Montag, 2. April 2018


Sonne ohne Gück

Ich komme jetzt in das Alter für Fußbäder und Apfelessig. Und Nachdenklichkeit. Gerne auch in Kombination. Nachdem ich mich neulich unter dem Gelächter der Kollegen geoutet habe, gelegentlich Gegenstände bei Manufactum zu kaufen, kann ich über derlei Angelegenheiten nun ebenfalls ganz freimütig sprechen. Das Alter führt eben zu innerer Bordüre und Fußermüdung. Dabei ist sozusagen Apfelessig mein Sundowner, den trinke ich dann, die Füße im Wasser, und schaue in den Untergang.

That was when I was twenty, half my life ago, and a boy my age made the most politey democratic proposition I ever received: would I like to make a movie with him in the ruined hospital near my San Francisco home? I would, we did, and we spent the next six years together in amazing tranquility...

Rebecca Solnit ("Coming of age in the heydey of punk, it was clear we were living at the end of something") schreibt in ihrem formidablen A Field Guide to Getting Lost über Aneignung verlassener Plätze, ehe dies wie heutzutage eine beinahe zu ubiquitäre Subkultur der "Lost Places"-Aufsucher geworden ist. (Früher hatte man als junger Mensch einen eigenen Detektivclub, heute sind es "Urban Explorers".) Solnits Buch enthält eine Menge kluger Beobachtungen, vor allem über notwendige Perspektivwechsel. Wann ist man also "verloren"? Häufig doch eher für die anderen, deren Blick und Einfluß man entwichen ist. Doch ist man nicht hier, ist man vielleicht woanders, aber nicht verloren. "Verloren sind übrigens immer nur die anderen" könnte man Duchamp oft verballhornten Spruch über den Tod abwandeln.

Sich über die Kunst kennenlernen, kommen wir zurück zu Solnit, ist vielleicht das Schönste. Oder sagen wir: Zusammenarbeit. In "amazing tranquility". Welch ein Glück. Wie so ein Schloß mit Vögeln drumrum.

(Rebecca Solnit. A Field Guide to Getting Lost. London: Penguin, 2006.)


 


Sonntag, 1. April 2018


Traditionell



Von wegen Kraft durch Tanzen, alle Jahre wieder ertönt dieselbe Leier: "Oh, du meine Güte voll Blut und Wunden - an Karfreitag herrscht ja Tanzverbot!" Nie war die Gesellschaft bedrohter als an diesem Tag, denn auch wenn mal an einem Tag einige Ruhe und Besinnung suchen, soll doch Rambazamba sein. Gut, mit 17 sah ich das auch noch anders. Aber nur, weil in meiner kleinen Stadt nur am Donnerstag Gelegenheit zur musikbegleiteten Bewegung war. Jedenfalls was vernünftige Musik anging. Und wenn dann um Mitternacht nicht die Kürbiskutsche kommt, sondern das Ende der Party, da kann man als junger, schüttelzwanggeplagter Mensch schon mal Kreuzweh fühlen. Um im Bild zu bleiben.

Heute klagen Menschen, die wahrscheinlich lange schon nicht Tanzen waren, ihre Not auf dem Kurznachrichtendienst, während man selbst Schmerzen in den Händen und an den Füßen fühlt. Und an der Seite auch. Zum Glück kommt Ostern und damit Tradition der Fröhlichkeit, aber Tradition ist ausgerechnet Traditionalisten auch ein Kronendorn im Auge. Ein Kreuz. Aber nur, um im Bild zu bleiben.

Meine Lieblingsinfluencerin aus Wien und ich indes bewerben den Traditionshasen, als ob nichts Böses unter der Sonne glänzen würde. Denn Ostern ist ja traditionell ein Fest der genußfreudigen Aufbruchstimmung. Traditionell feiert auch Angeliska, die Großmeisterin der bunten Feiern, ein Kostümfest. Ich bleibe bei Grabesstimmung. Denn seit ich im letzten Jahr die strikte Anweisung freundliche Empfehlung zur Roten Beete erhielt, habe ich dieses Gemüse mit dem Geschmack alter Friedhofserde tapfer zum Ostergericht erklärt: "Denn siehe, das Grab war leer." So eine Freude, aber die Rote Beete liegt auf meinem Teller. Traditionell aber sehr gesund.

Welche Freude hingegen, als neulich diese Russin um ein Glas frische Milch bat. Ein Glas Milch! Mit Todesverachtung dem Leben zugewandt. So was gibt es doch an und für sich gar nicht mehr. Ein Osterwunder.

Wenn ihr Eier habt, tragt Hut.


 


Samstag, 24. März 2018


Kraft durch Tanzen



Ich mußte gestern mit einer russischen Pole-Dancerin zusammenarbeiten, genauer gesagt mit einer Russin, die auch Pole-Dance macht, es soll jetzt nicht zu aufregend klingen. Jedenfalls war es zwar anstrengend, auch weil ich nur drei Worte Russisch kann, aber atmosphärisch so sehr entspannt, daß ich mich beim Gedanken ertappte, mir vielleicht auch so eine Stange daheim im Südflügel zu installieren. Ich müßte nur den Stutzflügel Fernseher ein wenig zur Seite schieben und nach oben die gläserne Decke, die mich mein Leben lang schon aufhält, durchstoßen.

Wie vom Wink des Schicksals geleitet stolperte ich heute auch noch beim Gelegenheitsbummel durchs Oberland über die bei mir völlig verdrängte Existenz von John Neumeiers Ballettladen. Hier könnte ich samstags immer zum Üben hin, damit ich meinen Frühjahrtanz tanzen kann. Noch ziert sich diese vorherbstliche Jahreszeit recht gehörig, vielleicht könnten rituelle Kulturgesten hier ein wenig nachhelfen.



Bis zur Bühnenreife (oder wie auf dem Bild: Museumsreife) ist es für einen rostigen Roboter wie mich sicherlich ein weiter Weg, da ist ja doch der eine oder andere Schlackepartikel ins Getriebe geraten. Aber heute, wo mit Beginn der Sommerzeit das Leben wieder eine Stunde kürzer wird, ist wie gestern schon oder die Woche davor eine gute Gelegenheit, noch bessere Vorsätze zu fassen.

Nachher führt man maulige Klage wie so ein Blogger - oder Vincent Gallo. Der Bursche hat sich mit einem Offenen Brief zu Wort gemeldet, in dem er nicht durchgehend bündig tausend Dinge klarstellt und sich am Ende nicht zu schade ist, gegen meine Freundin Viv Albertine zu keilen. Die wiederum hat ihrer Begegnung mit dem wilden Mann eine launige, letztlich vor allem bedeutsam symbolische Anekdote in ihrem tollen Buch, das ihr hoffentlich jetzt endlich alle gekauft habt, gewidmet. Ratet, wer in meinen Augen die schlechtere Figur abgibt?

Demnächst tanze ich euch die Antwort.


 


Montag, 19. März 2018


TV Dinner

Genug der Kreativprahlerei. Das Geheimnis guter Pferdemalerei ist ja das Ableinen und zum Abschwitzen Auslaufen lassen. Mal einfach loslassen. Derweil sitz ich mit meiner Laune meditativ vorm Fernseher und schaue, wie andere so Fernsehen.

TV DINNER from Maya Galluzzi on Vimeo.

Abendruhe. Strobostatic im TV, die Frau träumt von einem Oktopus. Träum weiter, Baby, und häng das Bild gerade! Tolle Geschichte, wer schaut sich hier nicht gerade selbst im Spiegel an. Maya Galluzi hat's gemacht und das Schweizer Fernsehen zur Unterstützung bekommen.

Macht nachdenklich!

Super 8 | von kid37 um 22:04h | 7 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Freitag, 16. März 2018


Einen vom Pferd erzählen



Was ja wenige wissen ist, daß ich seit ein, zwei Jahren unter die Pferdemaler gegangen bin. Noch reichen meine Fertigkeiten nicht dazu, in der Fußgängerzone zu sitzen und Bleistiftporträts von Roß und Reiter feilzubieten. Aber verbissen bleibe ich dran, übe Mähnen, zuckende Ohren, Schweif und Hufe, scheitere regelmäßig am Schattenverlauf der Nüstern, aber das sind Details, mal hier mal eine Trense, dort mal eine Blesse, dem hübschen Pony einen hübschen ebensolchen, und zack, wie im Galopp ist das Bild fertig. Meine kryptischen Zeichungen werden allerdings nicht von jeder Reiterin erkannt, da stimmten ja die Relationen nicht, und ob man nicht besser die Pferdedecke des Schweigens...? Da muß man dann das Tier wechseln und erst einmal ein Hühnchen rupfen. Du erkennst ein Pferd nicht, wenn es im Flur steht? rufe ich. Und zitiere aus dem letzten Traberseminar: Da muß man sein Mindset ändern!

Metaphernhengste erzählen dann vom toten Pferd, ich von rheinischem Sauerbraten. Ein alter Meister fragt, ob ich nicht das alte Sprichwort von den Eltern kennte: Wenn du das Pferd nicht zeichnen kannst, probier es mit dem Sattel. Fest drinsitzen nämlich, sich nicht abwerfen lassen, nicht auf Roßtäuscher hereinfallen, immer erst ins Maul schauen.

Es ist, schreibt auf, beim Malen wie immer im Leben: Erst Longieren, dann passionata.

>>> Geräusch des Tages: Blonde Redhead, Equus


 


Mittwoch, 14. März 2018


Viv-a!

Da wir gerade so schön unter uns sind und ich so langsam umstehenden Menschen ein wenig auf die Nerven gehe mit meiner neuentdeckten Begeisterung für Viv Albertine die Slits. Aber dahinter stecken natürlich wie so oft frühkindliche Prägungen, denn meine "Freundin Viv" (wie ich nun regelmäßig aufgezogen werde) hätte damals ja so etwas wie eine große Schwester sein können.

Warum auch nicht? Was spätere Biografen sicher lange schon geahnen haben werden, wäre das ein Riesenspaß gewesen. Das kann man, kommen wir zur Botschaft, in diesem kleinen und raren Filmdokument sehen, wo ich ab Minute drei wie Zelig in einem meiner ebenso kleinen und raren Auftritte kurz zu sehen bin, wie ich mit meiner Wasserpistole für Schrecken in der rechtschaffenen Bevölkerung sorge. (Die Slits machen das dann auf ihre Weise so gegen 7:20'. Da durfte ich aber nicht mitmachen, wegen dem Jugendschutz. Hübsch albern amüsant aber, wie Sängerin Ari-Up, beim Versuch, in der Wechselstube die Strumpfhosen zu wechseln, meint, das ginge jetzt nicht so schnell - "I'm not a fucking genius". Als ginge es im Kulturleben sonst stets um seelenschwere Erkenntnisse! Die Klamotten sind übrigens auch super, da könnte ich mal was in meinem FAZ-Fashionblog zu schreiben. Wenn ich das kriege.)



So war das eben damals, Ende der 70er. Ich war eben doch mal jung.

Radau | von kid37 um 21:00h | 2 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Sonntag, 11. März 2018


Meet the Family



Ich lade ja hie und da zum Kaffee ein, unbefangen und kuchenhungrig wie ich bin, aber die ungezählten Stufen hinauf zum Leuchtturm schrecken Ungeübte ab. Wie gut indes, wenn man eine bucklige Familie hat, mit all ihren obskuranten Eigenheiten und wenn auch kurzatmige, so doch durch kein noch so festgezurrtes Fischgrätkorsett zu bremsende Montanttalente. Colin Batty hat die Rasselbande bildhübsch porträtiert. In all ihrer Besonderheit, denn was Strahlung durch oberirdische Atomtests, verbotene Pestizide und Dosenobst anrichten können, hat man früher jahrzehntelang gesehen. Wenigstens wußte man noch, daß Diesel dreckig war.

Batty, jetzt heißt es aufgepaßt, macht seine Bilder nicht wie wir auf dem Computer, sondern für die heutige Zeit fast schon verhaltensauffällig mit einer starken Lupe und einem Pinsel, so fein, die Wimper eines Babys wäre ein Straßenbesen dagegen. Damit malt er entzückende Porträts, unter anderem auch von mir, wie ich meine neuen und beeindruckend kleidsamen, wie ich in aller Bescheidenheit anmerken möchte, Wintersachen anprobierte. (Gegen scharfen Küstenwind hilft diese Kappe ganz vorzüglich.)

Tante Lucia mit dem elektrischen Kopf ist darunter, der schöne Werner mit dem Fleischwolf auf der Stirn, die Zyklopen-Cousins aus der Nachbarschaft und Mizzie und Sprudel, die Angeheirateten, die immer wuschelige Mützen aus Echthaar trugen. Schöne Erinnerungen allesamt, denn so jung kommt man bekanntlich zu Kaffee und Kuchen nicht mehr zusammen.

(Colin Batty. Meet the Family. Portland: Freakybuttrue, 2014.)

Ex Libris | von kid37 um 16:33h | noch kein Zuspruch | Kondolieren | Link