Montag, 5. September 2011


Landausflug



Ich liebe ja Hochzeiten. Beerdigungen haben auch ihren Reiz, vor allem, wenn es einen selbst nicht betrifft, aber Hochzeiten haben oft das bessere Essen, die bessere Musik und obendrein meist die bessere Laune. Wenn es also irgendwo eine Hochzeit gibt, ich bin dabei. Beinahe ist es so, als hätte ich allzeit bereit eine kleine Reisetasche wie einen Notfalleinsatzkoffer für Hochzeiten neben der Türe stehen, in der ein freundliches Hemd und eine festliche Jacke darauf warten, mich zu einer Trauung zu begleiten. In meiner kargen Freizeit lungere ich manchmal vor dem Standesamt herum, klatsche Beifall für die Brauleute, hake mich unter, biete mich als Trauzeuge an. Ein wenig trage ich mich sogar mit dem Gedanken, mich allein deshalb doch bei diesem Facebook anzumelden, um Mitteilungen über bevorstehende Hochzeitsfeiern zu erhalten, um dann wie eine Art Owen Wilson in Die Hochzeits-Crasher hereinzuplatzen, ein wenig fröhliche Melancholie wie Blütenblätter oder Reiskörner zu verstreuen, und generell der Erste zu sein, wenn der Hochzeitskuchen endlich zerteilt und die Schnitten herumgereicht werden.

Es herrschte ja früher so ein Hunger. Einer dieser großen, einer nach diesem allem, vor allem in der ersten Zeit in dieser großen Stadt. Am Wochenende also fanden glücklicherweise meine zuvor unablässig gemurmelten Gebete Gehör für ein kurzes Zwischenhoch, und ich ließ mich kurzerhand ins Schleswig-Holsteinische Guts- und Begütertwesen entführen. Hochzeit auf dem Lande, das ist sozusagen das Crèmeschnittchen unter den Hochzeitsfeiern. Zwischen Scheunen, Herrenhäusern, Pferdeställen, weißen Pavillons auf grünem Cricketrasen fühlte ich mich zunächst wie beim Jahrestreffen von Young, Young, Young & Söhne, denn um mich herum lungerten zunächst halbjunge, den konservativen Parteien nahestehenden Menschen in Gel und Nadelstreifen (die Schuhe, ihr Aktenkoffermänner, immer habt ihr so dürftiges Schuhwerk an!) begleitet von ihren Begleitfrauen, den zukünftigen First Ladies und Beilagen.

Diesmal allerdings war ich das Ziermöhrchen, kannte quasi keinen, konnte also wahlweise behaupten, entweder zur Seite der Braut oder der des Bräutigams zu gehören. Auch diese kannte ich nicht, war aber spaßeshalber der erste bei der Gratulation, knuffte den Gatten und flüsterte der Braut, nachdem ich mich zutraulich in ihr Dekolletée gedrückt hatte, zu, ich hätte gehört, es gebe sehr guten Kuchen.

Den gab es auch, und dazu dieses ausnehmend schöne Wetter, das sich wie ein Urlaubskatalog um die schönen Menschen legte. Während ich, ein einfacher Mann aus dem Mittleren Westen, den es auf die Hamptons verschlagen hat, vom Liegestuhl aus die Szenerie beobachtete und zu dem Schluß kam, daß diese Feier wie ein Urlaubsort war, nur mit besser gekleideten Menschen und keinen, die in bunten Bermudas und Badelatschen die Szenerie verschandeln, umwuselten mich kecke Kinder auf Laufrädern, teilnehmende Verwandte, keine Hunde, aber Raucher und andere freundlich herausgeputzte Gäste. Im, nennen wir es Herrenhaus schnupperte ich an den Lüstern, suchte die Bibliothek vom großen Gatsby, fand an meinen Fingern keinen Staub, als ich den Lack der Möbel prüfte.

Draußen auf dem Rasen klöppelte inzwischen der Grillimpressario auf seinem Flammenrost beidhändig mit den Zangen herum, daß er aussah wie ein Vibraphonist oder Marimbaspieler, der eifrig die Musik begleitet, die von der lampionverhängten Tanzfläche herüberwehte. Bessere als ich zunächst befürchtete, wie ich festhalten möchte. Ein blondes Mädchen im luftigen Kleid erinnerte mich an eine Exfreundin, und kurz überlegte ich, ob ich nicht mit ihr durchbrennen sollte, war sie doch mit einem Mann zusammen, den sie nicht brauchen konnte. Dann fiel mir ein, daß besagte Exfreundin mich einst auch nicht brauchen konnte, wandte mich also lieber erneut diesem fantastischen Kuchen zu, unterhielt mich mit einem Paar aus Berlin, die aufatmend gesund aussahen und muntere Dinge über Stadtentwicklung zu berichten wußten. Zwischen dem Bräutigam und mir paßte irgendwann kein Blatt Papier mehr, wie man so sagt, wir haben uns quasi für den Abend "geaddet", und er hatte sich sogar meinen Namen gemerkt, wie ich merkte, als er mir im vertraulichen Ton zuflüsterte, daß im Kühlhaus noch Massen an Kuchen standen. Gute Menschen, allesamt.


 


Samstag, 3. September 2011


Just Kids



"In Bed with Patti" titelte die Galerie über Judy Linns Ausstellung. Ihre Fotos aus den Jahren 1969 bis 1976 zeigen eine junge Patti Smith in ihrer Zeit mit Robert Mapplethorpe in New York. Straßenszenen, aber auch viele Momente, gestellt und als Schnappschuß mitgenommen, in ihrem Apartement, auf Stühlen, auf Kissen, und ja, im Bett. Die Fotos sind dicht dran, beiläufig oft, nie aufdringlich. Man merkt das noch Unfertige der Protagonisten, die Suche und manchmal schon den auf maximale Energie verdichteten Punkt, der kurz vor der Explosion steht, den Moment, wo sie das Bild von Bob Dylan, das sie auf einem Foto vor dem Gesicht hält, ablegt und Horses, horses, horses losstürmt als Patti Smith, Rock'n'Roll-Star.

Judy Linn hat dieses Jahr ihre Fotos aus dieser Zeit in einem wirklich hervorragenden Bildband herausgebracht. Viele Fotos sicher "nur" von dokumentarischer Qualität, andere ikonografisch, rückblickend aber alle roh und unverschämt genug, diese Prä-Punk-Jahre zwischen kaputten Verhältnissen, kaputten Klamotten und ungerichteten Träumen in glaubhafte Bilder zu setzen. "Oh, I'm so young, so goddamn young", singt Smith auf "Privilege". Hier kann man es sehen.

("Judy Linn - Patti Smith 1969 - 1976". White Trash Contemporary, Hamburg. Bis 15. Oktober 2011.)


 


Dienstag, 30. August 2011


Lebendigtote Tiere



Zuletzt kehrte ja so etwas wie Totenruhe ein in der ansonsten so ausgelassen und munter synkopierten Reiehe Mit toten Tieren durch das Jahr, so daß ich mich genötig sehe, wenigstens ein paar Eindrücke und Schätze zu teilen, deren ich in letzter Zeit habhaft werden konnte. Die beiden Bildbände Die präparierte Welt und Animalia eint eine der Zeit enthobene, nostalgische Ästhetik, die an sepiagetönte Plattenkameraufnahmen erinnert. Geringe Tiefenschärfe und ein Schwerpunkt auf Details führen den Blick ins Imaginäre, in die Schattenzonen, den unwirklichen Zwischenbereichen, bei denen man unsicher ist, ob wir uns noch im Diesseits oder Jenseits befinden. Im Fall von Die präparierte Welt fällt die Entscheidung noch leicht, die Fotos von Philippe Bréson sind im Naturhistorischen Museum in Wien entstanden. Diese Tiere sind ganz sicher tot, wirken aber oftmals wie lebendig.

Anders bei Henry Horenstein. Seine Fotos sind in Zoos und Aquarien aufgenommen worden, und doch sehen die porträtierten Tiere oft starr und unwirklich aus, wie in einem schweren Traum erstarrt, daß man meint, sie seien Präparate. Horenstein, der sich einen Namen als (Country-)Musikfotograf gemacht hat, läßt eine auffällige Ruhe in seine Tierfotografien einfließen, so als hätte er bei der Arbeit hundert Jahre Zeit gehabt und verlange dies nun auch von uns. Ein kontemplativer Zoobesuch, wie man ihn sonst nur in den Sälen der letzten Dinge im Wiener Prachtbau der Naturhistorie erlebt. Schöne Ergänzungen also, am besten zur beginnenden Nacht betrachtet.

Henry Horenstein. Animalia. Rom: Contrasto, 2008.
Philippe Bréson. Die präparierte Welt. Wien: Brandstätter, 1994.


 


Montag, 29. August 2011


Wochenende




Die Mansardenwohnung erlebt eine Spinneninvasion, die achtbeinigen Seilkletterer haben die Nasen voll vom in sich selbst verknoteten Wetter und drängen hinein in die Küche, die gute Stube, das Ankleidezimmer und die fahl nur beleuchteten Winkel der Diele. Bleich aber sitze ich nicht unter wildem Wein, sondern zwischen Nacht und Regenwolken. Nach einer Woche, in der ich mir vorkam wie ein rollschuhlaufendes Telefonvermittlungs-Girl, die vor einer großen Schalttafel auf- und abfährt und mit bunten Strippen neue Verbindungen knüpft, gehetzt vom aufgeregten Klingeln und Blinken drängender, in Bakelit gefaßter Signallampen, erschöpft die Zeit gestohlen, zwischen auf- und abschwellenden Regenschauern eine Runde mit dem Rad zu drehen. Laß uns über Regenkleidung sprechen. Laß uns sehen, wie die Arbeiten am alten Wasserfilterwerk vorangehen. Wege sind schon um die Becken gelegt, an den hübschen Pumpenhäuschen vorbei, die alte Villa steht offen, aber zu viele Spaziergänger behindern eine heimliche Inaugenscheinnahme.

In den letzten Wochen noch einmal Carnivale gesehen, um endlich die zweite Staffel anzuschließen, langsam, langsam arbeite ich den Berg hinunter, die aufgestapelten Bücher, die zu Staub zerfallenen Gedanken, Textanfänge, Bildideen, die nun von den eingewanderten Spinnen eingewoben und verschnürt werden, bereitgestellt wie Paketsendungen aus einem früheren Leben. Sonntag mit der Lu auf Schiffspassage. Elbfährenflaneure, die Welt als Schaufenster, an dem immer neuer Regen langsam herunterperlt.


 


Mittwoch, 24. August 2011


Projektologie

Meeting, Meeting, Meeting, "Das haben wir noch nie so gemacht", Meeting, Meeting, Meeting, "Das haben wir immer so gemacht", Meeting, Meeting, Meeting, "Ich möchte, daß es so wie früher ist", Meeting, Meeting, Meeting.

Daß ausgerechnet ich plötzlich als Vertreter von Optimismus und Zuversicht gelte. Ich sage, es sieht aus wie eine Kathedrale von Gaudí, aber wenn man nur lange genug draufschaut, bemerkt man plötzlich die Schönheit und bizarre Symmetrie der Strukturen. Muß man abwarten, vielleicht brauche ich demnächst auch falsche Papiere und ein Ein-Weg-Flugticket nach Irgendwo. Und lasse alles zurück.

Auf Partys steht man mit fremden Menschen zusammen, man erzählt, was man so macht, und gleich gibt es welche, die sich einem vertraulich ans Revers heften. Ob man nicht günstiger an manche Dinge käme, manchmal wäre ja auch etwas leicht beschädigt und eignete sich nicht mehr für die weitere Verwendung, man habe da ein Garten und könne es noch gut... Ich bitte dann flugs um Entschuldigung, ich hätte ein wenig geflunkert. In Wahrheit sei ich Proktologe, könne aber gerne einen Termin in der Praxis, auch günstiger... Das Thema wird dann meistens schnell gewechselt.

Endlich wieder Regen.


 


Montag, 22. August 2011


Schanze, aber Fest



Das Wochenende war mit weiterer Arbeit, die ja immer auf Arbeit folgt, gefüllt, lockte gleichzeitig aber mit schönem Wetter, so daß ich dieses Filmfest Filmfest sein ließ (ein dunkles Kino mit sensorischer Deprivation wäre die Alternative gewesen, "Perfect Sense" nämlich von David MacKenzie, der auch den großartigen "Young Adam" mit Ewan McGregor und Tilda Swindon gemacht hat.) Ich glaube, der Film ist ganz hervorragend, aber als jemand, der sein halbes Arbeitsleben in düsteren Kellerlabors verbringt, war mir einfach nach mehr Licht und Luft und Leichtigkeit Sonne. Also Karten adé, dafür lieber Schanzenfest, gemütliches Schlendern, Musik, Essen und Leute gucken.

In den Berichten der Großmedien schien in meinen Augen fast ein wenig Bedauern mitzuklingen, daß es sich bei dem (erwarteten?) "Krawall" (man beachte den Titel) "bloß" um eine eingeschlagene Schaufensterscheibe und ein leicht zu groß geratenes Feuer an der Roten Flora handelte. Dabei haben viele das Fest als betont friedlich und frei von aggressiven Stimmungen erlebt. Während vor Jahren unter dem CDU-Ahlhaus-Senat bereits tagsüber Polizeitruppen in martialischer Kampfmontur harmlose Familien und Flohmarktbesucher einschüchterten und latent aggressive Stimmung verbreiteten, hielten sich die Uniformierten diesmal sehr wohltuend und lobenswert im Hintergrund. Dieses Jahr also mehr Entspannung. Nicht einmal gekauft habe ich was, dafür bekam ich ein paar Bücher geschenkt, darunter Herbert Achternbuschs Hundstage, eine Erstausgabe von Roda Roda von 1927 und die Autobiografie von Isabella Rossellini. Was andere halt nicht haben wollen. Zu einem je nach Windrichtung und Lautstärke zusammengestellten Mix aus Vegan-Liberation-Punk, Aggro-Hardcore und Rave-Musik, der aus verschiedenen Richtungen herüberwehte, fast sorglos draußen gesessen, gegessen, vergessen (z.B. rechtzeitig eine Jacke überzuziehen), Gespräche geführt. Zugesehen, wie sich der Himmel über der Roten Flora langsam Telekomrosa färbt.

Was nicht mal Berlin hat, baute Hamburg über Nacht: eine Mauer aus Pappkartons warnte auf der Zufahrtstraße Auswärtige vor dem von der Polizei ausgerufenen "Gefahrengebiet". Doch während im Straßenverkehr der Hansestadt sonst jede Gelegenheit zum entnervten Gehupe genutzt wird, umfuhren die Autos das Hindernis friedlich und umstandslos, wie hier zu sehen ist. Diese Momente, wenn Stadt plötzlich möglich ist.


 


Freitag, 19. August 2011


Kalter Fisch



Da will man ein Leben, glatt und rund und blau wie die Erde im Planetarium betrachtet, und da kommt einer daher, dem die Welt wie scharfkantige Steine ist, wirft einen aus der Balance und buchstäblich die Brocken vor die Füße. Shion Sono ("Hair Extensions", "Suicide Club") zeigt so einen in Cold Fish, einen Gute-Nacht-Film, den ich grad auf dem 25. Fantasy Filmfest sah.

Eine Art Familie mit umgekehrten Düsenantrieb, ein dysfunktionaler Trostlosigkeitshaufen, gerät in eine Variante von Sexy Beast, in der statt Ben Kingsley der japanische Komiker Denden einen völlig duchgeknallten Zierfischhändler und noch viel duchgeknallteren Serienkiller spielt. Der farblose Fischhändler Shamoto (Mitsuru Fukikoshi) läßt sich vom scheinbar hilfsbereiten Kollegen Murato (Denden) einlullen, ehe er merkt, daß der impulskontrollgestörte Typ ihm erst Tochter, Frau und dann sein Leben klaut. Da ist es natürlich schon zu spät, Duckmäuser Shamoto sagt weiter brav Ja und Ja, hilft, eine Leiche zu entsorgen, die Yakuza zu belügen und Muratos blut-, mord- und sexgeiler Frau Aiko zu widerstehen.

Das verspricht im ersten Drittel ein düsteres, in tristes Graublau getöntes Familien- und Gesellschaftsdrama zu werden, ein Rapport über Ich-Schwäche und Borderline-Furor, über einen Jedermann, dem Stück für Stück die Existenz genommen wird, kippt dann aber in eine schwarzhumorige Killer-Groteske mit kübelweise Blut, Gedärm und Psychopathen, die in albern entgrenzter Louis-de-Funès-Manier Leute töten und in Decken gewickelt von links nach rechts maneuvrieren, um sie dann mit Fleischermessern zu zerlegen und "unsichtbar" zu machen, wie Murato tönt. Das alles basiert - man kennt das ja - auf dem wahren Fall eines japanischen Hundezüchters und seiner Frau, die mindestens vier Menschen grausam umbrachten - der Film macht daraus 58.

Leider hält das Erzähltempo mit dieser irrwitzigen Steigerung nicht ganz mit. Wie bei Sono offenbar typisch ist der Film im Grunde überlang, gemessen jedenfalls an der - für psychologisch geschulte europäische Betrachter - doch eher banalen Geschichte. Immerhin, von etwas schläfrig inszenierten Durchhängern im letzten Drittel abgesehen, ist der Großteil recht kurzweilig inszeniert, turbulentes Bauerntheater manchmal, aber irgendwie auch faszinierend. Der drangsalierte Waschlappen Shamoto verliert irgendwann seine Brille, dann die Geduld und schlägt, obgleich er kaum noch durchblickt, schlechtgelaunt zurück. Im misogyn getränkten Amoklauf eines gekränkten Mannes, der endlich die Schnauze voll hat, ("Falling Down" läßt grüßen, man achte auf das weiße Hemd), weist Shamoto Frau und Tochter brachial an ihren Platz, stellt die daheim gewünschten patriarchalen Verhältnisse wieder her und das hysteriebedröhnte Gangsterpärchen kalt. Obsessiv wie Jan Fabre mit seinen Bic-Stiften, dolcht er mit einem Kuli für sein Recht, dabei Blut statt Tinte spritzend.

Zum Finale Thalia-Theater, Macbeth, die Scherenschnittversion eines Ideendramas: machtgeile Frauen, schwache Männer, am Ende schwimmt alles in Blut. Das ist manchmal schauerlich, oft absurd komisch, immer recht bedrückend und nur ab und an ein wenig wie ein kalter Fisch.

(Cold Fish. (Japan 2010). Regie: Shion Sono)

>>> Trailer

Super 8 | von kid37 um 01:23h | 4 mal Zuspruch | Kondolieren | Link