Donnerstag, 20. Oktober 2005


Der gefundene Satz, 23

"Um ein Geheimnis unter drei Menschen zu bewahren, müssen zwei von ihnen tot sein." (Benjamin Franklin)


 


Dienstag, 18. Oktober 2005


Köpfchen haben

Im Mai berichtete ich von Joan Sfars Comic-Erzählung Der Mexikaner mit den zwei Köpfen. Eine phantastische Gruselmär, denkt man, über einen manisch-besessenen Mexikaner, der von einem im Kopf eingewachsenen zwergenhaften zweiten Kopf mittels finsterer Tricks manipuliert wird. Ein Foetus-in-Foetus, ein medizinisches Phänomen, das wohl öfter vorkommt als man gemeinhin denken mag. Zumeist verwächst aber der tote Zwilling unbemerkt irgendwo im Körper und ist - je nach embryonalem Entwicklungszustand - kaum nachweisbar. Selten finden sich voller entwickelte Teile des Zwillings außen am Körper des Überlebenden, denn meist, so die mir bekannte Theorie, findet die Verschmelzung viel früher in der Gebärmutter statt.

Sfars Figur des Mexikaners mit den zwei Köpfen jedenfalls basiert auf einem realen Vorbild, wie ich nun hier entdeckte. Pasqual Pinon, so der Name des Mexiakners, tourte ab 1917 mit dem Sells-Floto-Zirkus und sorgte für beachtliches Aufsehen.

Leider aber ist die Geschichte nicht ganz wahr (hört, hört!). Pasqual Pinon war ein Arbeiter bei der mexikanischen Eisenbahn und litt unter einem riesigen Tumor auf seinem Kopf. Bei einer Operation wurde ihm eine Platte aus Silber, die zu einem menschlichen Gesicht geformt war, unter die Haut des Tumors geschoben - wodurch sich ein echt wirkender zweiter Kopf ausbildete. Eine frühe Form der Body-Modification anders als zu rituellen Zwecken also. Eine Show.

Wer weiterlesen und entdecken möchte, empfehle ich
Sideshow World und eben
Phreeque.


 


Montag, 26. September 2005


Der gefundene Satz, 22

Ich sehe um mich herum Kinder heranwachsen, die mich verachten. Sie kennen bereits den Preis eines Autos. Sie spielen niemals Räuber und Gendarm.

(Louis Aragon, "Das Schwarze Heft". Das Wahr-Lügen. 1980.)


 


Sonntag, 21. August 2005


J’ai besoin de faire parler mon corps

Es scheint die Art von Symbiose, die mir sehr ideal erscheint. Diese gegenseitig sich befruchtenden, engen, aber nicht konkurrierenden Künstlerbeziehungen, die über das Klischee von Maler/Modell oder allgemein Künstler/Muse hinausgehen.

Mïrka Lugosi ist die Lebensgefährtin meines Lieblingsfotografen (wenn man das in dieser Eindeutigkeit so sagen kann) Gilles Berquet. Die beiden leben zusammen in einer mittelgroßen Wohnung in Paris und machen gemeinsam ihre schmutzigen Sachen,
u. a. das kleinformatige und umso elegantere Fetischmagazin Maniac (bislang acht Ausgaben). Sie ist häufig Modell in Berquets Bildern, hat sich aber auch selbst als recht interessante Illustratorin und Malerin behauptet. Gemeinsam haben die beiden 2002 ein Buch veröffentlicht: Défence d'Ouvrier. Nun legt Mlle Lugosi nach mit ihrem schmalen Band Mademoiselle.

Hocherotische, pronografische Zeichnungen und frivole Illustrationen, übermalte Fotos (von Gilles Berquet) aus dem weitgesteckten Umfeld surrealer, morbider Gothic-, SM- und Fetish-Kultur - irgendwo zwischen Hans Bellmer,
Man Ray und, öh, Gilles Berquet. Anregend, humorvoll, morbide - ein echter Spaß für Auge und Hose.

Ach ja. Ich habe ein Foto von ihr in Ringelstrümpfen. Ein Grund mehr, Gilles Berquet zu beneiden bewundern.

(Mïrka Lugosi. Mademoiselle. Last Gasp, 2005.)

(Bei Last Gasp kann man fast blind kaufen: Für dieses Jahr sind dort noch angekündigt: Liz McGrath (endlich!) und Camille Rose Garcia. Falls jemand noch Weihnachtsgeschenke sucht.)


 


Donnerstag, 4. August 2005


Der gefundene Satz, 21

"Und wie er, EJ, immer sagte, man müsse gerade jene Menschen die einen ins Herz geschlossen haben immer wieder verletzen indem man sich zurückzieht um an der eigenen Arbeit bleiben zu können, also ihre Briefe unbeantwortet lassen, ihrer Bitte um eine Begegnung nicht nachkommen, und einen Zipfel herausziehen ganz fremd, herausziehen und sein Eigenes daraus machen, nämlich Spielart Spektakel des Veilchens, sage ich zu EJ"

(Friederike Mayröcker, Lebensgefährtin von Ernst Jandl, der am 1. August 80 Jahre alt geworden wäre. FAZ, 1.8.2005)


 


Donnerstag, 28. Juli 2005


Wahn und Trunk

Früh aufgestanden.
Nach dem Abwasch versucht,
mich mit einem Hausschuh zu erschlagen.
Sehr getrunken.

(Eugen Egner. Aus dem Tagebuch eines Trinkers. 1991.)



Das sind Sätze, die perlen wie lakonische Eintragungen eines lesenswerten Blogs. "Den ganzen Tag geweint, abends dann kräftig auf die Pauke gehauen". Das Tagebuch eines Trinkers ("Das letzte Jahr") von Eugen Egner ist ein schmales Bändchen voller süffisanter Feststellungen in kargen Sätzen. Mich wundert es ja nicht, daß der Autor ein berühmter, vielleicht sogar berüchtigter Wuppertaler ist. In der oft verkannten Stadt grassiert nämlich ein skurriler Humor, der außerhalb des Bergischen Landes zu unrecht auf Unverständnis stößt. Eine Stadt, die ihren Schabernack darin betreibt, Straßenbahnen durch den Himmel schweben zu lassen und Elefanten aus ihnen hinauszustoßen, gilt dem Rest der Republik als finsterer Hort groben Surrealismus'. In der Tat aber liegt ein kunstgeschichtliches Dreieck aus Expressionismus (Lasker-Schüler), Fluxus (Paik, Brock, Vostell) und deutschem New Wave (DAF, Plan, Fehlfarben) wie ein Grauschleier über der Stadt.

Egner, von dem es in den 80ern in der Stadt gerüchteweise hieß, "großartiger Typ, halbes Jahr in der Psychiatrie, halbes Jahr nur malen", gehört mit zum Dunstkreis um R. M. E. Streuf, Künstler, Musiker, Caféhaus-Pächter, ein Vorbild vielleicht. Ende der 70er-Jahre oszillierten Gestalten wie diese um Musikgruppen wie Armutszeugnis und Fehlfarben. "Ich muß mir einen kleinen Propeller vorn an die Schlafanzughose nähen und dann im Bad tänzeln", heißt es im "Trinker-Tagebuch". Wem wären solche Gedanken nicht schon mal hier und da gekommen, nach zwei oder drei Glas Grappa zuviel?

Wie aus dem hermetischen Café, einem der bekannteren Jammerblogs, entführt, klingt folgender Eintrag: "Unbekannte Frau in der Fußgängerzone* verbot mir, in ihren Armen zu sterben. Wenig schöne Szene. Danach Glühwein und rücksichtslose Kirchenkritik auf dem Weihnachtsmarkt. Schürfwunden."

Ein großartiges Buch, dessen Ende andere verraten mögen. Wir möchten nur warnen vor folgenden Nebenwirkungen vehementen Trinkertums: "Geträumt: Nach 37 Jahren erstmals wieder aus dem Fenster geschaut. Die Landschaft hat sich stark verändert, der Fluß trug sogar Koteletten."

Eugen Egner. Aus dem Tagebuch eines Trinkers. Zürich: Haffmanns, 1991.

(* Wuppertal hat übrigens, um Besucher vollends zu verwirren, gleich zwei Rathäuser und zwei Fußgängerzonen.)


 


Mittwoch, 27. Juli 2005


Der gefundene Satz, 20

"Die perfekte Melodie ist genauso schwer zu realisieren wie der perfekte Mord."

(Bjoern Ulvaeus in der Süddeutschen Zeitung, 23.7.2005)


 


Sonntag, 12. Juni 2005


Der gefundene Satz, 19

"An artist's life is very selfish. But it's thrilling to create something, and you need a certain set-up for the process to take place. You can`t have a lot of obligations."

"It's not a hardship for me. It`s only a hardship for me if I see I'm hurting other people. But maybe they were holding me back."

(David Lynch)


 


Samstag, 11. Juni 2005


Liebe Editoren,

ein bißchen mehr Augenmaß und Sensibilität beim Zusammenkleben des Lokalblättchens bitte. Danke.


 


Donnerstag, 9. Juni 2005


Vom Lesen und Lernen, II

Ausgebombt

Wahre Werte und eine antiidyllische Lebensanschaung vermittelte mir das zweite wichtige Buch in meinem Leben: Der bunte Tag. Dieses Lesebuch "für Volksschulen" (3. und 4. Klasse) stammt von 1951/54, war damit über zehn Jahre älter als ich und vermittelte in Gedichten, Märchen und Erzählungen einen Blick auf eine Welt, in der harte Arbeit wahren Lohn brachte. Grimmig und unsentimental ging es zur Sache, eben ganz wie daheim.

"Ich hatte sieben Geschwister", beginnt die erste Geschichte, die von den Steckrübentagen gegen Ausgang des Winters erzählt. Das "Abenteuer auf der Eisenbahn" beschreibt,wie fast ein großes Unglück passiert wäre, weil Kinder mit einem leerstehenden Waggon spielten. Schön ist auch "Der Verkehrsteufel":

Schrumdibumm, schrummdibum,
täglich bring ich ein paar um.
Schreibt's euch hinter beide Ohren:
Wer nicht aufpaßt, ist verloren!

Die Geschichte beginnt mit einem Satz voller Zeitkolorit für jemanden, der selbst noch auf Trümmergrundstücken spielte: "Als Kasper, der Freund der Kinder, in die zerbombte Stadt zurückkam, schickte er sich an, den Verkehrsteufel zu fangen."

Dieser finstere Geselle frönt einem makabren Spaß: "Der Schrei der Überfahrenen, das Wimmern der Verletzten ist Musik in meinen Ohren." Dann lockt er Kinder auf die Straße und... Ja, das waren Sätze, die mich bang und bänger machten. Verkehrserziehung war damals keine Kuschelpädagogik!


Andere Geschichten tragen Titel wie "Aus dem Tag einer Schaffnerin", "Mittags am Fabriktor" (wie den arbeitenden Vätern und Brüdern der Henkelmann gebracht wird), "An der Tankstelle", "Beim Kohlenbrenner" oder "Wie ich das Industrieland lieben lernte". Da wird über die Hochöfen und Stahlwerke, das Land und die Leute im Ruhrgebiet geschrieben: "Du wirst nachdenklich und still, wenn du das gewaltige Werk siehst. Der Mann im grauen Arbeitskleid ist unser Freund und Kamerad. Wer das Industrieland richtig kennenlernt, der muß es auch bald gern haben."

Dazwischen sind Märchen, Lieder und Gedichte gestreut. Bürger, Hebel, die Brüder Grimm, Storm und Rosegger sind die Autoren. Bis heute beeindruckt haben mich als Knirps die vielfältigen Geschichten über Behinderte und Außenseiter. "Der dumme Frieder" z.B. ist so einer, der immer gehänselt wird, sich am Ende aber als Held erweist, oder Arabella, das Zirkuskind, das von den anderen argwöhnisch betrachtet wird. Echte Tearjerker aber sind die Geschichten von den Bethelkindern. So wie die, in der "Mariechen", das Mädchen mit dem riesigen Wasserkopf, und das gehbehinderte "Fritzchen" Weihnachten feiern.

"Im dritten Jahr des großen Krieges lagen in einem Krankenzimmer von Bethel zwei Kinder." Da rührt sich was, bei arbeitsscheuen Hypochondern und anderen lesenden Sentimentalisten. Ab und an kamen mit einem weiteren Blick auf die damalige Alltagswirklichkeit Kriegsverwundete zu Besuch:

Ein blutjunger Bayer [...] hatte ein Bein verloren, dazu fast das ganze Augenlicht, auch sein Leib war schwer zerschossen. Er fragte Mariechen, ob es nicht schrecklich sei, jahraus, jahrein so still liegen zu müssen. "Ach, sagte Mariechen, und ihre helle Stimme schallte durch den ganzen Raum, "man muß eben geduldig sein."

Peter kommt ins Krüppelheim

Jaja, Geduld. Dulden und so weiter - das fand der "junge Bayer" dann auch. Ergreifend. Nicht jammern, weitermachen, Ruhe als erste Bürgerpflicht - so waren sie, die 50er Jahre. Und so wird bald alles wieder sein.

Aber auch das war nur eine Vorbereitung auf den Höhepunkt gegen Ende des Lesebuchs. Was passiert, wenn der Verkehrsteufel zuschlägt, erfährt man nämlich auf drastische Weise in der absoluten histoire verité "Peter kommt ins Krüppelheim". Eine Straßenbahn hat dem unachtsamen Buben die Beine zermalmt, und nun kommt er zu den anderen jungen Leuten ins Josefsheim, erhält ein Holzbein und eine künstliche Hand und muß nun lernen "die linke Hand zu gebrauchen". Bürstenmacher kann er werden oder Anstreicher, Bäcker oder sogar Schlosser. (Oder Pflasterverkäufer.)

Die Schwester führt ihn herum auf dem Klinikgelände, wo er nun leben wird und wo es Wälder, einen kleinen Bauernhof und einen Spielplatz gibt. Bald lacht Peter mit den anderen Kindern, sitzt im Sand und baut einen Tunnel, denn "das geht auch mit einer Hand".

Die Schwester sieht das und freut sich mit; denn sie hat ja nichts lieber als frohe Kinder, die vergessen, daß sie im Krüppelheim sind.

So freut man sich eben, wie man kann. Mein echtes Lesebuch in der Grundschule kam mit seinen öden Geschichten über eine Gärtnerfamilie nie an den grimmigen bunten Tag heran. Ich vergaß es neulich zu erwähnen, als die Bücherliste herumging. Aber Der bunte Tag kommt auf jeden Fall mit auf meine einsame Insel.