Freitag, 5. Mai 2006


Und von der Stirne heiß...

Als Blumfeld noch Blumfeld waren, kafkaesk und dicht und keine schmusigen Barden (Laß mich ein Blumenfeld sein), da also sprach Distelmeyer:

"Dich interessiert doch nicht, was du erlebst, nur das, was du davon erzählen kannst!" ("Aus den Kriegstagebüchern")

Das war immerhin 1992, Jahre vor Blog-Mania und Hyperzwang. Der Wunsch, Teil einer Dings zu sein, kommt Samstagabend im Gesamtpaket. Da lesen alte Kämpen und charmante Diven, jeder nur 37 Sekunden, bis ich allen die Luft abgedrückt die Luft alle ist. Wird sicher total geil heiß, weshalb ich vorschlug, die Queen Mary 2 in diesem Laden zu parken, auf daß es voll wird, was mir aber egal ist, denn ich habe einen Platz.

Ich lese auch was vor oder foppe A-List-Blogger oder zweifle und weine und zeige meine Stigmata tote Tiere. Man kann mir auch einfach in der hohen Disziplin des Kunstschwitzens zuschauen, wenn ich in fünf Minuten drei T-Shirts durchnässe. Vielleicht gibt es auch wieder Trikottausch mit Bin ich denn aus Düsseldorf? Lu. Vielleicht. Wird. Auch. Alles. Anders.

Sagt doch einfach hallo. Ich bin der mit dem Käsebrot.


 



Luft anhalten und bis zehn zählen

Einsamkeit
Zwietracht
Drittmittelförderung
Viererbande
Fünfeck
Sextett
Siebensachen
Achtsamkeit
Neunmalklug
Zehnzwischenraum


 



Und dann blieb es stumm

Läßt man sie ein paar Tage allein, nehmen es einem die Sachen und Geräte übel. Die Chassis kühlen aus, fangen sich gerade im Sommer die Feuchtigkeit aus der Luft, dann kehrt man aus dem Urlaub zurück, schaltet ein und hat den Verweigerungssalat. Ist der Kondensator erst richtig entladen, murrt er gerne mal rum und mag es gar nicht, wird er sogleich unter Dauerstrom genommen. Reparaturwerkstätten wissen dies und sprechen im besten Handwerkerdeutsch von der Post-Absentale-Besitzer-Phase nach der Hauptsaison, wenn malade Fernsehgerätschaften und andere Hochstrommaschinerie in die technische Klinik eingeliefert werden. Begleitet vom klassischen Spruch "Und das, wo man nach dem Urlaub eh schon pleite ist". Aber dafür braungebrannt - so wie ihre verschmurgelten Kondensatoren, denkt der Reparateur stille und begrüßt den Beginn der eigenen Hauptsaison.

Aber das nur mal nebenbei erwähnt. Mein Concertino 55 von Telefunken sagte nach 50 Jahren einfach "Tschüß" und schwieg nach meiner Heimkehr still. Jeden Morgen NDR Info (gerne verstanden als: "Endlich ein Ufo"), jeden Abend Deutschlandfunk! Und nun! Sicher nur 'ne Sicherung, betete ich das Mantra der vom plötzlichen Gerätetod Überraschten, denn Gestern ging es doch noch! (die klassische B-Seite desselben Liedes). Für eine kleine Radiobastelei bin ich gut gewappnet, also erstmal die Rückwand abgeschraubt (Netzstecker ziehen!), alles entstaubt (die Spuren eines halben Jahrhunderts!) und die Sicherung ersetzt. Nachdem die Spannung nicht nur mental, sondern auch elektrisch zurückkehrte, ein fieses Geräusch: rhythmisches Knarren, oho, die Gleichrichtung! Weißer Rauch stieg auf und verkündete keinen neuen Papst, sondern den Tod eines Netzteils. Ja, Firma Telefunken. Da machen papiergewickelte Elektrolytkondensatoren nach 50 Jahren schlapp? Kein Wunder, kein Wunder, daß ihr nichts mehr baut. Da nützt auch die alte Röhrengarantiekarte, die ich im Inneren des Gehäuses fand, nicht viel.

Das kommt davon, wenn man Döblin zitiert. Nun heißt es wieder, den Radiobastler spielen und die Manuskripte beiseite geschoben. Zauberlehrling, du mußt warten!


 


Mittwoch, 3. Mai 2006


...ein Weib dreht ihren Hals auf einem
scharlachfarbenem Tier

Er steht auf, schlurrt durch das Lokal,
die Wollstrümpfe hängen ihm über Bord.
Elend sieht der Mensch aus, gelbblaß,
die klaffenden Linien um den Mund,
die schrecklichen Querfalten über die Stirn.
Er holt sich noch eine Tasse Kaffee
und eine Limonade.

(Alfred Döblin. Berlin Alexanderplatz. 1929)

Auch schon zurück (auf Strümpfen) aus der großen Stadt. Das Biest empfing mich natürlich wie immer mit Regen, Kälte und Abweisung. Und schicksaltrotzenden Fußballfans. Erst sangen die Frankfurter "Zieht den Bayern die Lederhosen aus". Später am Abend sangen allerdings die Bayern "Mer ham noch da Lederhoasn an". Und immer rund um den Bahnhof Zoo. Die armen Kinder dort, was sollen die denken.

Dann aber 1. Mai, schnell ein Arbeiterlied gesungen unter der Dusche, an die jungen Menschen gedacht, die in Kreuzberg grillen und an die älteren, die zur selben Zeit im Internet surfen. (Heute in der FAZ gelesen: "Die komplementäre Redensarten der Industrie, ältere Arbeitnehmer könnten mit dem rasanten Wandel der Wissensgesellschaft nicht mehr Schritt halten, stammen im allgemeinen von Leuten, die älter als fünfzig sind, und sollten entsprechend eingeschätzt werden." - Jürgen Kaube)

Berlin tat dann ganz freundlich (drauf falle ich nicht mehr herein, eigentlich) und lüpfte die Wolkenröcke, um ein paar saftige Sonnenstrahlen kokett hervorzuschieben. Mir zur Freude. Also schnell raus, mich an die Hand begeben und leise und anteilnehmend mit Blogger-Tours ("Da beginnt der Spaß schon auf der Anfahrt") die heimlichen und unheimlichen Tränken und Absackstätten der A-List-Blogger-Schickeria angeschaut. Von "Laß uns mal schön nach Hause geh'n" über "Plüschmutti 3000" und "Mach meinem Kumpel ein Nest" hin zur "Gute Wohnstube", einen Kuchen essen. Überall zaghaft das Baumwollleinentäschchen aufs Trottoir gestellt, umständlich den Fotoapparat herausgewrungen und andächtig mir ein Bildnis gemacht. Zur ehrfurchtsblühenden Erinnerung.

Kuchen also bei "Hier wohnen wir, bis wir 30 39 sind". An den Nebentischen kann man Gesprächen lauschen und dabei wertvolle Tips für sich selbst destillieren. Da erzählt eine ihren zusehends (~hörends) stiller und ungläubiger werdenden Begleitern von dieser Geldanlage. Weil ja "alles nix bringt" und sie doch bald die Wohnung kaufen wolle, habe sie sich mal umgehört. Und dieser seriöse Typ, dieser Immobilienmakler (es gibt Menschen, für die wäre das schon ein Oxymoron), der hätte nun wiederum einen gekannt, Geschäftsmann und gut betucht, der brauchte schnell einen privaten Kredit. (Leider, leider sei der gute Mann nämlich nicht liquide, all sein vieles Geld so feste angelegt, mit Fischerdübeln verschraubt, daß er nun glatt acht Prozent bieten wolle.) Und während man noch denkt, gleich lacht sie laut und ihre Begleiter mit und sagt so was wie "netter Versuch", fährt sie mit unverrückter Miene fort. Bald nämlich bot man ihr sogar zehn Prozent, wenn das Geld nur sofort überbracht würde. Und "natürlich" hätte sie das gemacht, war ja alles ganz seriös und einen Zettel hätten sie auch aufgesetzt, also so einen Vertrag und ob denn - hier ein kurzer nervöser Blick zum Begleiter - private Darlehensgeschäfte hierzulande verboten wären?

Im stillen dachte ich, nun kürz' es schon ab, erzähle die Pointe und laß uns Mitleid schenken. Aber es folgte eine längliche erzählerische Odyssee über vergessene und verschlampte Rückgabetermine, geplatzte Überbringungsversuche, die allesamt plötzlichen Todesfällen in der Familie, Krankheiten oder Motorschäden anderer Art geschuldet waren. Und während bei mir Geduld und Kuchenstück immer kleiner wurden, wartete ich auf das Bekenntnis und die Einsicht, dieses Mein Gott, puta madre, die Kohle ist weg und ich ein Idiot!, und auch die Begleiter rutschten immer peinlicher berührt auf ihren schmalen Sitzen hin und her, starrten mal hierhin, wünschten sich bald dorthin und warteten mit offenem Mund auf das Ende der Geschichte.

"Ja", meinte die Frau. Es hätten sich wohl bald einzelne Unstimmigkeiten gezeigt, glatte Lügen auch, die den mantrisch wiederholten "Geld kommt Dienstag"-Formeln zusehends so etwas wie Glaubwürdigkeit absprachen. Sie hätte mittlerweile Nachforschungen angestellt (Mittlerweile! Nachforschungen! Auf eigene Faust!) und einen Hauch verspürt... Zweifel schlichen sich wohl ein. Jedenfalls, nun wurde eine Meinung erbeten, fragte sie sich, ob sie denn nun noch warten solle, vielleicht doch eine Frist setzen oder... oder einfach mal zur Polizei gehen? Oder, schlimm, lachten die sie am Ende nur aus?

Meine Begleitung, deren längst verdrehte Augen nur durch einen medizinischen Trick wieder anatomisch einigermaßen korrekt in die Höhlen zu bekommen waren, röchelte: "So redet nur eine, die dieses Geld nicht selbst verdient hat." Während ich noch überlegte, mir vielleicht selbst ein wenig Geld von dieser Frau zu leihen. Wenigstens für den Kuchen.


 


Samstag, 29. April 2006


Mal wieder was mit diesen, öh, Strümpfen

Tetsu Tominari lebt in Tokio und bekommt den Finger nicht vom Auslöser. Ich mag ja diesen trashigen, uninszenierten Ansatz, Leben zu dokumentieren, ziellos, probierend wie ein Tagebuch mit einer gewissen Hemmungslosigkeit, die uns Europäern eher charmant denn provokant vorkommt. Andererseits, wenn man weiß, daß schon lautes Benehmen in der Öffentlichkeit für Japaner peinlich ist, bewertet man die Tabubrüche vielleicht noch einmal neu.
So gesehen eben doch eine Inszenierung, und sei es - wie bei Araki - daß hinter der ungebremsten Schaffenslust die Eitelkeit steckt, vielleicht dem Tod doch noch ein wenig Zeit abringen zu können.

Und darum, seien wir ehrlich, geht es am Ende eben immer. Der Ringelstrumpf der Woche geht also nach Japan, dem Land der aufgehenden Sonne und unaufgeräumten Kleinstwohnungen.

Tetsu Tominaris Bildband gibt es hier, über Preise wollen wir nicht reden.

Ich hoffe, am Wochende steht für jeden ein geringelter Maibaum bereit, zum Tanzen und frivolen Locken.


 


Freitag, 28. April 2006


Tod ohne Sorge

Plastinator Gunther von Hagens, Schöpfer der Körperwelten™ (Ja, ich war auch mal dort), hat ein wenig mehr TotenRuhe ins Land gebracht. Nachdem er nun im schönen Städtchen Guben das Rathaus gekauft hat (kann man ja mal machen, das Hamburger Rathaus ist auch sehr schön) und zugleich grünes Licht erhielt für den Bau einer Plastinationsfabrik, bereitet auch das Sterben wieder Freude.
Für die Angehörigen.

Einen kostenlosen "Abholservice" für Leichen werde er einrichten, schreibt der Körperbastelfreund. "Dieser Service wird großen Zuspruch finden, denn er ermöglicht Trauer ohne Sorge um Begräbniskosten."

Wundern wir uns also bitte nicht, wenn demnächst diskrete Kombis und Kastenwagen durch die Stadt eilen - mit dem Slogan:

Trauern ohne Sorge dank Gubener Plastinate

Ich mag diese 50er-Jahre-Ästhetik dieses möglicherweise vom Chef selbst gedichteten Spruchs. "Die Welt sehen - als Gubener Plastinat!" gefiele mir auch sehr gut. "Plaste + Elaste - selbstverständlich aus Guben" eignete sich z.B. für Werbematerialien aller Art. Kugelschreiber, Wandkalender, solche Sachen ("sonne Sachen", sagt man in der Gegend, glaube ich).

Da ja die Angehörigen angesprochen werden sollen, könnte man in der U-Bahn die Plakate mit Tschüß Omi - wir ziehen um. Aber für dein Grab ist gesorgt. - Grabpflege ab 50 Ct. pro Tag!, die mich bislang immer ein wenig irritierten, ersetzen durch: "Mal wieder einer tot? Keine Sorge - ab nach Guben!"
Danke, Gubener Plastinate.

Und wer weiß, wie lang es dauert, bis auch der Volksmund sagt: Wer andere nach Guben schickt, fällt selbst hinein.


 


Donnerstag, 27. April 2006


Die Welt wird meinen Namen nicht kennen

Dieser Anflug von Tragik. Morgens aufwachen und die Idee seines Lebens haben. Kurzer Taumel des Glücks. Dann bemerken, jemand anderes hatte sie bereits.

Homestory | von kid37 um 23:52h | noch kein Zuspruch | Kondolieren | Link

 



Die Welt wird meinen Namen kennen

Sobald man etwas entdeckt hat,
breitet es sich überall aus.

Neulich morgens wachte ich auf und war für einen verhältnismäßig langen Moment der Überzeugung, ich sei der wiedergeborene Michael Flatley. Zwar lebt der noch, versuchte ich mich selbst zu beruhigen, tänzelte und steppte aber dennoch, so gut es die langen Beine meiner Schlafanzughose (gestreift) zuließen, ins Bad. Der eher plumpe Aufprall auf den Badezimmerfliesen bereitete allerdings eine gewisse geistige und körperliche Ernüchterung vor. Das eiskalte Wasser der Morgendusche brachte mich dann vollends zur Besinnung. Glaube ich.

Als Tanzbodenfürst wäre mit mir kein Staat zu machen. Ich hatte aber gleich darauf eine neue Idee, wie ich zu künstlerischem Ruhm - und mehr noch - zu Geld kommen könnte. Ich werde nämlich einen Roman schreiben! Genauer gesagt, ein Kinderbuch, das muß man ja in Deutschland fein unterscheiden.

Seit ich diesen Film über die barfüßigen Typen gesehen habe, die mit einem Schmuckstück durch Auenwälder latschen, (das ist der, in dem auch die spitzohrige Prinzessin mitspielt, die aussieht wie Schneewittchen mit unheimlich großem Mund), ist mir nämlich aufgefallen, daß Themen mit Hokuspokus und Magie ziemlich gut laufen derzeit.

Also habe ich mir eine hübsche Geschichte ausgedacht. Held meines Romans wird ein kleiner Junge sein. Eine Waise, habe ich mir überlegt, um ihn ein wenig herauszustellen und besonders zu machen. Was der Junge anfangs nicht weiß: Er hat eigentlich Zauberkräfte! Wie das aber bei kleinen Jungen so ist, und bei Zauberlehrlingen allemal, muß er erstmal zur Schule, am besten also eine Zauberschule, um ordentlich zu lernen. (Pädagogische Botschaft muß sein im deutschen Kinderbuch!) Weil die Kinder, die mein Buch lesen, wie viele Leseratten bestimmt eine Brille tragen und deswegen gehänselt werden, mache ich meinen Helden auch zum Außenseiter und verpasse ihm ebenfalls eine Sehhilfe. Das verbindet und kommt an. Die Spreepiratin, der ich von dieser tollen Sache erzählte, weil sie sich mit Medien ein wenig auskennt, sprach mir gut zu war gleich Feuer und Flamme und schlug vor, dem jungen Helden obendrein eine Narbe anzudichten. (Ich glaube, sie hat da für so was ein gewisses Faible.)

Mein kleiner Held (Arbeitsname "Kid"), ich werde ihn später vielleicht Herbert nennen oder Horst, jedenfalls was mit "H", ist nun dreifach stigmatisiert: Brille und Narbe und Waise. Da hat er was zu überwinden und einen kleinen dunklen Schatten auf der Seele, ein Geheimnis vielleicht, das es im folgenden zu ergründen gilt. Natürlich muß er sich auch gegen Neider, verblödete Erwachsene und Schulhofterroristen zur Wehr setzen, damit werden sich meine jungen bebrillten Leser sicher gut identifizieren könen.

Das Ganze werde ich mit allerlei Quatschwörtern aufpeppen, denn in diesem Film mit der spitzohrigen Prinzessin gab es sogar eine eigene Sprache und Mythologie. Ich hörte, so was gibt echten Fans das Gefühl, "Insider" zu sein. Und echte Fans machen ein Buch erst zum Erfolg. Also werde ich Begriffe wie "Quuuuuggle" oder "Kramlat" einführen, die meine Insiderfans dann beiläufig in Partygesprächen fallen lassen können.
Später könnte man auch T-Shirts verkaufen mit Sprüchen wie "Mit Quuuuuggles rede ich nicht" oder "Wo ich bin, ist immer Kramlat".

Mein Held braucht noch ein Haustier. Da bin ich aber noch unsicher. Einen Hund? Den haben Zauberer nicht. Eine Katze vielleicht. Oder besser einen Vogel? Die werden ja immer seltener.

Ich glaube, ich mache daraus besser gleich eine Saga und lege das auf sechs Bände an. Ich bin sicher, das wird ein Hit. Dann bin ich stinkreich und tanze auf dem Dach der Welt. Wie Michael Flatley.


 


Mittwoch, 26. April 2006


Hitze, Gewitter, Radiation

Vor zwanzig Jahren, möglicherweise leicht verstrahlt: Tage nach dem Reaktorunglück. Caesium 137 wäscht sich seinen Weg in unsere Körper. Warum sollte es auch nicht schneller gehen, das Ende. Die Ernte ist verseucht, und die Dichter grübeln. Vielleicht erscheint uns nun eine Erscheinung: Ein Spiel ins [sic!] System. Ein Hustenbonbon ohne Nachgeschmack.

In der Woche nach der Katastrophe stammte plötzlich alles Gemüse, das kurz zuvor noch als "Freiland" deklariert gewesen war, aus Treibhäusern. Ganz Deutschland war offenbar über Nacht zu einem riesigen Gewächshaus geworden. Von Holland wußte man das ja schon. Der Begriff "Milchpulver" tauchte erstmals wieder im aktiven Wortschatz auf und weckte diffuse Bilder einer nicht erlebten Nachkriegszeit. Minister Zimmermann beruhigte jeden Abend: Für die Bevölkerung geht keine Gefahr aus. Die Rente war plötzlich auch sicher und wir glaubten es, weil nun klar war, daß dieses Alter keiner mehr erleben würde.

Als sicherer galt nur noch Neuseeland.


 


Dienstag, 25. April 2006


Haben, nicht halten

Now there's no point in placing the blame
And you should know I suffer the same
If I lose you
My heart will be broken

(Madonna, "Frozen")

Als ich dich suchte, als ich Lichter sah und Klänge und die Schrittfolgen auf den glänzenden Böden. Diese Tage, als ich nicht wußte, war es der Hunger. Oder nur Durst. Diese Tage als ich Augenpaare sah und weitere Augenpaare. Auge um Auge, sehend suchen, Sehnsucht, aber nie mehr das, was ich in dir suchte.

Ich traf dich in den dunkleren Straßen der Stadt. Ich traf dich auf dem Boden des Ozeans. Ich traf dich in den Tiefen schwarzer Bunker und am Ende von irgendwas. In Lärmgewittern, dort wo die Wogen an den Strand schlagen und Herzen sich öffnen. Auf der anderen Seite der Stahltür sah ich dich, getragen von verwehten Bassdrums und Tinitusfiepen, zwischen langen Haaren und den Trümmern der letzten Party.

Auf den Lippen der Geschmack schaler Getränke, auf der Haut keine Küsse, nur Schweiß der Tänzer, die klebrige Schicht verstreuter Tränen. Süßes Parfüm, gehauchte Erinnerung, gehauchtere Worte, ein Flüstern, kurz bevor die Woge herabbricht - der lautere Klang, die tieferen Bässe, die giftigeren Gitarren, das härtere Schlagzeug. Alles verschluckend, in Echos wandernd von tief unten nach noch tiefer unten. Zur Herzschlagfrequenz.

Im Dunkeln, einst, faßtest du meine Hand. Wir suchten, getrieben, getragen vom pulsierenden Rhythmus, ein enger Tunnel durch Trockeneis, zuckendem Licht. Ich wußte, ich kannte dich von irgendwo.

Wenn das Ohr nicht mehr hört, nur noch die Haut, wenn die dummen Worte, meine, nur noch Klang sind und keine Klage. Und immer richtig.

Wie alt sind wir geworden? Was wird uns heute noch wichtig sein? Ich schreibe deinen Namen, fein addiert. Mal um Mal, hundert mal. Haben, nicht halten.