
Samstag, 15. Oktober 2011
Eine dieser landlustigen Landzeitschriften wirbt derzeit mit "182 Seiten Herbststimmung" auf der Titelseite. Gefühlte 182 Jahre Herbststimmung könnte ich entgegensetzen, und humpelnd wie ein detektivischer Fernsehdoktor durch knirschendes Laub schlurfen, mit dem Gehstock, der mir allerdings noch fehlt, im Unrat wühlen und Dinge zutage fördern. Dinge, aus denen man wiederum andere Dinge machen kann.
Zeit also, die derzeitige Mobilitätseinschränkung zu bedenken und das Nahen langer Abende vorzubereiten. Mehr Rost, mehr nutzloser Kram. Töpfern klingt so nach Toskana, aber mit Rost und Schrott und Abfall assembliert es sich doch gleich ganz entspannt. Ich erwarte ätzende Dämpfe und funkenschlagende Multitool-Trennscheiben, verklebte Finger und entzückend dilettantische Ergebnisse. Darin bin ich ja besonders gut. Kleine Bewegungsübungen für starke Nerven. Die Bücher sind übrigens höchst entzückend, voller Basteltipps und ganz erstaunlichen Kreationen zwischen Kitsch und Komm-an-mein-Herz.
>>> Das Blog von Jane Ann Wynn, die hier ihre hübschen Kästchen zeigt.

Dienstag, 11. Oktober 2011
spazieren in den Gängen. Eine Zahl
hat jeder Kranke.
(Georg Heym, "Das Fieberspital")
Hier ist wieder der Bordcomputer der Nostromo. Man hat mich vorerst nach Hause entlassen, Rückkehr vom Alienplaneten, Wiedervorstellung zur Kontrolle in sechs Monaten. Ein Ausflug war das nicht. Wo andere ihren wohlverdienten Urlaub machen und hübsch unschuldig in der Sonne liegen, habe ich zuletzt wohl ein Händchen für eine Art defekten Sommer entwickelt. Wenn ich es recht erinnere, war ich in Lissabon zuletzt in einem als solchem gefühlten Urlaub. Aber das ist schon Jahre her und war sowieso ein anderes Leben. Abenteuerlich ist es schließlich genug, wenn man sich nicht nur gelähmt fühlt, sondern so auch eines morgens erwacht. Der erste Arzt ist noch unbeeindruckt, der nächste, weil da irgendwas immer weiter durch den Körper schleicht und Türe um Türe schließt, aber wird hektisch, und plötzlich geht alles ganz schnell.
Wenn man dann so in der Röhre liegt, und ich kann nun verschiedene MRT-Typen und Modellreihen allein am Sound unterscheiden, und den Top-40-Schmusesoulbrei im Kopfhörer für die größte Folter hält, kennt man einfach den Überraschungsmoment nicht, wenn sie statt der Lendenwirbel auf einmal anfangen, den Kopf zu scannen. Man ahnt dann auch ohne weitere medizinische Grundausbildung, sie werden dort keine Bandscheibe finden, die suchen etwas anderes. Es ist diese Szene aus Alien³, als Lt. Ripley in den Untersuchungsscanner steigt, weil sie schon einen Verdacht hat und tatsächlich das Alien in ihrem Körper entdeckt. Man kann dann lange überlegen, wie Steve McQueen in einem solchen Augenblick reagieren würde. Mir jedenfalls wurde es doch recht eng, eingepfercht in diesem Stahlgitter auf Kopf und Brust und einem Konzept namens Scheißangst.
Man spricht dann von einer "Struktur", die man gefunden hat, drückt sich um das T-Wort und das K-Wort, der Überweisungsschein aber verrät deutlich mehr und mir schon zuviel, nur wirklich eilig sei es jetzt nicht, man will am Montag weitersehen. Beherzt humpel ich übers Wochenende an die See, da war ja noch diese Idee von Urlaub und dringend nötiger Erholung, noch einmal bitteschön die Füße ins Wasser tauchen und im Schnelldurchlauf überlegen, wer später mal die E-Gitarre und die Bücher bekommen soll. Ob es noch lohnt, offene Rechnungen zu begleichen, sich irgendwo zu entschuldigen oder einen Streit anzufangen.
In der Klinik dann feste Händedrücke, wieder Bilderschau, wieder wackeln Köpfe über weißen Kitteln. Man redet über Risiken, die Sau sitzt im Rückenmark, ich mache mit den Händen rollende Bewegungen links und rechts vom Stuhl, der eine weiße Kittel nickt, der Neurochirurg indes blickt noch mal schräg auf die Bilder und sagt, so als betrachte er die Schluchten am Hindukusch, also irgendwie glaubt er nicht daran. Aus der anderen Ebene sehe es doch eher aus wie... und so lerne ich auf meiner Reise quer durch den Pschyrembel die nächste Abteilung kennen. Hier hat man auch ein Bett, was nicht selbstverständlich ist im großstädtischen Spitalbetrieb. Zurück ins Lumbale: die Punktion bringt weitere Aufschlüsse, der Schatten ist auf einmal transzendend, da hat sich doch tatsächlich eine andere Sau getarnt. Wie in einer flackernd belichteten Herbstpantomime holen die Ärzte wieder ihr ernstes Gesicht hervor und munkeln die nächste auch nicht wirklich frohe Diagnose. Ich bin Melancholiker, erkläre ich, aber doch nicht krank und versuche eine abwehrende Bewegung mit der Hand. Ich kann aber mittlerweile den Arm nicht mehr gut bewegen.
Übers durch den Feiertag verlängerte Wochenende wartet man die Laborergebnisse ab. Vorsichtshalber beginnt man mit Infusionen gegen dieses und jenes und alle möglichen bekannten und noch unbekannten Viren, es käme auch einer in Betracht, meint der Arzt, den man sich quasi nur auf Frachtern auf der Linie Java - Sumatra zuziehen könne, aber in einer Hafenstadt wüßte man ja nie. Auf dem Tropf steht "... in Ringel-Lösung", was wahrscheinlich auch Steve McQueen sehr witzig finden würde. Leider heißt es in Wahrheit "Ringer-Lösung", und darum geht es dann wohl: ein Ringen um Antworten, um Bewegungsfähigkeit, um ein Behaupten und das große Überhaupt.
Am Ende bleibt alles vorerst unspezifisch, was nichts daran ändert, daß ich mich derzeit wahlweise fühle als sei ich unter einer Müllauto geraten oder wie das Müllauto selber. Ich bin um viele Dinge froh. Zum Beispiel, daß ich meinen Arm wieder bewegen kann und einige andere Dinge auch. Daß da ein langer Weg liegt, aber immerhin ein Weg. Das Daumendrücken hat offenbar geholfen, dafür noch einmal von Herzen vielen Dank. Ich war in den ersten Tagen wirklich orientierungslos. Schön, daß so viele plötzlich links und rechts standen. Danke.

Sonntag, 2. Oktober 2011
Turbulente Tage. Ich kenne jetzt Stationen im Krankenhaus, die gibt es quasi gar nicht. Also, dachte ich. Ernst schauende Chefärzte, die über Bildern vom MRT hocken, Diagnosen, Spekulationen, Schatten, Strukturen. Am Ende wohl doch was anderes, so richtig endgültig hat man es nicht. Etwas Mysteriöses, nicht Schönes. Ich kann nicht mehr gut gehen, vielleicht, weil so vieles nicht mehr gut geht. So ähnlich suggeriert die sehr schöne Frau™. Überhaupt, der viele Zuspruch, die Besuche, Anrufe, Mails und Gedanken. Vielen Dank. Das hält den Rost fern, sagt man. Und Ängste.
Muß irgendwie weitergehen. Einen Punkt kann ich nicht machen

Donnerstag, 22. September 2011
Auf zwei Beinen stehen wie ein unzerkloppbarer Roboter. Oder die einfach stehenlassen, rostige Anker, und mit dem Luftschiff übers Packeis, schwimmende Kühlverbände, am Steuer ein Mann mit klarem Blick und Nerven wie Stahl.
Unsere Abzeichen, LWS, golden in polarblauer Luft, ruhiges Atmen im scharfen Wind, an den Sternbildern orientieren. Unser Auftrag: neue Grenzen erkennen, für mich also eine Versetzung ins Strafbataillon. Mühsamer Rückzug, neu aufstellen, weiterhumpeln. Spaß hatten wir einst mal anders buchstabiert, das waren die Spring-ins-Feld-Jahre, jetzt heißt es, ruhige Durchblutung, mein Freund, sonst bringen wir dir noch das Kriechen bei. Scheiß Sache, wird aber.
Muß.

Montag, 19. September 2011
Heimat ist da, wo der Anker liegt, so geht die Saga von den tosenden Wellen, sogenden Strömen und verwehenden Winden. Ein Hafen, ein Kühlschrank, eine Leiter, die bis zu den oberen Brettern der Bücherregale reicht. Ein Simulacrum von Glück, wären nur die Nachbarn nicht, die Verwalter, die Befindlichkeiten anderer Leute. Eine Woche war das, fremdbetankt mit Selbstherrlichkeit, Süffisanz über kleine Leute, Dosen von "Versteht außer Ihnen allen eigentlich jeder", billige Polemik von sogenannten Erwachsenen und diesem Schuß guter Hamburger Handwerkerempörtheit: "Unterputz? Wenn ich das schon höre, Unterputz!"
Was denn aber sonst, bitteschön. Strippen und Rohre auf die Tapete gekloppt? Ausweinen später beim Vater, der meine Theorie über regionale Unterschiede interessant findet. So wie es hier nur schwer gutes, dunkles Brot zu finden gibt, so schwer finden sich gute Handwerker. Während in der Heimat eben traditionell viele in der Produktion tätig waren, Werkzeuge, Klingen, Metallverarbeitung, Montan- und Stahlbau, sind es hier die Handelsberufe: "Hamburger Kaufleute", nickt der Vater verständnisvoll durchs Telefon. Ich berichte von der in der Hansestadt weithin anzufindenen Altbaumodernisierungslösung, bei der man in einem engen Kabuff über die Kloschüssel steigen muß, um in der Duschtasse zu landen. Wie mich mal ein Norddeutscher fragte, ja, nun, wie soll man das denn anders lösen? Wie mir auf einmal Kulturunterschiede, über die man nur schwer reden kann, bewußt wurden. Indem man es richtig macht? Unterputz, wandverschiebend, von Grund auf?
Ich bin immer wieder verblüfft, leicht entnervt auch, das mag an der Jahreszeit liegen, am fehlenden Urlaub, dem Tribut usw. Diesem Sonne-Regen-Kälte-Wärme-Oszillieren, was einem neuerdings als Sommer verkauft wird auf einem Palettenstapel gleich neben dem Spekulatiusregal. Neuer Entschluß, ich lasse jetzt einfach machen, es verschwendet doch nur Zeit, und was hier manchmal als Brot verkauft wird, ist ja auch ein Fall für sich. Die malzgefärbten Brösel kann man meinetwegen Aufputz auf die Wände kleben.
Über tiefstem Schatten liegt immer auch ein Licht: Autoluminscent, die Doku über Rowland S. Howard, erscheint Ende Oktober, zum schönsten Herbst also. Anker lichten, neue Gefilde, innere Horizonte erweitern, komme ich auch sonst kaum raus. Ein Musikinstrument mal völlig anders spielen. Brot, irgendwer?
>>> Rowland S. Howard, Sleep Alone

Dienstag, 13. September 2011
Während draußen die Ausläufer von Orkan "Katia" an den Fenstern rütteln, habe ich gestern vormittag endlich, nachdem immer öfter kleine Bäume darin gewachsen waren, den verstopften Überlauf der Spüle repariert. Alles auseinandergeschraubt und in einzelne Teile zerlegt und das Rohr von Schmand und Schlamm und Schlick befreit. Wir Urban Guerilla Küchengärtner nennen das guten Humus, und es riecht auch ein bißchen so. Dunkel und erdig, hinterläßt es schlierige Spuren in der Schüssel, mit der ich das Wasser und alle Sedimente aufgefangen habe. Ein hübsches Forschungsunternehmen, sieht man hier doch anschaulich, wie organisches Material sich zu Öl umwandelt. Noch ein paar tausend Jahre länger, und schwarzes Gold hätte sich aus meiner Spüle pumpen lassen.
Später, auf dem Weg durch mildes, windiges Herbstwetter und Haushaltswarengeschäfte, versuchte ich, ein weiteres Mysterium durch reine Gedankenkraft zu lösen: Warum werden Glühlampen verboten, nicht aber elektrisch betriebene Pfeffermühlen oder digitale Personen- und Küchenwaagen, allesamt Dinge, die leicht auch mechanisch zu bedienen wären und so überhaupt keine elektrische Energie benötigten? Vielleicht ist die Pfeffermühlenlobby einfach nicht so stark vernetzt wie die der Energiesparlampenindustrie, wäre eine Theorie, der nachzugehen ich hoffentlich einmal Zeit in meinem geheimen Kellerlabor finden werde.
Auch dort hieße es, endlich einmal aufräumen.

Freitag, 9. September 2011
Die Eingangsbilder vom Tweed Ride in London (Film) erinnerten mich daran, dieses Jahr die schwarzen Mäntel noch hübsch runterzufahren, dann aber die honigfarbenen oder weißen aufzuziehen. Wundern Sie sich also nicht, wenn ich ein wenig wunderlich scheine, was wurde darüber nicht schon lamentiert, aber spätestens zum nächsten Frühjahr heißt das Motto nicht nur langsam, aber mit Stil, sondern allgemein "Verkehrsaufhübschung".
So wie es Jean-Paul Gaultier mit Günter von Hagens gemacht hat. Dieser Dress ist vielleicht nur auf dem ersten Blick nicht straßenverkehrstauglich, dann aber gerade doch. Hätte ich den mal vor ein paar Jahren bei meinem kleinen Unfall getragen, der Autofahrer hätte vorher brav abgebremst, da bin ich fast sicher. Macht einen schlanken Fuß, könnte man süffisant anmerken, und braucht deshalb keine Handytasche, denn wenn nichts passiert, muß auch niemand anrufen.
Da war nix, heißt es ja sonst ganz gerne mal. Diese Woche aber schon: Eine mittlere Woge einer als ungiftig deklarierten Arbeitsemulsion hüllte mich unversehens ein, ein Schwimmen im Seufzermeer unter vielen Seepferdchen-Aspiranten, Titanenmaloche, Rückführungsschwitzen wie in einer mongolischen Zauberjurte. "Written On The Forehead", singt Polly Jean, etwas vom dunkleren Sommer, und wie ich neulich dachte, wie gerne ich mich einhüllen lasse von diesen Stimmen und, wenn ich in ein paar Jahren einen runden 37. Geburtstag feiere, dann lasse ich die alle antreten. Die Braut zum Beispiel, am liebsten aber wären mir drei beschwipste Bloggerinnen, die für mich Karaoke singen. Wenn man nur die Frisuren sieht, ohne Brille jetzt, ähneln die sogar drei recht bekannten.
Ist aber alles unbezahlbar.
