Sonntag, 7. Februar 2021
Früher™ schaute ich regelmäßig Aspekte, das beschloß den offiziellen Freitagabend, ehe man dann aufbrach, um in eine sogenannte "Discothek" zu gehen. Oder grübelnd ins Bett. Seit Aspekte mal so, mal so läuft, vor irgendwas, nach irgendwas, fluide Sendezeiten im Aufmerksamkeitslaboratorium Linear-TV, verpasse ich regelmäßig den ungeregelten wöchentlichen Kulturbeitrag.
2 Ameisen II (2015)
Jetzt aber stieß ich beim Herumstrolchen durch 52 inhaltslose Kanäle auf einen Beitrag bei Aspekte über Maximilian Prüfer, der fantastische Sachen im Zwischenfeld aus Biologie und Kunst macht. Es sind grundeigentliche Naturbeobachtungen, Aufzeichnungen von Insektenspuren zumeist, die als abstrakte Strukturen auf präparierte Malgründe erscheinen. Angezogen durch tote Tiere ("Lockmittel: Toter Fisch") ziehen allerlei Verwesungskäfer (oder ihre Larven) ihre Laufwege über den Grund, hinterlassen Bienen, Schnecken und Ameisen ihre verrätselten Spuren oder werden als Skulpturen neu geordnet. Der kurze Beitrag vom BR erläutert ein wenig seine Arbeits- und Denkweise. Man mag an Jean-Henri Fabre denken, dessen Naturbebachtungen und Insektenforschungen Ansatzpunkt für philosophische Betrachtungen und Vergleiche mit der menschlichen Natur wurden. Rausgehen, aufmerksam sein, eine schöne Tradition.
>>> Webseite von Maximilian Prüfer
Donnerstag, 4. Februar 2021
Mein Auskommen fand ich ja lange Jahre als berühmter Gummibaummaler. Beinahe jede Amtsstube, aber auch viele Privatleute drängten mich um ein Porträt ihres grünen Stubengenossen, meist als Aquarell, weil die Materialbeschaffung nichts allzu Extravagantes genehmigen wollte. Manchmal auch in Öl, wenn es sich um reiche Fabrikanten, Import-Export-Kaufleute oder auch betuchte Pflanzenfreunde handelte.
Die Krise begann, als der florale Freund außer Mode geriet, ein Schicksal, das ihn nur menschlicher machte. "Gestern warst du noch wer, heute bist du nichts", wer kennt das nicht. Einmal den falschen Ton getroffen, den Elfer verschossen, die Pflanzen fremder Menschen gepflückt, schon heißt es, wheee (Comicgeräusch) Rolltreppe abwärts.
Meine ausgewiesene Expertise als renommierter, extrem akkurater und detailverliebter Gummibaummaler ist heute nicht mehr viel wert, ich sitze also weitgehend nutzlos meditierend hier in meinem Bachelor pad unter einer gut gepflegten Zimmerpflanze, drinke Blumenwasser, damit nichts austrocknet und höre etwas japanischen Freejazz zum schwarzen Jacket. Es ist ein ewiger Lockdown. Monat für Monat verlängerter Hausarrest, der Ausblick so wie in der Fotoserie der britischen Fotografin Julia Fullerton-Batten. Erwartung im getrübten Licht.
>>> Julia Fullerton-Bartens Webseite
Mittwoch, 27. Januar 2021
Über den Onkel wurde in der Familie
nach diesem Vorfall nicht mehr gesprochen
Hamburg wird seit ungefähr 400 Jahren von der SPD regiert. Aus dieser langen goldenen Zeit haben sich zwei informelle Gesetze herauskristallisiert. Zum einen muß der jeweilige Erste Bürgermeister, sollte er Kanzler werden, zum wolkigen Gruß an die hier ansässigen Tabakkonzerne das Rauchen anfangen. Helmut Schmidt zum Beispiel, eigentlich strikter Nichtraucher, wurde so zum umwölkten Großpolitiker. Zum anderen dürfen SPD-geführte Bezirke auch ohne Bebauungsplan und ansonsten zwingender öffentlicher Anhörung Bauvorhaben beginnen. So wie hier im Fall des Freibads.
Das Freibad hier ist neben dem Park die einzige Attraktion im Viertel, wo es ansonsten noch nicht einmal einen vernünftigen Bäcker gibt. Da wollen im Sommer halt viele lieber ein Capri- oder Schöller-Eis am Büdchen kaufen. Dazu gibt es 50-Meter-Bahnen, eine endlose Wasserrutsche, Liegewiesen und etwas in die Jahre gekommene Einrichtungen. Makel machen die Bademeister weg, die ganz so als lebten wir in unbeschwerten Zeiten, über die Sprechanlage mit Animationsgerufe ("Döp! Döp! Döp!"), Sicherheitshinweisen ("Ich sag's nur noch einmal: Nicht vom Beckenrand!") und Verabschiedungen ("So liebe Leute, es ist 18.45 Uhr, gleich ist Schluß für heutäääää!") sich selbst, die Besucher und auch die Anwohner bei Laune halten. In lauen Sommernächten ging der Betrieb oft gegen Mitternacht weiter. Jugendliche Juchzer, Wasserplatschen und Rufe wie "Wo sind meine Sachen?!" verrieten lebenslustige Zaunübersteiger, irgendwas mit Vitalität und Nervenkitzel, Oben ohne und Anbahnungsschwimmen.
Die jungen Leute werden sich etwas anderes suchen müssen, denn ein Investorenprojekt in weiterer Nähe braucht Platz. Jetzt müssen Liegewiesen Sportplätzen weichen, es kommt Kunstrasen statt feuchtigkeitsspeichernder Wiese und als Ersatz ein kleines Hallenbad dorthin. 25-Meter-Bahnen, bei denen geübte Schwimmer schon nach fünf Zügen die Wende erreichen, und zu allem Überfluß nur für Schulen und Vereine benutzbar. Bis auf das Wochenende. Da steht das Bad auch für die Öffentlichkeit zur Verfügung. Ein Bebauungsplan existiert noch immer nicht, eine öffentliche Anhörung gab es auch nicht, das ist Hamburger Gutsherrenart seit 400 SPD-Jahren. Immerhin gilt auch im Hallenbad nun sogar ein Rauchverbot.
Seit einem ominösen Vorfall um meinen Urgroßonkel Sobieslaw, der es einst sogar in die Gazetten schaffte, wird in meiner Familie weder über den Onkel noch über Hallenbäder gerne gesprochen. Der Onkel beschwor, von Chlordämpfen benebelt gewesen zu sein, diese Warnung läßt mich bis heute zurückschrecken vor diesen feuchtwarmen Pilzinkubatoren. Sie erzeugen bei mir Atemnot. Genau so wie das Kettensägenmassaker an den vielen kleinen und vor allem großen Bäumen, die bislang auf dem Gelände standen. Auch die waren gut fürs Mikroklima. Aber der nächste heiße Sommer ist ja noch ein paar Wochen hin, und in einer Pandemie sollen Menschen eh zu Hause bleiben.
>>> Bericht in der Taz
Donnerstag, 21. Januar 2021
An einem kalten Herbstag im Jahr 1959 kam der junge Tommy Slobonczyk vom Spielen nicht nach Hause. Zuletzt wurde er an der Hand seiner Nachbarin Sylvia Masciacz gesehen, seither sind beide verschwunden.
Es sind die Rätsel, die uns wachhalten. Schleier, hinter die man schauen will, Türen, die man mit gestohlenen Schlüsseln öffnet. Lichter am Himmel, Kreuze auf der Straße, vergessene Notizen in alten Büchern. Jemand hatte Kekse gebacken, jemand hatte ein Auto angelassen. Kleinigkeiten, Indizien. Hinter dem Bild im Rahmen steckt eine Notiz, der Gruß eines geheimen Liebhabers in krakeliger Schrift.
Da ich nicht so gut darin bin, einen verdammt guten Kuchen zu backen, habe ich mir dieses kleine bewegte Gemälde erlaubt zum 75. Geburtstag von David Lynch. Der hat gestern allen einen großartigen Tag gewünscht, feiern konnte er wohl ansonsten in Ruhe, alle Augen waren auf Washington gerichtet. Auch wenn der Twin Peaks-Schöpfer neulich in einem Interview erklärte, er hätte zwar ein voll ausgestattes Studio im Haus, aber kein Geld, einen Techniker zu bezahlen, wird es wohl zu einem kleinen Sekt gereicht haben, schätze ich. Denn allein der Stapel seiner Bücher ist in meiner nicht ganz so voll ausgestatteten Wohnung ungefähr so hoch, daß ein Kleinwüchsiger aus einem seiner Filmen gerade so eben darüberschauen könnte.
Als ich in den 90er-Jahren an Walton's Mountain studierte, gab es dort eine Gruppe sehr kluger Studentinnen, die eifrig die mysteriösen oder einfach auch nur überzuckerten Geschehnisse von Twin Peaks diskutierten und versuchten, den Mörder zu entlarven. Ab und an, wenn ich mit Stubenfegen durch war, warf auch ich mal eine Bemerkung ein oder lobte Kirschkuchen, was mich irgendwann einer schönen jungen Frau näherbrachte, mit der ich später auch eine andere mysteriöse TV-Serie nachspielte analysierte. Es gab auch mal gute Zeiten, falls jemand fragt. Das habe ich alles David Lynch zu verdanken! Andere danken auch. Die Norwegerin Ingvild Eiring hat zum Beispiel ein wundervolles und aufwendiges Diorama zum roten Zimmer in Twin Peaks geschaffen. Ich selbst, vermute ich, werde mit 75 längst nicht so einflußreich sein wie dieser Auteur, der seit längerem wieder regelmäßig den Wetterbericht auf Youtube verkündet und die Zahl des Tages auslost. Die 37 7 ist nie dabei, aber dabei könnte es sich um ein Geheimnis handeln.
>>> Geräusch des Tages: David Lynch, Good Day
Dienstag, 12. Januar 2021
In meinem Debütpolitroman Die Ballade vom braven Mann erzähle ich die Geschichte eines älteren, alleinlebenden Mannes, den Nachbarn als "stets freundlich und unauffällig" beschrieben, der aber eines Tages beschloß, sich gegen das System aufzulehnen und sein Glück in eigene Hände zu nehmen. Auf den Tag folgte die Nacht, und in der brach er, nur mit einem Schraubenzieher, eisernem Willen und einem mathematischen Plan ausgerüstet, in eine Lottobude ein, fuhr den Rechner hoch und hackte sich in das Buchungssystem ein. Zunächst stellte er die Systemuhr auf eine normale Öffnungszeit um, dann buchte er in langer Vorbereitungszeit vorab ausgefüllte Lottoscheine mit variierender Superzahl ein. 14 Millionen Stück.
Symbolbild Strand
Erwartungsgemäß, ich will nicht zuviel verraten, war darunter ein sog. "Hauptgewinn" (und mehrere kleinere), die er ordnungsgemäß bei der Lottogesellschaft deklarierte, den Millionenbetrag nach ausführlicher Sicherheitsbelehrung und Ausgabe mehrerer Fondssparprospekte seiner Bank vom Konto abhob und mit einer prall gefüllten Reisetasche nach Wuppertal fuhr. Ich weiß, daß jetzt einige von der Handelskammer approbierte Witzbolde wie von einer Zwangskrankheit befallen auf Loriot verweisen werden. Jedoch hatte der Held des Romans, der durchaus autobiografische Züge trägt, Verwandtschaft in der kleinen Metropole des Bergischen Landes.
Er traf sich dort auch mit dem ein oder anderen Anhang in einem nicht besonders besonderem Café, erklärte stets freundlich und großzügig, "laß mal, ich zahl schon" und ging dann zurück zum fußgängerunfreundlichen Bahnhof, wuchtete die Tasche über Treppen und Treppen und dann weitere Treppen zum anderen Gleis, dachte jedoch nicht im Traum daran, Stadt oder Bahn ein paar Mark für eine Rolltreppe dazulassen. Briefkästen waren alle abgebaut. Statt in die große Stadt zurück fuhr der Zug, in den er stieg, direkt durch (ist ein fiktionaler Roman) in ein kleines Dorf an der südfranzösischen Küste, wo er in jungen Jahren mal eine ebenso junge Frau geküsst hatte, die Proust las, der er aber nicht intellektuell genug gewesen war.
Er nahm sich eine kleine Wohnung mit Blick aufs Meer, grüßte stets freundlich die Nachbarn, sagte "Merci" und "Au revoir", kaufte am Nachmittag von der Mittagssonne bereits etwas welk gewordenes Gemüse und öffnete sich dazu abends eine Dose Sardinen, füllte einmal in der Woche einen Totoschein für die erste französische Liga aus und lebte ansonsten ein unauffälliges Leben ganz wie früher in seiner alten Heimat.
Sonntag, 10. Januar 2021
Jetzt, da ich ein wenig Heimfreizeit habe, fand ich auch Zeit, mir ein paar neue Musker anzuhören. Darunter die sympathisch pragmatisch benannten Dry Cleaning aus Südlondon, die jung sind und Krach machen, dabei aber angenehm unaufgeregt sind. Sachlich, mit einem gewissen britisch-distanzierten sneer vorgetragene Texte aus aufgeschnappten Fetzen aus dem Alltag, Gequatsche im Bus, absurde Werbeschlagzeilen, dahinter treibt eine dichtgeklöpppelte Band wie ein stampfender Royal-Mail-Zug, der wichtige Postpunk-Briefe bringt. Alles ohne Firlefanz wie hier im Knaller Magic Of Meghan. (Der Songtitel beflügelt das Gerücht, daß tatsächlich Prinz Harry an den Drums sitzt. Aber das ist ein Fall für die X-Akten.)
Bislang gibt es zwei EPs, die hierzulande aber schwer erhältlich sind. Die Band ist 2020 bei 4AD untergeschlüpft, Adresse für gute Musik seit den 80ern. Die Tour für dieses Jahr wurde allerdings gerade aufgrund der aktuellen Situation verschoben. Hm. Bis dahin muß ich so mitsummen. Und Alltagstexte sammeln.
>>> Geräusch des Tages: Dry Cleaning, "Scratchcard Lanyard"
Freitag, 8. Januar 2021
Wenn mir noch einmal jemand naseweis erzählt, man solle Salz erst ins Nudelwasser kippen, wenn es bereits kocht, weil Süßwasser ja schneller heiß werde als Salzwasser UND DAS SEI PHYSIK, kriege ich Aortaklopfen. Denn das ist natürlich erstmal nur brav nachgeplappert (liebevoll gemeint). Natürlich ist das "Physik", so wie unter dem Einfluß der Gravitationskräfte auch Lichtstrahlen verbiegen. Ist auch "Physik". Aber welche Bedeutung hat dies denn für das reale Alltagsleben? Die unterschiedliche Erwärmung von Salzwasser und Süßwasser ist relevant für große Gewässer, bei einem gebräuchlichen Topf mit einem Liter Wasser kann man das vernachlässigen. Der Unterschied, Christian Stöcker hat dies mal in seiner langjährigen Kolumne "Stimmt's?" für Die Zeit im Labor nachmessen lassen, beträgt nicht einmal eine Sekunde. Warum man es trotzdem macht? Weil Salz im kalten Wasser zu Boden sinkt und dort mit dem Metall eine Reaktion eingehen kann. Der berüchtigte Mikrofraß, den niemand in seinen schönen Töpfen haben möchte. Im heißen Wasser hingegen löst sich das Salz sofort auf und wird verdünnt. Gute Chemie halt, so wie sie auch unter Menschen herrschen sollte. (Ich komme ja zum Glück mit allen gut aus.)
Solche Unterschiede zwischen gelahrter Theorie aus dem Lexikon der populären Irrtümer und anderer Party-Pooper und praktischer Alltagsrelevanz lernt man am Besten durch persönliche Nahbetrachtung. Forschungsreisen in die Moselei, Sterngucken durchs selbstgebastelte Teleskop, Käferbetrachtung in schattigen Wäldern, Ausgrabungen in Nachbars Garten... man muß einfach nur raus, und Augen und Ohren offenhalten. Ralph Waldo Emerson hat dazu alles gesagt, der denkende Mensch muss raus in die Natur, der Bücherwurm bleibt daheim.
Aber auch Emerson sah ein, daß es "idle times" gebe, oder wie wir heute sagen: Lockdown, in denen das vorgekaute Wissen aus Büchern doch interessant sein kann. Sofa statt Pendeln und dann in einer Art innerer Forschungsreise gemütlich schauen, welche Expeditionen es früher so gab. Für kleines Geld gibt es dafür den hübschen Bildband Kosmos großer Entdecker: Leben, Skizzen und Notizen, darin kurzgefaßt die Biografien und Reisen bekannter Forscher und Entdecker wie von Humboldt, Linné, Livingstone, Amundsen, Bruce Chatwin, Howard Carter, aber auch einiger Frauen wie Amelia Edwards, Vivian Fuchs, Marianne North, die - im 19. Jahrhundert zumeist - ferne Länder, steile Berge und weite Meere erkundeten, dabei auch mal das ein oder andere fein gesalzene Süppchen am Lagerfeuer oder im Iglu warm machten und mit Glück statt Besserwisserei oft faszinierende Erkenntnisse nach Hause brachten.
Hauptaugenmerk liegt dabei wie im Untertitel vermerkt auf den Skizzen und Notizen. Wir sehen Fotos der originalen, meist im Feldeinsatz und nicht im Caféhaus abgewetzten Journale und Notizbücher, Abbildungen von oft liebevoll kolorierten Skizzen und Karikaturen über aufregende Nilreisen, exotische Tier- und Pflanzenwelten und beeindruckende Landschaften. Manche eher ungelenk (so wie sie bei mir wären), viele aber doch sehr ansehnlich. Tolle Schmökerei für Sofawintertage und Ansporn für die Zeit nach der Pandemie.
(Huw Lewis-Jones, Kari Herbert. Kosmos grosser Entdecker: Leben, Skizzen und Notizen. München: Sieveking Verlag, 2016.)