
Dienstag, 14. Februar 2006
Wir verlieren durch sie oft Gutes,
das wir gewinnen könnten,
wenn sie uns nicht Angst machten,
den Versuch zu wagen.
(William Shakespeare)
Zweifel scheinen eine Saat, die langsam aufgeht und alles Jäten übersteht. Der fall from grace, der Verlust der Unschuld, lehrt (dem einen früher, anderen halt später): Ich bin nicht perfekt. Oder: Geduld ist endlich. Unbegrenzt fließen nur Gedanken und die Kunst. Hoffentlich. Mancher Morgen aber zeigt (im spiegelnden Bild des ersten Kaffees) am weißen Hemde plötzlich Blut. Ach, die frühe Milch des schwarzen Tages. Die Locke deines Haars... Ich kehre aus, und so nie wieder. Den Rücken gefüllt mit Zweifel, der Tag um Tag sich schwerer frißt.
Zaun um Zaun. Eingeschnürt zur Weide bis in die Eingeweide. Ich habe dir nie einen Rosenquarz versprochen, heißt es. Alle sieben Jahre, so sagt man, öffnet sich die Tür. Mit geschlossenen Augen oder offenen. Danach gilt das Geschenk nicht mehr, danach nur noch Bedingungen. Danach folgt nichts mehr.
Heute, ein Tag, an dem Postkarten und Blumensträuße regnen, aus Briefkästen quellen, bis sie wie eine eruptive zähe Masse die Bürgersteige überschwemmen, soll alles sein voll Glück und Dings. Ich geh' mit meinem Hammer raus auf den Kanal und zertrümmere das Eis. Denn das ist so meine Art.
Und dann pack ich diesen fetten Mond. Zerre ihn am Schopf, drücke sein käsiges Haupt unter das schwarze Wasser, dort, wo letzte Woche die Kinder spielten. Eine Ruhe ist!, schrei ich ihn an in meinem nachgeäfften Dorfakzent. Was wolltest du, du vollgefress'ner Sack voll Zweifel? Ich lass' ihn gurgeln und seine Grübelmasse spei'n. Bis er ermattet wie ein schrumpelnder Ballon zum brackigen Grunde treibt.
Violently happy. Ach. Und ach. 'Cos I love you. Ach. Und ach. But you're not here.

Montag, 13. Februar 2006
Nur weil wir gerade von der ganz wunderbaren Elizabeth McGrath reden: Pulstreibende Freude im kleinen spinnwebverhangenen Haus, letzte Woche traf endlich ihr im Dezember erschienenes Buch ein. Everything That Creeps ist entzückend aufgemacht (allein der Vignetten-Ausschnitt im Deckel und die Goldprägung!) und gibt einen augenerweiternden Überblick über ihr bisheriges künstlerisches Schaffen: Puppen, Dioramen und Schauerkabinette.
Liz McGrath wird von ihrer Freundin und Kollegin Helen Garber wirklich charmant skizziert: Liz is almost legendary in the underground art scene: this absolutely beautiful woman who creates amazing art pieces, drinks like a sailor, fronted both the visceral punk rock band "Tongue" and her current project with her fiancé [Wer ist der Kerl? Ich fordere ihn sofort heraus...], writer Morgan Slade, "Miss Derringer".
Miss Derringer kann man hier bestaunen - der Name erinnert mich übrigens daran, daß eine gute Freundin ihr Blog "Frau Glock" nennen wollte. Schon das zeugt vom guten Geschmack beider Personen. Die Band jedenfalls ist großartig, die lasse ich auf meinem 38. Geburtstag spielen.
Im Buch signalisieren Kapitelüberschriften wie "Villains and Vermin of Dubious Nature": Hier ist der kleine Ausgestoßene in uns zu Hause. Ein Varieté beladener Gestalten, Insektoiden und Menschen wie du und ich - nur anders! Man kann gar nicht soviel Platz in die Regale bringen, wie man diesen Gefährten des Trübsinns Asyl schaffen möchte.
(Elizabeth McGrath. Everything That Creeps. Last Gasp, 2005.)

Samstag, 11. Februar 2006
What goes on in your mind,
Always silent and kind
Unlike the others
Fuck the mothers kill the others
Fuck the others kill the mothers
I'll put it out of my mind because
I'm out of my mind with you
In heaven and hell with you
(Siouxsie and the Banshees, "Nightshift")

Berlin besuche ich nicht, ohne einen Koffer voll Erinnerung dort zu lassen (oder das letzte Hemd). Am Dienstag gab es die erste Vernissage in den neuen Räumen der Strychnin Galerie. Yasha Young hatte geladen und präsentierte eine illustre Auswahl von Künstlern des Bittersüßen: Elizabeth McGrath, Großmeisterin der bizarren Puppenstube, Misery, subversive Botschafterin der bittermandeligen Melancholie der Ausgestoßenen, Mateo, kalifornischer Trickster der Low-brow Art, Laura Satana, Pop-art Voodoo-Tattooistin, und andere zeigen Variationen des Morbiden, Entrückten, Skurrilen und Grotesken, daß man denkt, man sei im Wohnzimmer von Tim Burton gelandet.
Die erweiterten Galerieräume in der Boxhagener Str. bieten endlich großzügigen Platz für böse, kleine Kunst. Grause Gemälde und grimme Skulpturen, wohl dem, der sich diese Nacht noch schützend flüchten kann. Absinthverstürzte Gedankenwelten, grimassenschneidende Enfants terribles, schrecklich schröcklich und immer am Herzen reibend, wie eine kalte Hand voll Sandpapier.
Puppen, nachtmahrige Augensterne und Bilder mit der sanften Melancholie eines vergessenen bunten Balls auf einem verregneten Kinderspielplatz. Man sollte nicht allein dorthin gehen, besser Hand in Hand. Und mit der anderen Hand: Steckt Geld ein. Denn Kunst kann man auch kaufen!
("Nachtschattengewächs", noch bis zum 10. März in der Strychnin Galerie, Berlin.)

Freitag, 10. Februar 2006
Jedesmal machte es ihm weniger Kummer, diese Küsse verloren zu haben und diese endlosen Stunden und diese Düfte, die ihm einst Entzücken gewesen. Daß er weniger litt, machte ihn leiden, und dann verschwand selbst dieses Leiden. Und dann waren alle Leiden fort, die Freuden mußte er nicht vertreiben, denn sie waren lange schon, ohne ihr Haupt zu wenden, auf geflügelten Sohlen entflohen, blühende Zweige in der Hand; sie waren von dieser Behausung gegangen, die nicht mehr jung genug war für sie. Und dann starb er wie alle Menschen.
(Marcel Proust, "Tage der Freuden". 1896.)

Mittwoch, 8. Februar 2006
So. Nun mal wieder die Krawatte geradegezurrt und mit ordentlich Spucke die Haare gerichtet. Herr Kid erzählt jetzt einen Film. Horcht fein zu, Kulturprogramm!
Einer meiner Lieblingsfilme nämlich ist zugleich ein frühvollendetes Meisterwerk eines Meisterregisseurs: La Strada (1954). Das bewegende (haha, "Straße" = "bewegend", got it?) Drama von Frederico Fellini erzählt die Geschichte vom armen Zampano. Der verdient sich sein Geld auf schweißtreibende Art als Eisenbieger und ist gezwungen auf Rente, Heim und Vorgarten zu verzichten: Er zieht mit dem Zirkus umher, sprengt auf dem Jahrmarkt die Ketten und ist auch ansonsten recht unverbunden.
Was ihm nämlich fehlt, ist eine Frau, denn es ist nicht gut, daß der Mensch alleine usw. Leider ist unser guter Zampano von der vielen Metallarbeit etwas gratig geworden. So kommt es, daß Gelsomina, die er aus desolaten Zuständen zu sich holt (denn er ist ein guter Mensch!), ihm nicht auf Anhieb alles recht macht. Nicht leicht hat er's, der Zampano! Aber so wie er geduldig Kettenglied um Kettenglied mit der Kraft seiner Muskeln sprengt, übt er im Stillen Nachsicht und denkt, sie wird's schon lernen, die Gelsomina. Braucht halt alles seine Zeit.
Ha! Das dumme Ding trietzt unseren armen Helden, wo es nur kann, und macht ihm das Leben eisenschwer. Statt eifrig zu lernen, kommt es wie es oft so kommt: Gelsomina fällt auf einen echten Possenspieler, einen Seiltänzer nämlich, herein und läßt sich von diesem Musterbild eines Windbeutels und Scharlatans ordentlich betören.
Klar, daß selbst ein großherziger Mensch wie Zampano vor soviel Undank ein wenig pampig wird und den Schaumschläger zur Rede stellt. Wer mag es schon, wenn sich Fremde derart ins Private mischen? Eben.
Der Seiltänzer aber ist eher so ein Weichei, fällt vom kleinen Schubs gleich um und markiert den sterbenden Schwan. Das wirft leider ein klein wenig ein schlechtes Licht auf unseren etwas grobmotorischen Zampano. Nicht nur das: Gelsomina spielt einfach krank und setzt sich sozusagen ab!
Am Ende (ich spule jetzt mal vor) irrt der arme Zampano hilflos wie das kleine Kind, das er ist, am Strand herum und ruft "Die Hölle, das sind doch die anderen!" (Daher das berühmte Zitat.) Er hat da echt so was von keinen Bock mehr auf soviel Ungerechtigkeit und Zuneigungsferne in der Welt, daß er bitterlich zu weinen beginnt.
Fazit (kann man so übernehmen für den Schulaufsatz): Zampano, der moderne Märtyrer, ein Aufklärer und Lichtbringer, bleibt zutiefst unverstanden und wird - ein Unbehauster! - von der menschlichen Gesellschaft in die Einsamkeit gedrängt.
Heute könnte er über sein Leid bloggen, aber das konnte Fellini (auch schon tot) nicht ahnen.

Dienstag, 7. Februar 2006
Der Dom ist weiträumig abgesperrt, und auch der flehentliche Appell "Ich bin Blogger, bitte lassen Sie mich durch" bringt kein Erweichen in die grimmigen Gesichter hinter dem rotweißen Gitter. Dabei sind noch Plätze frei, wie der Blick ins Fernsehen beweist. (Interessant, wenn man zwischen Erstem und Zweiten hin- und herschaltet. Beide senden live, aber um fünf Sekunden zeitversetzt. Man möchte darüber denken, was Unmittelbarkeit wohl heißt.)
Die Rede vom Weggefährten rückt gerade, was manche nur bespötteln. Meist die, für die alles nur noch Pose ist. Der andere Weggefährte, selbst gezeichnet, döst. Kein Grund, wie ich meine, solche Bilder auszuschlachten.
Am Ende ein interessantes Bild: im Hintergrund die bronzene Haut vom Palast. Heute ruhen die Abrißarbeiten. Davor, die Stufen der Treppe hinab, langsam der Sarg, darauf die Fahne. Da gehen sie, die letzten Vertreter der alten Republik.

Sonntag, 5. Februar 2006
Gerade gefunden in einer alten Ausgabe (1955) von Marcel Proust, Tage der Freuden, die ich offensichtlich 1984 antiquarisch erwarb - und noch offensichtlicher nie gelesen habe.
Dieser kleine, mittlerweile vergilbte, nichtsdestotrotz lockende Werbezettel markierte das Kapitel XVIII: Gestade des Vergessens, dessen erster Satz lautet: "Man sagt, der Tod verschöne seine Opfer, er hebe ihre Tugenden ins Licht, aber oft ist es nur das Leben, das sie in den Schatten gestellt hat."
Wenig nur scheint mir die südamerikanische Extase, die in dieser modernen Tanzgaststätte geboten wird, zu den Worten Prousts voll "Schwermut und Trauer" zu passen (wohl ein Grund, weshalb ich mir das schmale Bändchen kaufte).
Denn wenn in den herrlichen Räumen im Casino Bad Harzburg Deutschlands Jazz-Geiger Nr. 1 aufspielt und zu deutschen und chinesischen Speisen (1955, sieh an!) gute Unterhaltung bietet - wo bleibt da noch Platz für Schwermut?
Mein Vater hatte recht.
