Montag, 15. August 2011


Ausatmen



Im Vertrauen auf die Wettervorhersage lieber am Samstag Rad und Körper bewegt, endlich wieder Licht am Himmel und trockene Luft. Ab also über die Elbbrücke, die Räder schnurren dem Blech entgegen, auf der Autobahn drängt sich Rückreise-, Fußball- und Einkaufsbummelverkehr in die Stadt. Durch die Peute, die in den letzten Monaten auch die restlichen Kopfsteinpflasterstrecken verloren hat, weiter zu den Elbdeichen. Georgswerder, Moorwerder, irgendwo ist ein einsames Schützenfest. Dorfmädchen mit Cowboyhüten warten an der Bushaltestelle mitten im Nichts, ein älterer Mann mit Jeansweste ißt eine Bratwurst, Schlagermusik ist gleich schon verweht wie der Hase, der tot auf dem Radweg ruht.

Hinunter zur Bunthäuser Spitze. Möglicherweise ist es der Welt kleinster Leuchtturm: Das Leuchtfeuer Bunthaus wurde 1913 errichtet, strahlt heute aber nur den Charme der Zeit und keine Signallichter mehr aus. Hier teilt sich die Elbe, die Sonne glitzert über dem Wasser, das Sportboote zerpflügen, gegen den Strom und mit dem Strom und quer zu den Wellen.




Einen großen Bogen weiter nach Wilhelmsburg, das Dockville-Festival zieht wie ein Magnet Fahrradfahrer an. Junge Menschen mit Frisur und in richtiger Kleidung, wo man sonst nur pfeilschnelle Neonblitze in hautengen Lycraanzügen auf Rennrädern sieht. Die Mode du jour sind Gummistiefel zu Hotpants und flatternden Kleidchen, die Jungs in engen Hosen, deren Schritt auf Kniehöhe hängt, sie sind noch nicht im sogenannten praktischen oder Funktionsalter. Selbst die Gummistiefel der Jungs sind mit Blümchen und Girlanden verziert, nur wenige haben sich Plastiktüten um die Chucks gewickelt. Es muß matschig sein auf dem Gelände, ich lungere draußen herum, höre ein wenig Musik, schnuppere Atmo, versuche einen Witz. "Ach, ich wollte doch nur meine Tochter abholen", murmel ich gespielt verzweifelt und halblaut vor mich hin, ein paar Mädchen stoßen sich an, kichern und wiederholen flüsternd meine Worte. Ich hab's noch drauf, denke ich. Anderen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Dann aber setzt das Nachdenken ein und die bittere Erkenntnis, daß die Görls das längst nicht so ironisch verstanden, wie ich es meinte. Man muß es sehen wie es ist: da steht ein nicht mehr ganz junger mittelalter Mann mit grauen Haaren im Matsch und jammert festivalverloren nach seinen Bezugspersonen. Schlimm, wenn einem die kokettierende Verstellung nicht mehr abgenommen wird. Besser, ich versuche die Nummer noch mal in Ruhe vor dem Musicalzelt.





Zurück dann durch den Hafen, die Beine etwas über die Kaimauer baumeln lassen. Auf der einen Seite geht die Sonne unter, auf der anderen ragt bereits der Vollmond über den Horizont. Ein weiter Blick, von gestern bis morgen dann. Abendmilde Luft, 45 Kilometer rum, Bilder und Licht und Luft. Zeit, dem Abend entgegenzufallen.


 


Dienstag, 9. August 2011


Merz/Bow #29

Ob ich dich mehr als sie vermißte?
Nicht, daß ich wüßte.

(Blumfeld, Superstarfighter)




Alte Fabriken, aufgelassene Gelände, gestraucheltes Glück älterer Tage, grüne Hügel, Überwucherungen, Geruch von Rost und Rest und Regen.

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Melancholische Graffitis, übereignete Flächen. Die Kälte des Strandes zwischen Nichts und Niemand, unkartografierte Nachtgewässer, immer am Bahndamm entlang.

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Dieses Verharren in schmerzschonender Grundhaltung.

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Wie ich das Reisen liebe, aber nur selten das Ankommen.

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Bei Anousch sehe ich das Foto mit den zwei wie zu einem sentimentalen Lied geparkten französischen Göttinnen. [...] Ein stilles Erkennen, ein stilleres Ach.

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Danke dafür.

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Die Feststellung auf der Party, daß man früher alles anders gebloggt hätte, mit den Namen der Anwesenden, unterstrichen, verlinkt. Hier und da und schaut doch her. Wir aber tun so, als sei die Existenz des Internets nur dazu gut, Fahrpläne abzurufen oder die Nummer einer Taxizentrale herauszufinden.

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Eine Androiden-Kakerlake als Eisbrecher für das Meer in uns. Wirklich, die war sehr lustig und konnte den Moonwalk.

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Nachdem man ihre Beine gebrochen hatte.

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Wenn man auf neue Menschen trifft kann man all die alten Witze ist es schön, mit einer anderen Perspektive, mit anderen Wertmaßstäben konfrontiert zu werden. Die Neugier des Kennenlernens. Lernen. Weitermachen.

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Und davon handeln wir.

MerzBow | von kid37 um 12:18h | 7 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Montag, 8. August 2011


Drinnen wie Draußen (Cowboys und Aliens)



Die selten wie Überraschungseifiguren gesäten Sonnentage habe ich letzte Woche spontan genutzt, das gibt's nur einmal, das kommt nie wieder, mich den Mücken am Elbufer zum Beschnuppern und Anfixen hingegeben, kleine Käseplatten und Selbstgerührtes in den Sonnenuntergang gebreitet, die Fahrräder wie grasende Pferde auf die Deichkrone gestellt. Donnerstag dann wie ein Westmann zu den Aliens beim Heliumcowboy geritten, die subtilen Botschaften Boris Hoppeks entschlüsselt, die großartige Moki hat drei Bilder beigesteuert, 56K stilisiert die titelgebenden Gesellen an den Wänden, und der Hinterhof ist eine abendmilde Zuflucht vor der drückenden Wärme aus Menschen und Sommersimulation für coole Hamburger Cowgirls und altersmilde Tentakelmänner. Einfach in der Nacht rumstehen.

("Cowboys und Aliens", Heliumcowboy Artspace, Hamburg. Bis 12.8.2011)


 


Mittwoch, 3. August 2011


Die Vergangenheit, die damals noch Zukunft war

Als Wissenschaft sich mehr mit Dreh- denn mit Plagiatsverdachtsmomenten beschäftigte und daran werkelte, die Zukunft zu schaffen, die wir jetzt erleben, wurde selbst im Kinderzimmer noch eifrig, aber streng wissenschaftlich experimentiert. In manch Heiligen Abend mischte sich in den Duft von Mandel, Zimt und Zuckerstern die kosmisch-olfaktorischen Versprechungen des Chemiebaukastens. Bald starteten selbstgebaute Raketen in den Weltraum oder wenigstens zu einem Rundflug um die Zimmerlampe, und Detektorempfänger fischten zirpende Signale von Radio Norddeich oder Pionieren von der Vega aus der Ionosphäre. Eine große Zeit, in der eben mehr Lametta war, wie Volksdichter Loriot uns nachhaltig ernst ins Bewußtsein rief. Und wer bislang seinen Einfall vom Bausatz eines Atomkraftwerks für Irrwitz hielt, muss die Geschichte seines Kinderzimmers neu schreiben. Die Zeit, als der Entdeckergeist von Kindern und anderen junggebliebenen Forschern noch ernstgenommen und nicht mit öko-getestetem Holzspielzeug niedergeknüppelt wurde, war wirklich das Atomzeitalter des unbeschwerten Bastelns, als noch Kerne und nicht Haare gespalten wurden:

Der Atombaukasten und andere Papperlapapp-Basteleien rund um Stoffe wie Arsen und weitere Substanzen, die sich heute höchstens noch in der Nahrung oder Duschgels nachweisen lassen, war hochbrisante Kontrebande, die unsere Eltern uns vorenthielten! Seither, wir wissen es, geht es bergab mit diesem Wissenstandort. Im Kinderzimmer hetzt nur noch virtuelle Alienjagd, bei der alles platzen darf, nur nicht der jugendliche Forscher vor Neugier.


 


Montag, 1. August 2011


Grinding Halt



Wenn man die Gelegenheit hat, die feingeistig durchinszenierten Dagegen-Lieder von Happy Grindcore live zu hören, sollte niemand dagegen sein. Im Beiprogramm spielten die Gießener Boxhamsters vor exaltiertem Haus. Ausklang einer trubeligen Woche, Blut, Schweiß und Atomkraftwerke oben auf der Bühne, Happy Grindcore predigen Demut, die Boxhamsters goldene Herzen, wir träumen im Stehen, ein junger Mann immerhin, ungefähr in dem Alter, in dem man sein Leben noch unredigiert führt, spricht mich auf meine Schuhe an. Guter Mann.

Wie überhaupt die Jugend nicht nur verloren ist.

Radau | von kid37 um 01:13h | 14 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Freitag, 29. Juli 2011


Artistik

Irgendwie ja auch skurril, wenn sich Stefan Niggemeier auf die "Recherchen" von BILD beruft, um die "Methoden" von RTL zu beschreiben. (Q, derzeit nur für Abonnenten)

Ich mag so was. Irgendwie.

Neulich habe ich auf dem Fleetinselfestival eine Vertikalseilartistin gesehen, die sich ganz hochgehangelt hat und zur Musik von "Cabaret" einen beeindruckenden Spagat zeigte. Dieser Eindruck einer paradoxen Schwerelosigkeit.

Tentakel | von kid37 um 19:36h | 5 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Mittwoch, 27. Juli 2011


Roooooock! (aber auch Wrestling)

Mach den scheiß Atom kaputt!
(Anfeuerungsruf)




Rückblickend betrachtet war die große Kiezkampfsause am Freitag im Hafenklang deutlich die friedlichste Veranstaltung dieses kruden Wochenendes. Gut, einem Kraken (Dr. Tentakel, sprechen wir es aus, man darf die Namen der Ringer ja nennen, wenn man sie weiß) wurde ganz gemein das Hirn rausgezogen (vom scheiß Kommander Kernschmelze nämlich, sprechen wir es ruhig aus). Kampfroboter Bio Bento das ökologisch nachhaltige Karottenherz (vom scheiß Kommander Kernschmelze, sprechen wir es ruhig aus). Aber dafür wurde auch ein Windpark eingeweiht. Und ein ganz besonders schöner! Grüne Wiesen und bunte Windräder. Und das Atom wurde glücklicherweise besiegt (von Bento III nämlich, sprechen wir es ruhig aus!) .

Capitan St. Pauli, Stern Sanchez und altbekannte Steher wie Captain Penis, sprechen wir es aus, kochten die Menge hoch, Iron Mädel zeigte, wo die Damen den Most im Ring holen (unterlag zuerst, wurde am Ende aber doch Rock&Wrestling-Champion 2011!), aber da war das Publikum schon völlig verzückt, weil eine stille, zagende Hoffnung tatsächlich wahr wurde: Hamburgs härtestes Nummerngirl Dolly Duschenka trat vom Rücktritt zurück und tütete am Ende noch (physisch und psychisch schon deutlich angeschlagen, sprechen wir es ruhig aus) den teuflischen "Louis Cyphre" ein - der den Angel Heart-Sümpfen Louisianas frisch entstiegen schien, um in einem Hamburger Ring unschuldige Geschöpfe zu drangsalieren. Da verschlägt es einem die Sprache, sprechen wir es ruhig aus.








Kleiner Wermutstropfen im wabernden Fusions-Rauch aus Höllenschwaden und Ringerschweiß: möglicherweise substanzbeschleunigte Selbsterregte, die latent aggressiv auf der falschen Seite des Seils am Ring rumtobten. Irgendwann wurden sie sogar vom Ringrichter zur Zurückhaltung ermahnt, ein eher selten geübter ordnender Eingriff für diese Art von Veranstaltung. Als auch in Hamburg und der Welt beliebte Blogger zur Diskussionseröffnung luden, ging zum Glück Lady Grey als eine Art Super-Nanny für Revierkampf-Geweihvorzeiger resolut dazwischen, ich hätt' die sonst platt, und es konnte für den Rest des Abends im Ring weitergekämpft werden. Sprechen wir es ruhig aus: toller Abend, tolle Stimmung, grandiose Kämpfe ohne Kompromisse, aber - wie heißt es so schön? - immer fair!

Am Ende aller Sprache und Special Moves summten wir zum Dank an die Crew alle glücklich und schweißüberströmt die Hymne, die uns Nik Neandertal mit auf den Weg gab: "Rock&Wrestling ist stets wu-hunderbar!" Jajaja-jaa.

Radau | von kid37 um 14:00h | 9 mal Zuspruch | Kondolieren | Link