Mittwoch, 29. November 2006


Der Friedhof der Freuden

Da, unter der Sonne, die ihm das
Gehirn verbrannte, und in dem Dunst
der glühenden Düfte des Todes, hörte
er unter dem Grabstein, auf den er
sich gesetzt hatte, eine Stimme flüstern.

(Charles Baudelaire,
"Der Schießstand und der Friedhof". 1869.)




November ist der Monat der Toten. An nassgrauen Sonntagen schiebt man sich tiefer in die Mäntel, schlurft hinaus vor die Stadt auf die Friedhöfe, ehrt Seelen, Heilige und Kriegerwitwen. Aber in diesem so außerordentlich gefugten Jahr mit Sommermärchen und vergoldeten Herbsttagen ist selbst dieser schwermütig-besinnliche Gang noch lichterleicht. Mir jedenfalls fällt gleich einer der schönsten Friedhöfe ein im sonnendurchfluteten Lissabon: der Cemitério dos Prazeres, der "Friedhof der freudenreichen Mutter Gottes".

Einen solchen Ort sollte man naturgemäß nur mit einem blonden Engel an der Seite begehen. Der muß gar nicht singen, weder Stiefel noch Zylinder tragen. Der Reiz der Kontraste könnte dennoch kaum größer sein, wenn glitzerndes Lachen und keckes Locken zwischen den Grabmalen blitzen. Denn dies ist kein Ort für düstere Ophelias. Der Friedhof war nach seiner Gründung 1833 tatsächlich ein beliebtes Ziel für Ausflüge und Picknicks, ehe dies von einer entnervten Stadtverwaltung untersagt wurde. Der Name ist geblieben, "Friedhof der Freuden", die eindrucksvollen Grabstätten auch. Zwischen schneeweißen Mausoleen und imposanten Familiengrüften wandert man durch die Nekropole, schlendert und stöbert in sengender Hitze, staunt über Namen und Daten und fragt sein eigenes Ende nicht.






Einen Friedhof darf man nicht fürchten, denn hier kann niemand verloren gehen. Die Namen werden einem zusehends vertrauter, erschlaffte Blumen winken, dort hinten der Weg scheint nur für dich. Manche Grabstätten stehen offen, das ausgeblichene Holz der Särge strahlt einen Rest von Wärme in den kühlen Grüften aus. Sollte man den Ausgang verpassen, bleibt man wohl einfach da. Ein blonder Schatten, ein rotes Hemd ziehen einen weiter, in die nächste der über 73 Alleen der Toten. Amália Rodrigues, die berühmte Fado-Sängerin lag hier begraben. Fernando Pessoa ebenso, kein schlechter Nachbar wäre das, zum Debattieren, Kartenlegen und auch sonstwie gepflegt einen anhängen. Doch 1985 wurden seine Gebeine nach Belém verfrachtet. Ein Platz ist also frei.






Manch einer hat sich lange schon gefragt, was die Friedhöfe vor allem im Süden Europas so pittoresk macht. Ist es der Katholizismus, die Volksfrömmigkeit in diesen Ländern? Ihr Romantiker! Schon mal überlegt, warum immer nur in klassischen Urlaubsländern diese opulenten Grabanlagen anzutreffen sind? Und Hotelanlagen in Plattenbauweise gleich dazu? Die Menschen im Süden wissen eben, was der Tourist aus Tristlande sucht. Und so wie die Iren im Sommer ihre halbverhungerten Esel auf die Wiesen treiben, um den Reisenden ein Bild zu liefern, so errichtet man im Süden seine letzten Ruhestätten. Herr Kid deckt auf:



In einem kleinen Ort an der Küste im Norden Portugals werden die malerischen Mausoleen in simpler Fertigbauweise vorfabriziert. Fleißige Hände in kleinen Familienbetrieben sind damit beschäftigt, den weißen Marmor mit Algen und Eisenspänen auf alt und angerottet zu trimmen - dann gehen die Platten ab auf die Friedhöfe der Touristenregionen und werden dort schnell zu imposanten Sepuchralbauwerken zusammengesetzt:




Vielleicht nimmt man Platz, ermattet vom Schlendern und der Hitze. Vielleicht sucht man in Ruhe die Zwiesprache, die Aussprache, weil man soviele Fragen noch hat. Weil man selber nicht weiß, wohin die Wege noch führen, weil man Bilanz ziehen will. Weil man sagen will, ich bedaure, ich will nicht, ich will aber, ich möchte nie wieder oder doch noch einmal.

Gazing at you through Scorpion eyes: das Bittere, das Süße - die unbeschwerten Tage sind nun weit entfernt. I wear my memories like a shroud, singen die Todesfeen wie von fern. I wander through your sadness, oder wanderst du durch meine? Wie kalt es plötzlich ist, wenn man merkt, daß die Zeit immer nur nach vorne eilt - und nur die Toten bleiben. Immer gehen, vorwärtsgehen, weitergehen, stolpern, über Baustellen, über Friedhöfe, als Sieger, als Besiegter. Das Bittere, das Süße. Am Ende ein Geschenk: dieser Schmerz heißt Misery.

Ein wenig wirr von der Hitze, der flirrenden Luft schleicht man davon. Den Duft der Bäume in der Nase, das Wispern der Toten im Ohr, das Raunen der Stille zwischen den Gräbern. Fass einen Engel an der Hand, wenn du kannst, und flüstere ein leises Auf Wiedersehen.


 


Dienstag, 28. November 2006


Unter Schirmherrschaft

Ich habe neulich von den beiden konkurrierenden Literaturportalen gelesen, die derzeit im Netz etabliert werden. Das eine ist wohl auf Berlin zentriert, das andere wird vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach betrieben. Die haben dort auch eine Reihe Blogs verlinkt und sehr gute Empfehlungen darunter. Das unterstütze ich sofort. Wo aber sind Suna, Herr Fabe, Mequito und... und... und...?


 


Montag, 27. November 2006


November

Am Rhein lebt man erst,
Wenn es nebelt und näßt.

(Fehlfarben, "Der Fremde")


"Am Rein lebt man erst, wenn es nebelt und näßt." (Fehlfarben)

Ausgehen. Ausschalten. Die Füße durch nasses Laub schieben. Den Atem anhalten. Auf den Puls hören. Mit regennassem Gesicht an welke Träume denken. Wie damals, zu Gast im Club der schönen Mütter. An der Tafel kein Gedeck, an der Tafel waren alle Verbindlichkeiten längst schon aufgehoben. Auf dem Katzentisch lag eine allerletzte Nachricht: Der Termin war gestern. Oder morgen. Oder morgen, wiederholte ich stumm. Ein Blick zurück, ein Blick nach vorn. Was braucht man, einen Kompass vielleicht. Meine Hand griff ins Leere, streifte achtlos die silberne Messerbank.

Im Herbst ist die Richtung viel klarer. Ein Blatt fällt zu Boden, viel später ein zweites. Im Wald warten keine saftigen Gräser. Nur Fehlfarben, klamme Zweige, tropfende Äste. Sie peitschen dir das Gesicht, wenn du läufst. Ich steige aus, rufe ich, und sinke auf die feuchte Erde. Ich steige hinein, meine Finger bohren sich tiefer in den fauligen Grund. Früher da war mir, ich dachte, es schien mir so einfach, alles zu zünden. Das trockene Gras des Sommers, flirrende Hitze. Da dreschen doch alle bloß staubiges Stroh.

Im Herbst aber bremsen Husten und Regen die mutigsten Taten. Was fängt man an im zugigen Haus? Man kauert sich nackter an die eiskalte Heizung. Dichter gepreßt an die rostigen Rippen, denkt, so, jetzt aber Schluß hier, und wünscht keine Ernte. Läßt sich schütteln vom Fieber, sich vom Sturm dann verwehen.

Ja. So müßte das sein - ABER NICHT SO EIN LAUWARMES WISCHIWASCHI!
18 Grad! Könnte mal bitteschön einer die Erdachse in die richtige Position zurückschieben? Danke.


 


Sonntag, 26. November 2006


Ein Mann muß entscheiden

Ich für meinen Teil gehe jetzt ins Bett.


 


Samstag, 25. November 2006


Rabenschwarze Fingernägel

Some children died the other day
We fed machines and then we prayed
Puked up and down in morbid faith
You should have seen the ratings that day

(Marilyn Manson, "The Nobodies")

Ich weiß noch genau, wann ich in der Gartenzwergfabrik anfing. Ich hatte meinen Job gekündigt, eine Anstellung übrigens, die einstmals Herwarth Walden ehrenvoll ausgefüllt hatte, ehe er sich - aus ähnlichen Differenzen wie ich - verabschiedete, um etwas zu tun, an dem sein Herz richtig hing.

Ich hatte mein Bewerbungsgespräch bei den Gartenzwergfabrikanten just an dem Tag, an dem ich abends auf ein Konzert von Marilyn Manson wollte. Das wurde in der Fabrik mit einem gewissen ungläubigen Lächeln zur Kenntnis genommen, ahnte man ja noch nicht, daß ein paar Jahre später, greifen wir ein Beispiel heraus, Menschen wie Jutta Ditfurth sich wohlwollend über den amerikanischen Brachial-Chansonier äußern würden.

Warum auch nicht? Ich habe zum Beispiel durch einige Experimentierlust herausgefunden, wie sich durch Zugabe von Vitamin C Absinth in einen gesunden Durstlöscher verwandeln läßt. Da liegt Gold im Dreck! Zudem stellte ich fest, wie sehr selbst Bloggen Spaß macht und den Charakter von - ich könnte das jetzt auch Arbeit nennen - Beschwerlichkeit verliert, wird man nur wie der schwarzbekittelte Meister von einer Gruppe Cheerleader begleitet. (Übrigens: Dieser Link führt Sie auf das Angebot von Youtube.)

Wie kam ich jetzt darauf? Ach so, Herwarth Walden und der Expressionismus. Der war ja mit Else Lasker-Schüler verheiratet, einer nicht völlig unbekannten Wuppertaler Lyrikerin, der - Wuppertal ist von dadaistischem Fluxusfieber durchdrungen - noch in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts, das glaubt jetzt wieder keiner, ein Steuerbescheid zugestellt wurde. Weil nämlich ein Beamter beim Wuppertaler Finanzamt dachte, Lasker-Schüler, Lasker-Schüler, da lese ich doch ständig was von in der Zeitung, ihre eigene Gesellschaft hat die, es gibt Lesungen - wo bleibt eigentlich ihre Einkommenssteuererklärung? Genau. Kann man ja mal nachfragen. Fand man damals ganz lustig, und ist es ja auch.

Das habe ich aus einer Zeitung herausgerissen und stelle es als historische Quelle hier rein.

Jedenfalls bringt mich das zum Blog von Bazon Brock, auch so ein Mensch mit Wuppertaler Wirkung. In meiner Zeit als Bummelstudent schlich ich mich ab und an in seine Vorlesungen, um also erleuchtet verwirrt meinen Weg zu gehen.

Was nutzt uns der Gedanke, dieselben (die Gedanken nämlich) seien frei, wenn der Madensack (id est der Körper) in Ketten liegt? Nüschte nix, das sind nämlich Nobodies, die versuchen, Somebodies zu sein. Wir aber treten lieber nicht auf die Grünflächen. Es reicht, wenn die Gedanken frei sind. "Der Tod ist das einzige Thema, zu dem die Deutschen wirklich etwas Einmaliges, jenen anderen ganz Unverständliches gesagt haben." (B.B.)

Was hat das denn jetzt mit meiner jetzigen Tätigkeit beim Formen kleiner nichtiger Gartendekorationsartikel zu tun? Ach so, ich komm gleich drauf, einen Schluck noch. Bleiche Haut, krude Gedanken. Die Dekorationskunst ist ja nun eine der eher unnützen Künste, anders als z.b. die Hirnchirurgie. Wenn ich mit Medizinern und insbesondere Medizinerinnen verkehre, was ab und an, schaut nicht so überrascht, vorkommt, sagen die, so ein Gartenzwerg, wie putzig, und davon kann man leben? Während ich die Ästhetik eines in Kongo-Rot-gefärbten Zellabstrichs preise und lobe. So ungerecht geht es zu! Dabei wären viele Menschen abends schon ruhiger, könnten sie nur gedankenverloren mit den Fingern über gut verheilte Narben oder die Naht echter Nylons streichen - anstatt ihre Mitmenschen zu drangsalieren und ihren Frust in schmierigen Toiletten in Berlin-Mitte abzubauen. (Heute habe ich nämlich überhaupt erstmals dieses berüchtigte Klo-Video dieses Gründers von diesem Stalker-Verzeichnis in diesem Internetz angesehen.) Laß mich dich unterhalten, mit nicht-normativer Ästhetik hat das jedenfalls nichts zu tun, du Trottel.

Bei den Gartenzwergverarbeitern auch nicht, denn dort wird zusehends, ich lüpfe jetzt mal das Nähkästchen, alles normierter, daß man auf die Grünflächen treten möchte und rufen: Nevermore! Wo bleiben hier die Visionen? Absinth erzeugt wiederum schöne Visionen, aber - so der Hirnchirurg - das tun Aneurysmen auch. So schließt sich der Kreis, es ist eben das Herzblut, das fehlt. Zombifiziert geht man seiner Beschäftigung nach, unalkoholisiert selbstverständlich, nimmt nur noch zur Kenntnis, sortiert die Paletten nach mechanischem Muster.

Kann es das gewesen sein? fragten die, es bleibt beim Thema, Ärzte. Und natürlich heißt die Antwort Nein. Also raus, sein eigenes Grab wühlen, oder besser noch, mal radikal was anderes machen, ehe man als Jedermann sein eigener Duckmäuser! Anti-Dadaist und unpolitischer Surreal-Sackkratzer endet. Etwas besseres als den Tod kann man schließlich überall finden.

Aber dann, denke ich, räum ich doch wie weiland Hermes Phettberg meine Wohnung zamm, trink mir eine alkoholangereicherte Frucade, jammere in mein Blog und träume von dem Tag, als ich sagte, morgen kann ich aber nicht, heute abend ist ja das Konzert von diesem Marilyn Manson.


 


Donnerstag, 23. November 2006


Dunkel und sonderbar wohl auch

"But I don't want to go among mad people," Alice remarked.
"Oh, you can't help that," said the Cat:
"We're all mad here. I'm mad. You're mad."

(Lewis Carroll. Alice in Wonderland. 1865.)


"Toy No. 9" © Viktor KoenAch, was wäre dies eine Welt ohne Spielzeuge! Erwachsen geworden und nicht bereit, jeden Tag eine Lektion zu lernen. Nichts zu Experimentieren, Demontieren, Auseinanderzuschrauben, Anzustaunen, Kaputtzumachen, Neuzuerfinden. Dinge zusammenzudengeln, die noch nie ein Mensch gesehen hat. Kreaturen zu gestalten, deren Wesen reine Idee ist und deren Fähigkeit nur darin liegt, die Eltern tüchtig zu erschrecken.

Wie wunderbar also, daß es Künstler wie Viktor Koen gibt. Der macht schräge Sachen, verrückt, bunt aber düster, brutal putzig, immer auch kitschig, sicher, aber im herzerwärmend blutgefrierenden Sinn. Macht bestimmt riesigen morbiden Spaß und deshalb sollte man sich das ruhig ansehen. Ich kann leider am Freitag nicht - unter anderem, weil ich mit meinem zickigen Rechner spielen ernste Dinge bereden muß. Ihn auseinanderschrauben, neuzusammensetzen, anstaunen, kaputtmachen neuerfinden und ihm Fähigkeiten beibringen, die ich eigentlich voraussetze.

Aber sobald alles (oder wenigstens mein CD-Brenner wieder will), werde ich mir wenigstens ein anderes Wunderland anschauen. Das andere wird dann alles nachgeholt.

("Dark Peculiar Toys", 24.11.2006 bis 13.1.2007 in der Strychnin-Galerie. Berlin, Boxhagener Str. 36)


 


Dienstag, 21. November 2006


Amok Koma

Der jugendliche Amokläufer soll ein "exzessiver" Nutzer von "Killerspielen" gewesen sein. Deshalb, so fordern es Politiker, müssen diese verboten werden.

Das Nachahmungspotential sei zu hoch. Dies gilt glücklicherweise für Leser des Spiegel und Betrachter des aktuellen und überall plakatierten Titelbildes nicht. Soldatenkluft, Knarre und die Forderung, "Die Deutschen müssen das Töten lernen", machten mir sonst noch angst.