Donnerstag, 1. Februar 2007


Schön was auf dem Kasten

We learn in the Retreating
How vast an one
Was recently among us -
A Perished Sun

(Emily Dickinson, ca. 1866.)

© Jason Andrew McHenryManche schauen einmal die Woche die Sportschau, manche kommen einmal die Woche ihren Verpflichtungen nach, andere bringen einmal die Woche den Müll raus. Wiederum andere machen jede Woche eine tolle Sache - und basteln was. Jason Andrew McHenry hat 2002 ein Projekt verfolgt, bei dem er pro Woche einen Schaukasten künstlerisch gestaltet hat. 52 solcher Boxen sind auf seiner Galerieseite zu sehen, gefüllt mit Fundobjekten, Knochen, kleinen Fotos oder Zeichnungen. Zu allen Kästen hat er Buch geführt, nicht nur eine "Zutatenliste", sondern auch die Gedanken und Ideen, die ihn zu der jeweiligen Arbeit inspiriert haben. So wie Box Nummer 8 - die beeinflußt wurde von Tod, Todesstrafe und Chuck Palahniuk, dem Autor von Fight Club. Box Nr. 37 trägt das tibetanische Mantra des Mitfühlens und ist eine kleine Visualisierung von Schmerz und Heilung. Eine Art visuelles Tagebuch nennt McHenry es folgerichtig, wie Reliquienschreine wirken sie. Die Ergebnisse sind jedenfalls ganz wunderbar: Das Gefundene, das Vergessene, das Verlorene und Weggeworfene sind zu neuem Leben erweckt. Drei oder sieben davon muß ich sofort haben. Oder nachbasteln.

>>> Webseite von Jason Andrew McHenry


 


Dienstag, 30. Januar 2007


Fürsorge

Der Mensch ist wohl und würdig bei sich selbst, trägt er frische Leibwäsche. Mütter[1] wissen dies und haben beim Ausflug mit dem unselbständigeren Nachwuchs oftmals Berge von Ersatz dabei: Strampler, Windeln, Sicherheitsnadeln.

Rührend also, was uns Rock'n'Roll-Übermutter Patti Smith ins Gebetbuch 2007 schreibt: Bitte wechselt eure Socken! Nicht nur die Socken, möchte ich ergänzen, denn 2007, das ist neu, trägt man wieder Unterwäsche.

Man ahnt vielleicht meine Unbehaglichkeit, mich im Regionalzug nach Winsen ("Da finden Sie Luhe") im durchgeschwitzten Hemde zu finden! Zitternd und zagend und klamm! Es war natürlich die Hetze und die Aufregung vor solcherlei Premieren: das erste Mal, daß ich in Hamburg einen Regionalzug benutze (Kartenwirrwarr, Bahnsteiglabyrinthe, überforderte Männer, die zwar nach dem Weg fragen können (gelernt!), aber dafür keine Zeit mehr haben (Abfahrt: t minus 2 Minuten!)), das erste Mal, daß mich mein Weg ins schöne Winsen führt. Das erste Mal zudem, daß ich mich mit einer Nicht-mehr-Bloggerin treffe, ein Phänomen, das einem wandelnden Lourdes gleichkömmt. Es gibt Hoffnung! Es gibt welche, die haben es geschafft!

Jedenfalls möchte ich Beruhigendes verkünden: Es gibt vor allem einen Leibwäschebedarfsladen im beschaulichen Winsen, in dem man sich Ersatz beschaffen kann. Zweitens: An mit Plastikblumen geschmückten Resopaltischen kann man - in der richtigen Begleitung - wunderbaren Kaffee trinken. Meine Befürchtung, ein Sprühsahnehäubchen aufgesetzt zu bekommen, war unbegründet. Drittens: Mitbringsel, die Mitdenken und Fürsorge ausstrahlen, sind die schönsten. Für zarter gewandetete Leser, die nicht mit Toten Tieren durch das Jahr™ wandern oder in ihrer Wohnung Mäuse jagen, habe ich die Reliquie hinter einen Link gepackt.

Man könnte folglich auf den Geschmack kommen, dem urbanen Pennen entsagen, Ersatzleibwäsche packen und raus in die kleinen beschaulichen Orte. Dem Land der letzten Abenteuer. Vergesst den Schal nicht. Ist kalt draußen.

[1] Belehrung nach dem Gleichstellungsgesetz: Fürsorgliche Väter sind natürlich mitgemeint.


 


Sonntag, 28. Januar 2007


Naturkatastrophenballet (sic!)

Nachdem das Monstersturmorkantief Kyrill trotz medialer Großwetterfront vielerorts™ nur als mikroklimatisches Lüftchen wahrgenommen wurde, kommt Interessierten ein grundsätzliches Protokoll des windigen Schreckens vielleicht gerade recht.

Streng nach dem Motto, es ist alles bereits gesagt, greife ich zurück ins Jahr 1984, als die geistig-moralische Wende™, deren affirmative Folgen wir heute pudelnaß ausbaden müssen, einen raffig-rauhen Wertewolkenbruch über das Land brachte. Die Tödliche Doris, eine bunte Kunstmusikantentruppe, die mir als junger Mensch das Hirn neu verdrahtete und deren Nacktauftritt mit der akkordeonspielenden Käthe Kruse mir neue Einsichten in das Leben an sich bescherte, spielte damals auf dem Potsdamer Platz den Kachelmann.

Ich schalte um zum Wetterbericht.

Nur soviel: Im Herzen bin auch ich Doris.

>>> Homepage der Doris | Wolfgang Müller, Gralshüter der Doris

Radau | von kid37 um 12:57h | 5 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Samstag, 27. Januar 2007


Vor der Zeit

Dann wälzt ein müderer Gedanke sich durch den schmutzigen Schnee heran. Langsam lenken sich wie von alleine die Arbeitsschritte, die Nicht-mehr-Arbeitsschritte, die verschlurften Prekärverhältnis-Schritte aus dem U-Bahnhof hinaus. Das Abschütteln, die Purifikation, die Dekontamination schluckt immer mehr vom Wörtchen "frei". Früher half ein Schulterzucken. Früher half ein Fingerknacken. Früher half oft noch ein Nachtgebet.

Hartung nicht vorüber, haben sie sich tiefer in die Knochen gebohrt: die Mühle, der Staub, das schrille Geräusch der sprühenden Funken. Horcht, horcht, der Eisenmann kehrt heim. Zagt und fürchtet, der schwere Schritt, die klobigen Stiefel, das dunklere Husten, wenn er eine Weile noch unter der schwarzen Türe harrt. Das Auge lahm, die Ohren taub, im Kopf dräut lange vor dem Schlafe schon der Weckruf. Das Plärren der Fabriksirene, weit, weit vor der Zeit.


 



Zitiert werden ist das neue Schwarz

Kaum paßt man kurz nicht auf, fallen die Augen zu, sieht man kurz schwarz - stellt die Süddeutsche eine kleine Analyse an, welches was das neue welches ist.

Und so wanderte augenscheinlich auch meine Behauptung, Moskau sei das neue Schwarz in ein wunderbares erschütterndes Poem über die Wende zum Trend.

via Gedankenträger

Tentakel | von kid37 um 09:41h | 6 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Mittwoch, 24. Januar 2007





So, schiebt mal eben die Heulsusen beiseite. Das ist ja wohl arschgeil: Karl Nagel, Mann von Welt und Chaos und natürlich aus Wuppertal, hat auf seiner Webseite ein tolles Bildarchiv zusammengetragen: Punk in Deutschland. Hier z.B. Wuppertal, 1979-1982, da müßte ich auch noch Dokumente haben, aber wo, aber wo... Auf einem Bild ist Peter Best zu sehen, schräger Plattenhändler, dessen Laden so eine Art Punk-KontakthofInformationszentrum war, das praktischerweise nur einen Steinwurf von meiner Schule entfernt war. Für einen schüchternen Bengel wie mich genau das richtige! Meine erste Punk-LP kaufte ich aber bei Karl vom Kothen, denn der warb damit, "jede Platte" zu haben. Immerhin hatte der "The Scream" von den Banshees - und mehr wollte ich damals nicht.

In die Börse ging man immer ab Donnerstag, um aufzufallen, Energie zu tanken, als "Linker" auf den ebenso akribisch wie heimlich geführten Listen rechtsorganisierter Mitschüler zu landen und Träume zu entwickeln, von dem, was im Leben vielleicht so möglich ist. Wunderbare Zeit, erstes Mal Rimbaud lesen, erster Liebeskummer, Musik von heute, der ganze Mist, großartig. Elektrizität in der Luft, jeder hat eine Band oder zwei und drei Fanzines. Selbermachen.

Samstag traf sich die Stadtjugend in der Elberfelder FußgängerZone gegenüber vom Deutschen Supermarkt am "Brunnen". In den hatten andere dann schon Waschpulver reingekippt - einfach weil sie es konnten, wie es heute so schön heißt. Die Polizei sperrte die Innenstadt ab, das gefiel den Geschäftsleuten nicht, weil die Leute, die extra wegen der Punx nach Wuppertal kamen, nicht einkaufen gehen konnten. Großes Hin und Her, jede Woche dann unbestimmte Erwartungshaltung, Krawall wohl auch und Rangeleien, bei denen man beigegekleidete Zivilfahnder dabei beobachten konnte, wie sie ganz wichtig in ihr Funkgerät in der Jacke wisperten. Haha, die haben bestimmt die besten Fotos aus der Zeit! Irgendwann - davon ist auch ein Foto zu sehen - lud man ein ins Rathaus - "zum Gespräch". Wie man halt so ist im Bergischen. Lange Jahre her, unglaublich, daß damals bereits jemand Farbfotos gemacht hat. Eine spannende Erinnerungsreise in eine noch spannendere Zeit.

Ist aber auch egal. Ihr erlebt ja sicher auch was. (Zu diesem Thema sagt der Kommentar von "Loki" unter den Bildern eigentlich alles, har har.)

Radau | von kid37 um 13:12h | 27 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Montag, 22. Januar 2007


Die Zeit tröpfelt dahin

Hals über Kopf
Einstürzende Neubauten
French Film Blurred


 


Sonntag, 21. Januar 2007


Wir nennen es Samstagabend

Und so schaue ich den silbernen Schalen zu wie sie langsam schwarz anlaufen. So sehe ich der Rostamöbe auf meinem Bisley zu, wie sie Scheinfüße ausstreckt, sich zögernd nähert und Kontakt sucht - zum lethargischen Nachbarfleck, der sich in all den Jahren nicht verändert hat.

Wenn man lange genug schaut, sieht man Fratzen und Visagen blitzen. Dein Gesicht sah ich schon lange nicht mehr. Manchmal nur höre ich von deinen Worten. Unangenehme Gewißheiten, eine unsicher tapsende Arroganz, von der man ahnt, was sie kaschieren soll. Wenn ich die Hand ausstrecke und die Flecken hier berühre, spüre ich den schorfigen Grund.

Man soll nicht schneller rosten als das Metall um einen herum, heißt es. Man soll niemals so schwarz sehen wie das Silber in der Küche. Sollte man eine Küche haben.

Am Samstag haben wir früher schlimme Dinge gemacht. Getrunken wohl auch und laute Musik gehört. Ich glaube, leichte Bekleidung spielte eine Rolle. Das ist zum Glück vorbei. Für die Junggebliebenen gilt: Sei kein Brett. Schüttel, was du hast. Ich sitze hier und starre den Heizkörper an. Solange, bis der Tanz vorüber ist.

>>> Ausschnitte aus Eraserhead, Wer hat Angst vor Virginia Woolf, Faster Pussycat! Kill! Kill!, Freaks und Die Verachtung ergeben dieses hundstolle Video zu Wildcat von Be Your Own Pet.