Freitag, 17. Februar 2006


Der gefundene Satz, 28

Wenn sie solche Reden führt, frage ich mich, ob wir nicht eine besonders privilegierte und verwöhnte Generation sind. Aufgewachsen zwischen den Entbehrungen der Nachkriegszeit und den Grausamkeiten der achtziger Jahre, sind wir Kinder unschuldigen Konsums und Erben jener Freiheiten, die die rebellierende Generation vor uns in den sechziger Jahren erstritten hatte. Wir kamen in den Genuß einer freien, vorzüglichen und doch irgendwie trödelnden Ausbildung, lebten dann die nächsten fünf Jahre von der Stütze, um unseren selbstgerechten politischen Überzeugungen hinterherzujagen, und begannen schließlich, in der Medienwirtschaft zu arbeiten und viel Geld zu verdienen. Weder Moral noch Religion hemmten uns sonderlich. Musik, Tanz, Ficken bis zur Besinnunglosigkeit, das waren unsere Götzen. Wir brüsteten uns, die freiesten Menschen aller Zeiten zu sein.

(Hanif Kureishi. Intimacy. 1998.)


 


Donnerstag, 16. Februar 2006


{Das Wunder in der Petrischale}

Bakterien, Bakterien - die mag ich nicht entbehrien! So geht ein altes Medizinerlied.
In Zeiten wie diesen{tm} scheut mancher den Kontakt zu Keim & Co. Der Fotograf Edgar Lissel jedoch hat tobende Mikroben gebändigt und 2001 eine Vanitas-Serie mit lichtsensiblen Bakterien angefertigt. Vergängliches wie Obst und Tier bildete er so organisch nach. Das Raunen im Mikrokosmos, die Poesie des Szientismus.


 


Mittwoch, 15. Februar 2006


Mit Bang und Uffzen

Herr Mequito läßt mich meinen Ringelschal heute stolzer durch den Regen tragen. Der gute Mann liest, wie Herr Kid ein Nilreptil zum Elektrofachmarkt führte. Ich habe es noch nicht hören können, empfehle aber blind: BlogRead

Merci, Herr Mequito!

Nachtrag: Mittlerweile habe ich es gehört - wenn auch auf meinen Computerlautsprechern - und möchte Herrn Mequitos extrem inspirierte Tonschöpfung ausdrücklich empfehlen! (Gerade war der Sever etwas langsam, vermutlich weil sich derzeit unzählige enthemmt kreischende, minderjährige weibliche Mequito Hotel-Fans die Datei laden.)


 



Den Flug der Vögel lesen

Im Verkehrsfunk heute morgen bereits die erste Warnung. Ein toter Vogel liege auf der Autobahn. An der Ampel fährt ein Lastkraftwagen an mir vorbei. Firma Sowieso, Germany - Recycling.

Rückgewinnung ist zurecht ein ernstes Thema. Wir sind doch alle schon benutzt. In der Gartenzwergfabrik große Versammlung: Proaktiv werde nun mit uns gesprochen. Und das ganz konkret. Bei dem Wort "konkret" malt die Frau, die es sagt, mit den Händen Gänsefüße in die Luft.

Wie unvorsichtig. In Zeiten wie diesen. Ich schließe halb die Augen und sehe, wie sich flugs die Vogelgrippeviren im Konferenzraum verbreiten. Viele fühlen sich bereits verschnupft. Vielleicht eine proaktive Reaktion.


 


Dienstag, 14. Februar 2006


Schließ nicht die letzte Tür

Unsere Zweifel sind Verräter.
Wir verlieren durch sie oft Gutes,
das wir gewinnen könnten,
wenn sie uns nicht Angst machten,
den Versuch zu wagen.

(William Shakespeare)

Zweifel scheinen eine Saat, die langsam aufgeht und alles Jäten übersteht. Der fall from grace, der Verlust der Unschuld, lehrt (dem einen früher, anderen halt später): Ich bin nicht perfekt. Oder: Geduld ist endlich. Unbegrenzt fließen nur Gedanken und die Kunst. Hoffentlich. Mancher Morgen aber zeigt (im spiegelnden Bild des ersten Kaffees) am weißen Hemde plötzlich Blut. Ach, die frühe Milch des schwarzen Tages. Die Locke deines Haars... Ich kehre aus, und so nie wieder. Den Rücken gefüllt mit Zweifel, der Tag um Tag sich schwerer frißt.

Zaun um Zaun. Eingeschnürt zur Weide bis in die Eingeweide. Ich habe dir nie einen Rosenquarz versprochen, heißt es. Alle sieben Jahre, so sagt man, öffnet sich die Tür. Mit geschlossenen Augen oder offenen. Danach gilt das Geschenk nicht mehr, danach nur noch Bedingungen. Danach folgt nichts mehr.

Heute, ein Tag, an dem Postkarten und Blumensträuße regnen, aus Briefkästen quellen, bis sie wie eine eruptive zähe Masse die Bürgersteige überschwemmen, soll alles sein voll Glück und Dings. Ich geh' mit meinem Hammer raus auf den Kanal und zertrümmere das Eis. Denn das ist so meine Art.

Und dann pack ich diesen fetten Mond. Zerre ihn am Schopf, drücke sein käsiges Haupt unter das schwarze Wasser, dort, wo letzte Woche die Kinder spielten. Eine Ruhe ist!, schrei ich ihn an in meinem nachgeäfften Dorfakzent. Was wolltest du, du vollgefress'ner Sack voll Zweifel? Ich lass' ihn gurgeln und seine Grübelmasse spei'n. Bis er ermattet wie ein schrumpelnder Ballon zum brackigen Grunde treibt.

Violently happy. Ach. Und ach. 'Cos I love you. Ach. Und ach. But you're not here.


 


Montag, 13. Februar 2006


Everything That Creeps

Nur weil wir gerade von der ganz wunderbaren Elizabeth McGrath reden: Pulstreibende Freude im kleinen spinnwebverhangenen Haus, letzte Woche traf endlich ihr im Dezember erschienenes Buch ein. Everything That Creeps ist entzückend aufgemacht (allein der Vignetten-Ausschnitt im Deckel und die Goldprägung!) und gibt einen augenerweiternden Überblick über ihr bisheriges künstlerisches Schaffen: Puppen, Dioramen und Schauerkabinette.



Liz McGrath wird von ihrer Freundin und Kollegin Helen Garber wirklich charmant skizziert: Liz is almost legendary in the underground art scene: this absolutely beautiful woman who creates amazing art pieces, drinks like a sailor, fronted both the visceral punk rock band "Tongue" and her current project with her fiancé [Wer ist der Kerl? Ich fordere ihn sofort heraus...], writer Morgan Slade, "Miss Derringer".

Miss Derringer kann man hier bestaunen - der Name erinnert mich übrigens daran, daß eine gute Freundin ihr Blog "Frau Glock" nennen wollte. Schon das zeugt vom guten Geschmack beider Personen. Die Band jedenfalls ist großartig, die lasse ich auf meinem 38. Geburtstag spielen.

Im Buch signalisieren Kapitelüberschriften wie "Villains and Vermin of Dubious Nature": Hier ist der kleine Ausgestoßene in uns zu Hause. Ein Varieté beladener Gestalten, Insektoiden und Menschen wie du und ich - nur anders! Man kann gar nicht soviel Platz in die Regale bringen, wie man diesen Gefährten des Trübsinns Asyl schaffen möchte.

(Elizabeth McGrath. Everything That Creeps. Last Gasp, 2005.)


 


Samstag, 11. Februar 2006


Nachtschattengewächse

Sometimes I wonder
What goes on in your mind,
Always silent and kind
Unlike the others
Fuck the mothers kill the others
Fuck the others kill the mothers
I'll put it out of my mind because
I'm out of my mind with you
In heaven and hell with you

(Siouxsie and the Banshees, "Nightshift")


Berlin besuche ich nicht, ohne einen Koffer voll Erinnerung dort zu lassen (oder das letzte Hemd). Am Dienstag gab es die erste Vernissage in den neuen Räumen der Strychnin Galerie. Yasha Young hatte geladen und präsentierte eine illustre Auswahl von Künstlern des Bittersüßen: Elizabeth McGrath, Großmeisterin der bizarren Puppenstube, Misery, subversive Botschafterin der bittermandeligen Melancholie der Ausgestoßenen, Mateo, kalifornischer Trickster der Low-brow Art, Laura Satana, Pop-art Voodoo-Tattooistin, und andere zeigen Variationen des Morbiden, Entrückten, Skurrilen und Grotesken, daß man denkt, man sei im Wohnzimmer von Tim Burton gelandet.



Die erweiterten Galerieräume in der Boxhagener Str. bieten endlich großzügigen Platz für böse, kleine Kunst. Grause Gemälde und grimme Skulpturen, wohl dem, der sich diese Nacht noch schützend flüchten kann. Absinthverstürzte Gedankenwelten, grimassenschneidende Enfants terribles, schrecklich schröcklich und immer am Herzen reibend, wie eine kalte Hand voll Sandpapier.



Puppen, nachtmahrige Augensterne und Bilder mit der sanften Melancholie eines vergessenen bunten Balls auf einem verregneten Kinderspielplatz. Man sollte nicht allein dorthin gehen, besser Hand in Hand. Und mit der anderen Hand: Steckt Geld ein. Denn Kunst kann man auch kaufen!

("Nachtschattengewächs", noch bis zum 10. März in der Strychnin Galerie, Berlin.)


 


Freitag, 10. Februar 2006


Der gefundene Satz, 27

Jedesmal machte es ihm weniger Kummer, diese Küsse verloren zu haben und diese endlosen Stunden und diese Düfte, die ihm einst Entzücken gewesen. Daß er weniger litt, machte ihn leiden, und dann verschwand selbst dieses Leiden. Und dann waren alle Leiden fort, die Freuden mußte er nicht vertreiben, denn sie waren lange schon, ohne ihr Haupt zu wenden, auf geflügelten Sohlen entflohen, blühende Zweige in der Hand; sie waren von dieser Behausung gegangen, die nicht mehr jung genug war für sie. Und dann starb er wie alle Menschen.

(Marcel Proust, "Tage der Freuden". 1896.)