Mittwoch, 18. Juli 2012


Meine Wälder sind schöner als deine komischen Träume



Heute: Regen. Da könnte man glatt melancholisch werden, wären da nicht Menschen wie Lily Fawn. Ich war sicher, hier bereits über Ms Fawn geschrieben zu haben, die mit ihren melassetrüben Moritaten wie "Don't Be Afraid" quietschende Türen in mißmutigste Herzen schnitzen kann. Offenbar war das aber immer nur ein frommer Gedanke gewesen, irgendein Punkt auf irgendeiner Liste. Wer sich jedenfalls fragt auf einem seiner urbanen oder extraurbanen Spaziergänge, wieso da eine junge Frau mit Geweih auf dem Kopf herumläuft, die mich an eine alte Duzfreundin von mir erinnert, der ist möglicherweise der kanadischen Entertainerin begegnet, die mit ihrem Partner Hank Pine rauchzarte Kaschemmenmusik und Hinterhofgospel macht, für die Zeit, nachdem man seine Tiere in den Stall gebracht hat.

Die beiden haben einige luftig-skurrile Videos zusammengemalt und sind so Leute, die aus jeder herrenlos vergessenen Teekiste gleich eine Bühne machen. Mit ihrer Version von The Bar At The Bottom Of The Sea könnten sie auch gerne mal nach Hamburg kommen. Ich wüßte da eine Seemannskneipe.

Und ich meine, die trägt ein Geweih, Leute.

>>> Webseite von Lily Fawn

Radau | von kid37 um 15:37h | 8 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Mittwoch, 18. Juli 2012


Betrunkene Schmetterlinge



Ein weiterer Tag in der staubigen Dachstube, dumpf im Kopf, überhaupt, dieser merkwürdige Druck im Kopf, die Beine wie von biegsamen Drähten gehalten, der Blick durch einen Nebel, durch den sich eine zögernde Sonne bricht, stummes Staksen, aus der Zeit gefallene Tage in einem aus der Jahreszeit gefallenen Sommer. Boote zählen, Anrufe, Joghurts im Kühlschrank. Milchpakete an der Tür verhandeln, den eigenen Radius am Gang zum Müllcontainer bemessen. Zwischen Lagerkoller und Hospitalsehnsucht wechseln, alle Sendungen schon kennen, alle Buchrücken und die Wollmäuse dem Namen nach.

Alles mal aufschneiden wollen und totspritzen oder ausschaben oder ganz laut "Ruhe im Puff!" brüllen oder heimlich den Pschyrembel umschreiben und sagen, "Hier, Leute, das sind jetzt eure neuen Handlungsoptionen, sonst nehme ich selbst einen alten Kleiderbügel aus Draht". Der hängt auf dem staubigen Speicher, da hänge ich meine Puppen dran. So was mal sagen und befriedigt von so viel Perspektive, die Äuglein fein zufallen lassen, denken, jetzt ist aber mal Ruhe im Kopf, oder sich einfach treiben lassen, mit dem Zug durch eine mittelgebirgige Landschaft oder einen Fluß entlang.

An Gesichter denken, die Stimmen, den Sack voll Versprechen, die man aufbewahrt hat für schlechtere Tage. Die kommen ja auch noch.


 


Montag, 16. Juli 2012


Wolken ziehen vorüber

Erste Meldungen erreichen mich, es solle mal heitere Abwechslung sein zwischen all den toten Tieren und morbid-medizinischen Betrachtungen. Also, ich könnt' ja noch stundenlang! Die frohe Botschaft des Tages lautet: Heute konnte ich bereits freihändig auf dem Trimmrad fahren.

Um also Abwechslung in meine weiterhin leicht anthrazitgefärbte Stimmung zu bringen, schaute ich aus meiner kleinen Kaurismäki-Bibliothek Wolken ziehen vorüber von 1996 mit der wunderbaren Kati Outinen. Schönstes Zitat: "Das Leben ist kurz und traurig. Freu dich, solange du kannst."

Ilona (Outinen) und ihr Mann Lauri stemmen sich (nebst Hund) gegen die Arbeitslosigkeit und weitere Tücken eines ebenso nüchtern wie unbarmherizg wirkenden Schicksals, trotzen dem sozialen Abstieg mit stoischer Würde, verlieren Job, Auto, Geld, Wohnung und Möbel, nicht aber sich selber. Wieder einmal stelle ich fest, Kaurismäkis Versöhnungsszenen gehören zu den schönsten des Kinos. Wortkarge, selbstinszenierungsfreie Feststellungen getreu der Eisbergtheorie, nachdem Neunzehntel des Ereignisses unsichtbar bleiben. Das kaum noch gebrauchsfähige Wort der Unverlogenheit möchte man ja fast nicht mehr benutzen.

Musik, Ausstattung und Fotografie sind wie immer makellos, ebenso präzise gesetzt wie die Dialoge, mit denen sich das Personal schwärzeste Wahrheiten ohne tiefere Verletzungsabsicht entgegenwirft. "Du bist zu alt." - "Ich bin 38." - "Eben. Du könntest jederzeit abkratzen." Ein Film als poetischer Kommentar zur Krise und zu einer tiefen Liebe, die sich als sachliche Zuneigung tarnt.

Super 8 | von kid37 um 01:59h | 8 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Samstag, 14. Juli 2012


IGEL-Leistung muß sich wieder lohnen



In der gleich der glücklichen Kühen von Hand abgemolkenen und von empfindungshungrigen Mäulern gierig getrunkenen Milch der frommen Denkungsart heißdurstig begehrten schreckschraubenlockeren Reihe Mit toten Tieren durch das Jahr kommen wir heute zum Igel [Erinaceus europaeus].

So ein Igel hat es schwer. An seinem Stachelkeid perlt nichts ab, so wie es Schmutz und Schmand an einer Ente tun. Die kann durchs Laub watscheln und schauen, unbeschadet auch mal nass werden, an ihr bleibt nichts hängen, keine Beschuldigung, kein böser Traum, kein Regen, keine Tränen, nichts. Der Igel als Sandrechen der Erinnerung harkt alles auf, beschriebenes wie unbeschriebenes Blatt, hält fest und ordnet und rackert sich auf diese Weise bis in den Herbst, nach dem ihm dann ein erschöpftes Schläfchen winkt. Die Unbekümmerten im Garten indes danken es ihm nicht. Sie säen nicht, sie rechen nicht, doch siehe, sie liegen doch den lieben langen Tag auf aufgeräumtem Rasen, betrachten dies als selbstverständlich und haben für das abendliche Schnaufen ihres Kollegen im Stachelarbeitsanzug nur Hohn und Schulterzucken übrig.

Wohl wird unser fleißiger Geselle darob pieksig, macht spitze Bemerkungen wie eine widerborstige Spaßbremse, die sich rückwärts durch die Luftballonparty einer Krankenkasse robbt. Was ihn schnell aus der allgemein akzeptierten, wohlgefälligen Inklusion befördert. Ehe er sich versieht, ist der Igel extra. Und ehe man sich selbst versieht, heißt es, Laub rechen? Das kostet extra. Denn der Igel macht katalogbestückt die beleidigte Diva, streckt zum letzten Gruß den Mittelfinger raus und sagt: "Genossen, wir hätten Freunde sein können. Aber jetzt macht euren Scheiß allein, ich mach die Biege", und flüchtet sich in seinen letzten Winterschlaf.


 


Donnerstag, 12. Juli 2012


News from the Bunker

Die letzten Tage führe ich eine Existenz ähnlich der von W. S. Burroughs, hocke zwar nicht tagein, taugaus in einem lichtlosen Bunker, meditiere dafür aber auf meinem Krankenlager - oder nennen wir es für die späteren Biografen Mein kleines Feldlazarett. Wo andere in Maklersendungen oder Kochshows versinken, reiße ich mich immerhin soweit zusammen, hübsch gemütlich durch kleine Stapel meines Lieblingsmagazins Cabinet zu blättern.



Das Quarterly for Art and Culture ist in Deutschland leider schwer aufzutreiben und von den mittlerweile 45 Ausgaben besitze ich auch nur knapp ein Drittel. Aber was für ein Genuß! Die einzelnen Ausgaben sind thematisch orientiert (hier ein Überblick) und versammelt dazu Beiträge, Bilder und Dokumente aus unterschiedlichen Disziplinen von Kunst und Wissenschaft. Themen wie "Friendship", "Dust", "Insects" oder "Insecurity" werden dabei in oft hochüberraschenden, kenntnisreichen Gegenüberstellungen von zumeist akademischen Autoren an ungeahnten Stellen angepiekst und seziert. Getrieben wird das Konzept von der Idee der Wunderkammer. Man stößt auf historische Experimente, bizarre Anekdoten von der Antike bis zur Moderne, historische Abrisse und gelehrte Streifzüge durch Philosophie und Kunst- und Kulturgeschichte. An die Seite gestellt sind themenbezogene Kunstprojekte, popkulturelle Phänomene oder literarische Exkursionen.

Wirklich vorbildlich ist die Gestaltung der einzelnen Hefte. Von einer Stiftung getragen, bleibt der Inhalt werbefrei. Dazu sind jeder Ausgabe ein eigens gestaltetes Lesezeichen und eine Ansichtskarte beigefügt, zu schade fast zum Heraustrennen, aber auch das ist ein psychologischer Test für Leser und Sammler. Dringend fehlen mir noch die Ausgaben "Ruins", "Forensics", "Magic" und "Doubles". Wer solche mal irgendwo verstauben sieht entdeckt, mache doch bitte Meldung an mich.


 


Mittwoch, 11. Juli 2012


Älter werden

Schönheit liegt manchmal im Beklagenswertem. Auf einer Welle eines diffusen emotionalen Gleichklangs empfinde ich gerade eine gewisse Verbundenheit mit diesem Gnadenhof. Die US-amerikanische Fotografin Isa Leshko hat für ein Fotoprojekt alte Tiere porträtiert. Tiere, wie wir sie normalerweise nicht sehen, weil sie als Nutztier unbrauchbar oder als Heimtier zu kränkelnd und zu leidend scheinen. Häufig aber, so vermitteln ihre ganz behutsamen Bilder, sind eben auch Tiere einfach nur alt, eine Betrachtung, die uns jungen, urbanen Fitness-Gestalten fremd oder sogar befremdlich erscheint. Auch so eine Studie in Würde und Durchhaltevermögen.



>>> Webseite von Isa Leshko.


 


Dienstag, 10. Juli 2012


Mal weitersehen



In meiner Bibliothek sieht es gerade etwas rumpelig aus, was daran liegen mag, daß mir mitunter das ein oder andere aus der Hand fällt. Aber Staubwischen und andere niedere hauswirtschaftliche Tätigkeiten führen derzeit zu nichts, auf meinem Weg zur Altmannwerdung benötige ich meine Kraft, mir Hilfsmittel zu Basteln. Eigentlich kein Spaß, reden wir hier doch über das weitreichende Thema Autonomie im Alltag. Mein neuestes Projekt in Sachen Überbrückungstechnologie bezieht sich auf die Amplifizierung meiner Sehhilfe, denn im Moment sieht manches ziemlich düster aus. (Keine Details.) Mit ein paar Klebepunkten und alten Brillengläsern habe ich nun probehalber hochgestapelt und kann nun immerhin diese chiffrierte Mitteilung tippen.

Auch kann ich erkennen, wer mir in den letzten Tagen ab und an Nahrungsmittel vor die Türe stellt und behauptet, meinen Vornamen zu kennen, während ich hier eine kleine unvorhergesehene Auszeit im Kriechgang nehme. I'm a Cyborg, But That's OK heißt es im Film, das könnte folglich noch eine spannende Unternehmung werden, wenn [Stromausf.]