
Freitag, 27. Juli 2007
Diese Phase, kurz bevor man erwachsen wird, ist wahrscheinlich die der größtmöglichen Integrität und Authentizität von Energie, Gefühl, Liebe, Hass und Kampf. Dieser kurze Moment mit seinen unbestechlichen Haltungen, der alles was danach kommt, verändert, nämlich eine ganze Generation, fasziniert mich.
(Hedi Slimane im Interview, FAZ 7.7.2007)

Donnerstag, 26. Juli 2007
Es wird Zeit, von Reisen zu berichten, die mich unlängst zur documenta führten. Gern hätte ich Fotos vom letzten Mal danebengestellt, aber die sind mir mal gestohlen worden abhanden gekommen. Neues Glück, nur fünf Jahre später: Den Reisenden erwartet vor dem Kasseler Hauptbahnhof eine anrührende Skulptur (gehört nicht zur documenta) des Künstlers Ernst Kahl zum vorgeblichen Gedenken an die Bombentoten des Tierwaisenhauses St. Bonifatius. Eine noble Geste, das wurde Zeit, auch dieser ärmsten der armen Kreaturen zu gedenken.
Ergriffen führte es mich weiter durch die sehr schöne Kasseler Innenstadt, der nach dem Krieg ein ebenso weitsichtiger wie geschmacksicherer Wiederaufbau beschert ward. Ein freistilistisches Ensemble in stahl- und betongrau, ein Simultangesamtkunstwerk, Nährgrund für viele documentas. Toll, aber bitte weitergehen. Auf dem Platz vor dem Fridericianum blüht der rote Tod Mohn, Zeit für innere Kunstsammlung. Hätte ich da bereits gewußt, geahnt oder bloß gehofft, daß auf den documenta-iPods Audioführungen zu hören sind, die u.a. von Sophie Rois gesprochen wurden, hätte ich mir so ein Ding natürlich ausgeliehen. Diese Stimme allein ist ja schon Kunst an sich, vor allem, wenn sie flucht. Oder laut schreit: "Revolution!" (Wer hat das schon?) oder nur vom Tod erzählt.
In der Halle nämlich gleich die erste freudige Überraschung: tote Tiere! Die recht unfachmännisch ausgestopfte Giraffe sieht aus wie eine schlechtsitzende Regenschirmhülle und erzeugt beim Betrachter allein deshalb schon Mitleid. Gleich daneben die Plüschbrigade von Cosima von Bonin: ein Hund, ein Tintenfisch, herzallerliebst, aber zum Mitnehmen zu schade.
Im Aue-Pavillon hingegen herrscht viel Platz. Wer ein bißchen Patafix oder Fotoknete mitnimmt, kann an einer der vielen freien Stellwände schnell noch ein eigenes Werk anbringen. Dankt mir ruhig - ich wünschte, ich hätte vorher davon gewußt. Überhaupt, im Vergleich zur letzten documenta erlebte ich eine eher heitere Stimmung. Vielleicht hat der Chinese Ai Weiwei die richtige Losung ausgegeben, als ein Sturm seine Turminstallation zerstörte. "Das ist besser als vorher", soll er angesichts des Trümmerhaufens lakonisch bemerkt und einen Wiederaufbau abgelehnt haben. Gleichsam entspannt das Aufsichtspersonal. Als ich meine Kamera auf die Umrandung von Ines Doujaks "Pflanzenbeet" (eine kritische Arbeit über Bio-Patente) abstellte, um eine kleine Raupe Nimmersatt zu fotografieren, die sich im und am Kunstwerk zu schaffen machte, wurde ich sanft ermahnt - mit einem Augenzwinkern allerdings und den Worten "Ich hab' extra gewartet, bis Sie das Foto gemacht hatten." Großlob noch mal von hier!
In vielen Museen darf man ja nicht mehr ohne weiteres Fotografieren, weshalb ich in letzter Zeit gerne den letzten überwachungsfreien Ort dokumentiere, um wenigstens ein Andenken und Gelegenheit zur Einrichtungskritik zu haben. Die Toiletten im Aue-Pavillon, möchte ich kurz anmerken, sind funktional, schmucklos, aber recht ruhig. Auch diese Information ist übrigens kostenfrei.
Zum Schluß dann etwas Sex & Rock'n'Roll: Freimütig gestimmte E-Gitarren (Skulpturaler Klang von Saâdane Afif) simulieren das autophone Orchester, bei dem mir die Epiphone-Verstärker im Retro-Look das meiste Verzücken entlockten. Für Eros sorgte interessanterweise Lee Lozano (auch schon tot), deren Werk ich letztes Jahr in Wien entdeckte. Eine fast schon "altmodische" Kunst, wie ja der Rückführungsgedanke ein zentraler Ansatz der diesjährigen documenta ist.
Es gab noch einiges interessantes mehr, die "Ethno-Masken" aus alten Kanistern von Romuald Hazoumé, die Totensammlung von Mladen Stilinovic und vor allem die beeindruckenden Fotoarbeiten von Jo Spence über Rollenverständnis, Identität, Körperbewußtsein und Krankheit.
Ein paar Eindrücke aus der Neuen Galerie und dem Fridericianum liefere ich nach. Glaubt nicht, es sei überstanden!

Dienstag, 24. Juli 2007
The people leave, the reasons fade, the events pass and the emotion dwindles away but still I have something to remind me.
(Lauren E. Simonutti)
Nachdem ich die Tage etwas zu Steven Meisels kontroverser Modestrecke "Super Mods Enter Rehab" schrieb, ist es vielleicht eine gute Idee, nach Roger Ballen noch einmal das Licht aus der entgegengesetzten Richtung scheinen zu lassen. Länger schon wollte ich auf das beeindruckende (und drückende) Werk von Lauren E. Simonutti hinweisen: düstere Visionen und staubig-nostalgisch anmutende, melancholische Welten, teilweise an den surrealistischen Setzbaukasten, teilweise an den Stil von Joel Peter Witkin erinnernd, um jetzt mal zwei ganz grobe Pflöcke abzustecken. Francesca Woodman darf in diesem Zusammenhang nicht fehlen. Die Bilder, versponnen, erschreckend, poetisch und ungeheuer anrührend, stammen nicht aus dem Computer, sondern allesamt aus der Dunkelkammer. Kontaktprints von Großformataufnahmen, mit verschiedenen Tonern nachbearbeitet - ein händischer Prozeß, und jeder Print ein Unikat.
Wie dunkel diese Kammer sein muß, macht aber erst der Text klar, den Simonutti für ihre Galerie bei Lens Culture verfaßt hat.
I am aware enough to know the things I see and hear are not real, but that does not mean I do not still see them.
Ob einem die biografischen Zusatzinformationen bewußt sind oder nicht, die Fotos sind auch so faszinierend genug. Simonutti hat zwei Bildbände als Print-on-Demand herausgebracht. The Madness Is The Method hätte ich gerne gekauft, leider kann man in den USA nur per Kreditkarte bestellen, und da bin ich ein wenig... paranoid.

Sonntag, 22. Juli 2007
Dumpf, dumpf, dumpf. Tag ein, Tag aus, nicht denken, weitermachen: Manchmal, während man mit den Fingern den ganz großen, dildoesken Schalter Richtung Schnellabschaltung legen möchte, irritiert, sinnierend, ist plötzlich auch schon wieder Wochenende. Rock & Wrestling-Tage; aber ich treibe unbestimmt an vergnügungssteuerpflichtigen Ereignissen vorbei. Während ich mein Medikamententagebuch fälsche, denn nächste Woche stehen wieder Arzttermine an, beschalle ich die Entenkolonie vor dem Fenster mit Altmusik. "Oh, precious love of mine" holen Mary Beats Jane kurz melancholische Atempause, ehe sie weiter dicke Bretter bohren. Zehn Jahre Locust, mir ist heute nach Krach. "Hope that I won't die too young." Das Röhrchen für die Urinprobe steht wie eine Miniaturrakete aufgerichet im Bad, bitte alle Blogger mal vortreten zum Dopingtest, die Medien werden nicht mehr berichten.
Heute nachmittag tupfte aus dem staubigen Grau der Straßen von St. Pauli der leuchtend orange Umhang eines Buddhisten hervor, der kurz den Touristenplan studierte, um sich dann seligen Lächelns auf die Reeperbahn vorzuwagen. Der Dalai Lama ist in der Stadt und wer als Fremder kam, darf dennoch als Freund wieder gehen.
Wohin soll es gehen, bleibt die interessante Frage, die ich aus dem Nachhall einer frisch zerplatzten Seifenblase noch entnehmen kann. Viel zu lange harrte ich hier im Staub, doch der anvisierte Urlaub gerinnt zusehends zu einem Irrwitz. Vielleicht sollte ich Ziel, Zeit und Erholung anders fassen und Hilfe suchen in einem buddhistischen Schweigekloster. Ich müßte aber garantiert die Musik leiser drehen. Selbst Gang Of Fours "At Home He's A Tourist".

Donnerstag, 19. Juli 2007
Ich weiß nicht, wer sich zuerst so benannt hat, die Band oder das Spülmittel, jedenfalls hege ich seit ein paar Jahren eine gewisse Sympathie für dieses französische Art-Röckpöp-Düo Ultra Orange. Mit ihrem Song "Cette Fille Seule" vom Album "Seven Lonely Girls" gelang ihnen einer diesen fiesen kleinen zuckrig-sentimentalen Melodiewürmer, die man sich gerne mal ins Ohr steckt. An trüben Tagen.
Nun haben die beiden sich mit Emmanuelle zusammengetan, genau, das ist die Schauspielerin Emmanuelle Seigner, und ein Album aufgenommen, von dem man sich am ehesten auf dieser Dingspace-Seite ein Bild und ein paar Töne machen kann.
Toll gekleidet, das ist schließlich wichtig beim faire la musique, pas de Schlabberlook, machen die drei hier und da ein wenig bemüht auf Velvet Underground, aber da es nunmal Franzosen sind, scheint immer genug Lässischkeit durch, um nicht, genau, angestrengt zu wirken. Die Musik ist im Grunde ebenfalls eher La und La. Aber wie! Willkommen im mittelmeersonnendurchfluteten Schnulli-Land! Wie dieses La und auch jenes La zusammenklingen, da möchte man tous le jours im Straßencafé sitzen und mit den Händen in langen Haaren spielen. Wobei ich nicht genau sagen könnte, ob die von Mlle Seigner oder von Gil Lesage. Aber wozu hat man zwei?
>> Das Ding erscheint Ende Juli in Deutschland, bis dahin gibt es ein vis-vis auf Youtube: Sing Sing - die mehrteilige Dokumentation zum Album gibt es dort auch zu sehen.

Montag, 16. Juli 2007
Ist auch schon über zehn Jahre her, als die Modefotografie, angeregt womöglich durch die Bildwelten einer Nan Goldin oder eines Wolfgang Tillmans, mit dem Heroin chic eine Welle lostrat, die eifrig aus dem häßlichen Fundus einer reichhaltigen Gossenmetaphorik sich bediente, während die Protagonisten zumindestens noch vorgaben, Evian als einziges Stimulans an ihren Körper zu lassen. Kokett also, Fake, und immer schon zweifelhaft, was das "Ausbeuten" von oben und das "Nachahmen" von unten anging, aber das ist halt das Los jeder noch so schäbigen Subkultur. Blogger werden das auch noch erleben. Demnächst dann auf den Catwalks von Mailand und Paris.
Zehn Jahre später, Kate Moss ist immer noch dabei, inszeniert die Mode endgültig ihre eigene Welt, statt mit grobem Rechen die Straßen nach dem shocking moment abzugrasen. Die Spirale hat sich weiter gedreht, nun sind es die Eskapaden der Models, die der Inszenierung die Themen vorgeben, selbstreferentiell, meta-metaphorisch kurz vor dem Umkippen aus der selbstverschuldeten Langeweile wie es den meisten abgekaspelten Welten droht. Blogger werden das auch noch erleben.
Erstmals ist der Zusammenbruch schick, die Klinik noch schicker, und das gefallene Sternchen soll als neuer, besserer Mensch wiedergeboren werden. Die Medien ersetzen den Beichtstuhl und die Anstalt das Purgatorium oder zehn Ave Marias, je nachdem. Der Mainstream-Erfolg einer Amy Winehouse mit "Rehab" ist nur der bescheidene Soundtrack, und Mode wäre nicht der unbekümmerte Spiegel, würde sie den selbstgeschaffenen Trend nicht gleich wieder um- und zurückdeuten. Steven Meisel, Hausfotograf der Vogue, dessen Werk in meinen Augen zwischen haarscharf genial und Krach-vor-die-Wand oszilliert, hat für die italienische Vogue eine Strecke abgeliefert, die alles zugleich ist: zitatreiches Spiel, lustige Parodie und zeichenreiche Referenz. Der Rehab-Chic ist gleichzeitig oberflächlich und dumm, im Grunde ein zynisch bis bissiger Kommentar zu den off stage-Fotos von Britney, Paris, Kate & Co., die sich allen in den letzten Monaten ins Hirn gebrannt haben. Das Spiel mit dem Spiel der Selbst-Inszenierung, der höschenlose Ausflug hinter Glas und Gitter als folgenlose Fummelparade und weiterer Ausverkauf. Blogger werden das auch noch erleben.
Die Fotos sind ein starkes Stück, das vorerst letzte Aufbäumen postmoderner Zwinker-Ironie. Morbide sexy allemal. Und gelacht habe ich schon.
via Foto Decadent

Sonntag, 15. Juli 2007
Heute in einem Anflug von Ausflugswünschen die Tasche gepackt und mit dem Fahrrad über die Deiche geradelt, an Schafherden und Erlebnisbauernhöfen vorbei dahin, wo auch Wasser ist. Irgendwo hatte ich sogar einen Bootssteg (aber immer noch kein Boot) für mich alleine. Das kann man jetzt nett finden, dort zu sitzen, muß man aber nicht. Es war jedenfalls nicht so wie in der Werbung. Obwohl ich stundenlang ausharrte, tauchte vor mir aus dem flirrenden Wasser keine blitzblanke junge Schwedin auf, die nichts weiter trug als eine Scheibe frischgefangenen Knäckebrots.
Im Gegenteil, denn ein Stück nebenan befand sich der Hundebadestrand und eine Pferdeschwemme. Bei näherer, gleichwohl meditativ gefaßter Betrachtung stellte ich fest, man müßte schon ein besonderes Verhältnis zu Kolibakterien haben, wünschte man an dieser Stelle intimeren Umgang mit der Natur.
