutlos ins Kabinett verbannte und mit piefigen Warnhinweisen versah (der Ex-Avantgarde noch postum den Bürgerschrecken auszutreiben), also allemal pfiffiger gelöst war das schon.
Lob also, und auf die begleitenden Kinderkurse wäre ich ja gespannt. Die Kinderbücher jedenfalls sind rührend begeisternd, mache ich sofort auch (Bücher, meine ich). Und nicht zu vergessen: Die haben dort einen verdammt guten Kuchen!
(Otto Dix: Geisterbahn und Glanzrevue - Aquarelle und Gouachen". Noch bis zum 9.9.2007 im Bucerius Forum, Hamburg.)
Donnerstag, 26. Juli 2007
Es wird Zeit, von Reisen zu berichten, die mich unlängst zur documenta führten. Gern hätte ich Fotos vom letzten Mal danebengestellt, aber die sind mir mal gestohlen worden abhanden gekommen. Neues Glück, nur fünf Jahre später: Den Reisenden erwartet vor dem Kasseler Hauptbahnhof eine anrührende Skulptur (gehört nicht zur documenta) des Künstlers Ernst Kahl zum vorgeblichen Gedenken an die Bombentoten des Tierwaisenhauses St. Bonifatius. Eine noble Geste, das wurde Zeit, auch dieser ärmsten der armen Kreaturen zu gedenken.
Ergriffen führte es mich weiter durch die sehr schöne Kasseler Innenstadt, der nach dem Krieg ein ebenso weitsichtiger wie geschmacksicherer Wiederaufbau beschert ward. Ein freistilistisches Ensemble in stahl- und betongrau, ein Simultangesamtkunstwerk, Nährgrund für viele documentas. Toll, aber bitte weitergehen. Auf dem Platz vor dem Fridericianum blüht der rote Tod Mohn, Zeit für innere Kunstsammlung. Hätte ich da bereits gewußt, geahnt oder bloß gehofft, daß auf den documenta-iPods Audioführungen zu hören sind, die u.a. von Sophie Rois gesprochen wurden, hätte ich mir so ein Ding natürlich ausgeliehen. Diese Stimme allein ist ja schon Kunst an sich, vor allem, wenn sie flucht. Oder laut schreit: "Revolution!" (Wer hat das schon?) oder nur vom Tod erzählt.
In der Halle nämlich gleich die erste freudige Überraschung: tote Tiere! Die recht unfachmännisch ausgestopfte Giraffe sieht aus wie eine schlechtsitzende Regenschirmhülle und erzeugt beim Betrachter allein deshalb schon Mitleid. Gleich daneben die Plüschbrigade von Cosima von Bonin: ein Hund, ein Tintenfisch, herzallerliebst, aber zum Mitnehmen zu schade.
Im Aue-Pavillon hingegen herrscht viel Platz. Wer ein bißchen Patafix oder Fotoknete mitnimmt, kann an einer der vielen freien Stellwände schnell noch ein eigenes Werk anbringen. Dankt mir ruhig - ich wünschte, ich hätte vorher davon gewußt. Überhaupt, im Vergleich zur letzten documenta erlebte ich eine eher heitere Stimmung. Vielleicht hat der Chinese Ai Weiwei die richtige Losung ausgegeben, als ein Sturm seine Turminstallation zerstörte. "Das ist besser als vorher", soll er angesichts des Trümmerhaufens lakonisch bemerkt und einen Wiederaufbau abgelehnt haben. Gleichsam entspannt das Aufsichtspersonal. Als ich meine Kamera auf die Umrandung von Ines Doujaks "Pflanzenbeet" (eine kritische Arbeit über Bio-Patente) abstellte, um eine kleine Raupe Nimmersatt zu fotografieren, die sich im und am Kunstwerk zu schaffen machte, wurde ich sanft ermahnt - mit einem Augenzwinkern allerdings und den Worten "Ich hab' extra gewartet, bis Sie das Foto gemacht hatten." Großlob noch mal von hier!
In vielen Museen darf man ja nicht mehr ohne weiteres Fotografieren, weshalb ich in letzter Zeit gerne den letzten überwachungsfreien Ort dokumentiere, um wenigstens ein Andenken und Gelegenheit zur Einrichtungskritik zu haben. Die Toiletten im Aue-Pavillon, möchte ich kurz anmerken, sind funktional, schmucklos, aber recht ruhig. Auch diese Information ist übrigens kostenfrei.
Zum Schluß dann etwas Sex & Rock'n'Roll: Freimütig gestimmte E-Gitarren (Skulpturaler Klang von Saâdane Afif) simulieren das autophone Orchester, bei dem mir die Epiphone-Verstärker im Retro-Look das meiste Verzücken entlockten. Für Eros sorgte interessanterweise Lee Lozano (auch schon tot), deren Werk ich letztes Jahr in Wien entdeckte. Eine fast schon "altmodische" Kunst, wie ja der Rückführungsgedanke ein zentraler Ansatz der diesjährigen documenta ist.
Es gab noch einiges interessantes mehr, die "Ethno-Masken" aus alten Kanistern von Romuald Hazoumé, die Totensammlung von Mladen Stilinovic und vor allem die beeindruckenden Fotoarbeiten von Jo Spence über Rollenverständnis, Identität, Körperbewußtsein und Krankheit.
Ein paar Eindrücke aus der Neuen Galerie und dem Fridericianum liefere ich nach. Glaubt nicht, es sei überstanden!
Freitag, 13. Juli 2007
und man lernt nie aus.
(Pressetext documenta 12)
Kassel wird aus dem Zugereisten nachvollziehbaren Gründen seiner Innenstadtarchitektur wegen weitaus weniger gerühmt, denn der 100 tollen Tage, die alle fünf Jahre die hessische Residenzstadt zum Nabel der Kunstwelt machen. Aus den dort bekanntlich sich ansammelnden Fusseln soll sozusagen Gold gesponnen und bar jeder zwingenden oder bloß störenden Form zur Märchenstunde verwoben werden, bei der allerlei Spezereien und wunderschöne Prinzessinnen, aber auch groteske Monstren und Unglückseligkeiten zu entdecken sind. Scheherazade war dieses Mal Roger M. Buergel, der zusammen mit seiner Lebenspartnerin Ruth Noack die documenta 12 zusammengestellt hat.
Obgleich ausgerüstet mit der Buergelmaschine zum besseren Verständnis (via artblog), befiel mich am Ende eines Ausstellungsmarathons der Schwindel und es ging mir wie Timm Ulrichs: "Ich kann keine Kunst mehr sehen".
Auf der Fahrt ins Kunstfantasialand hatte ich übrigens im ICE eine nette Zufallsbegegnung. Ich grüble erst, was grinst mich diese attraktive junge Dame über die Sitzreihen hinweg an, habe ich was im Gesicht? Und denke noch, die erinnert mich an eine Bloggerin, aber (Elementary, Watson!) kann ja gar nicht sein: Im Zug gibt es ja gar kein Internet! Haha. War aber doch so, und nun will bestimmt einer kommentieren mit: "So klein ist die Welt."
Nachdem ich die letzten Jahrzehnte Tage mit Schulungen, einigen Partien Bullshit-Bingo, Schulungen, Projektarbeit, Schulungen und Dingen verbracht habe, die ungefähr so nötig wären wie Blasen an den Füßen vor einem Ausstellungsbesuch, sehe ich andererseits so etwas wie fluoreszierendes Licht am Ende des Tunnels. Ich könnte dann das ein oder andere aus der schönen Stadt Kassel berichten. Demnächst.
Ich schreibe das jetzt aber erstmal nur heimlich in die Nacht. Dann entdeckt das so leicht keiner.
Freitag, 25. Mai 2007
Roger Ballen, 1950 in New York geboren, lebt seit Jahrzehnten in Südafrika. Er hat Geologie studiert, kam aber vielleicht über seine Mutter in Kontakt zur Fotografie. Die war nämlich Repräsentantin von Magnum in New York, was vielleicht eine bessere Schule war als manche, die sich dafür hält. Als Geologe legt man Schichten frei, schätze ich, und das macht Ballen bei Menschen mit der Kamera. Sein Thema ist die im Ausland wenig bekannte weiße südafrikanische Unterschicht. White Trash, ein verwahrlostes Prekariat, das in den Werken von Fotografen wie Nan Goldin oder Ray Richard Billingham auch in den USA oder Großbritannien zu musealem Repräsentation und Kunstmarktruhm gekommen ist. Das Ende der Apartheid stürzte die ehemals immer noch privilegierte Unterschicht in soziales Elend, das Ballen nicht verklärt, aber auch längst nicht mehr teilnahmslos, quasi-dokumentarisch abbildet.
Da stand er anfangs deutlich in der Tradition von Diane Arbus, der größten und zugleich eine der verkanntesten und umstrittensten Fotografin ihrer Zeit. Arbus hatte selbst schwer einen an der Klatsche, in gewisser Weise, Fischefrau, wen das astrologisch interessiert. Ihre großartige, wenn auch selbstzerfleischende Tat war aber, sowohl den gut situierten sprichwörtlichen New-Yorker-Zahnarztgattinnen als auch den Freizeit- und Wochenend-Beatniks und Blumenkindern eine Wirklichkeit ins Gesicht geklatscht zu haben, wie man sie lieber nicht sehen wollte: Irrenanstalten, Mittelstandshöllen, Falsch-Lächler, die sie - technisch ganz naiv - gnadenlos ausblitzte, überscharf aufs Korn nahm, daß... ach, über die Arbus müßte man mal schreiben! Auch schon tot.
Über Roger Ballen innere Disposition mag ich nicht urteilen. Seine grandios fotografierten Ausflüge ins psychische Lala-Land sind so oder so eindrucksvoll: verkommen, verloren, verlassen, verdreckt und verbrecherisch schön sind die Porträts aus den Anstalten, den heruntergekommenen Hütten und Räumen, in denen jede Hoffnung unter einer Patina aus Rotz, Dreck und Tränen liegt. Mit einem Wort: toll. Toll geworden auch seine neueren Arbeiten, die den Großteil der Austellung in den Deichtorhallen ausmachen. Wer sich die beiden dort gezeigten Dokus anschaut, sieht, wie Ballen seine Szenarien zusammensucht, die Personen, die Gestalten, die Objekte, mit denen sie agieren. Wie er arrangiert, probiert, Kompositionen schafft, die manche vorschnell surreal nennen, weil sie unwirklich meinen. Ich sehe das aber wirklich, es ist die Wahrheit und damit einfach nur real. Mitleidig und grausam zugleich.
Ballen arbeitet simpel, mit Hassi und Stabblitz. Sein Studio ist eine grimme Welt da draußen, wo einen müde Menschen anstarren und nur Tiere und Kinder für Bewegung sorgen. Er zählt sich zur letzten Generation der Schwarzweiß-Analogfotografen, sein Printer berichtet verschmitzt vom Verarbeitungsprozeß in der Doku "Selbstporträt". Von der Qualität der Arbeiten mag man sich gerne selbst überzeugen. Überhaupt: Wer von den Hamburger Ausstellungen mit ihrem Hang zum "gut Abgehangenen" genervt ist, sollte sich einen Ruck geben. Hier gibt es wirklich was zu sehen, verstörend schön oder wie Ballen auf der Eröffnung sagte: "Maybe a nightmare, maybe a nice dream."
>>> Webseite von Roger Ballen / Webseite der Ausstellung / Webseite zu Diane Arbus
(Roger Ballen, "Schattenkabinett". 25.5. bis 26.8.2007 im Haus der Photographie, Deichtorhallen, Hamburg.)