Dienstag, 8. März 2005


Im Winter mußt du in den Harz

"Eigentlich wollten wir Kollegen K. für den Job, aber nun nehmen wir auch dich. Also, äh, gerne auch dich." Die Abteilungsleitung verplapperte sich heute. Das paßte gut zum Spiel beim Mann mit dem Geldsack, der die Leute shanghait und bezahlt. "Jeder ist ersetzbar - auch du. Ich selbst natürlich auch, haha." Draußen gäbe es 5,2 Millionen, die würden das gerne machen, was ich mache. "Man kommt sich da natürlich erpresst vor, ich weiß." Ich weiß es auch. Man kommt mit dem Betriebsrat. Die Entlassungen gerade, du verstehst. "Der fragt sich, warum ich mich nicht einklage", antworte ich ruhig. "Oh. Nun ja..." Dann kommt das Lied, Wenn ich könnte, wie ich wollte... und ich halte mir innerlich die Ohren zu. Als er bei Ich hoffe, du nimmst es nicht persönlich ankommt, fahre ich dazwischen.
"Ich persönlich muß sehen, wie es weitergeht. Offenbar geht es das nicht."
Ich fasse die Fakten zusammen. Ich trage mehr Verantwortung, das werde aber nicht honoriert. "Wir sind dir ja auch sehr dankbar...", sagt er. Ich freue mich. "Aber es gibt ja auch keine Alternative in der heutigen Zeit. Oder gibt es eine?" Ich lächle ihn an mit meinem süßen Lächeln. "Du", werde ich vertraulich, "es gibt immer eine Alternative." Er schaut skeptisch. "Herr Sakanachan hält einen Platz auf der Parkbank für mich frei. Aber da muß ich mich bald entscheiden, denn in Zeiten wie diesen, sind auch diese Stellen sehr beliebt."
Ich erkläre, daß ich keinen alten Bauernhof in Mecklenburg finanzieren und auch keinen kleinen Kindern Winterschuhe kaufen muß. Daß ich dies oft bedauerte, aber daß dies auch meine Freiheit bedeute. Er will mir ein Buch über einen Amokläufer leihen, das er gerade liest. Ich bedanke mich.

Ich merke immer wieder, daß ich irgendwie nicht gut genug bin für diese Fabrik. Immer nur bin ich Ersatz, denke ich und gehe die Alternativen durch. Ziegenzüchten in der Steiermark, das wäre was. Oder Fotograf für das Crack Whore Magazine. Manchmal denke ich, wenn es eh keine Perspektive gibt, warum nicht eigene Gartenzwerge entwerfen, anstatt die von anderen Leuten bemalen? Na ja, erstmal wie immer. Erstmal weitermachen. Ich habe jetzt Physiotherapie. Gegen den krummen Rücken.


 


Sonntag, 6. März 2005


Exorcism of the Last Painting I ever made

Naked, save for a thin gold chain around her neck, constantly available for public scrutiny [...] through sixteen fish-eye lenses set into the walls of the space
she occupied, Tracey Emin spent three weeks of February 1996 cloistered within
a studio-cum-living space[...].
(Chris Townsend, "Heart of Glass". In: Merck/Townsend (Hrsg.). The Art of Tracey Emin. London, 2002.)

Die britische Künstlerin Tracey Emin sollte ein Blog führen. "I always say if I didn’t make art, I’d probably be dead", sagte sie einmal. Welcher Jammerblogger kennt das nicht. Auch spektakuläre Ausbrüche unter Alkoholeinfluß lassen in mir eine bekanntlich selten gezupfte Saite klingen.

In der Austellung Emotion konnte ich einmal hineinlugen in das berühmte bestickte Zelt. Der Titel dieses Objekts Everyone I Have Ever Slept With 1963-95 (1995) wird ja häufig mit "Alle meine Liebhaber" falsch übersetzt. Dabei ist (oder "war" muß man besser sagen, denn das Zelt wurde beim Brand der Sammlung Saatchi vernichtet) dies ein ganz unschuldiges Werk in der Tradition der Inventarlisten des American Journals. Sicher sind alle ihre Liebhaber dort verzeichnet, aber auch der Name ihrer Mutter und die ihrer abgetriebenen Feten. Schlafen, das Bett oder Zelt teilen ohne übertragenen, romantischen Überbau, sondern als nüchterner, emotionsloser Tätigkeitsbegriff.

Was mich an Tracey Emin anrührt, ist ihre Rücksichtslosigkeit. Schonungslos steht sie Ihrem Publikum gegenüber (das nicht gerufen wurde, sondern sie gefunden hat) - sich selber aber auch. Bis hin zur unerträglichen Albernheit und Selbstentblödung. Auch das kennen wir vom Bloggen, das Selbst-Referentielle, das Selbst-Vergewissernde. Die Aufmerksamkeit, die Tracey Emin "genießt", ist eine Mischung aus Neugierde, Voyeurismus und Projektion und Selbst(be-) spiegelung. Dabei streift der Schmerz des sich selbst sezierenden Künstlers den des sich selbst erkennenden Betrachters - und landet häufig genug im Treibgut des Banalen: "Ist es von Woolworth (3,99) oder ein echter Emin (1000,-)?" fragt ein bekannter Kunst-Cartoon und zeigt eine getragene Unterhose.

Lebst du noch oder bloggst du schon? könnte man den Verständnislosen entgegenhalten. (Selbst-)Entblößung, Grenzerforschung, Bloggen als Kontaktanzeige - manchen Traditionalisten möchte man gleich Emin ihrem Malerfreund Billy Childish entgegenrufen:
"You are stuck! Stuck! Stuck!" (Der, ebenfalls nicht auf den Kopf gefallen, sogleich die Bewegung der "Stuckisten" ins Leben rief.) Emins Karte im durchaus satirischen Künstlerquartett liest sich jedenfalls wie ein Blogmanifest.


 


Freitag, 4. März 2005


Mit toten Tieren durch das Jahr

In der beliebten Reihe Mit toten Tieren durch das Jahr (siehe auch hier und hier) kommen wir heute zu der Saatkrähe (Corvus frugileus).

Dieses hübsche, aber blau- und steifgefrorene Exemplar begegnete mir heute in der Mittagspause. Vögel gehören bekanntlich auf den Baum, liegen sie einem zu Füßen, ist meistens was kaputt.
Leider hatte ich keine Tüte oder ein Gefäß dabei und einfach so auf die leichte Schulter wollte ich das arme Tier auch nicht nehmen, denn auf die leichte Schulter kommt bei mir nichts so schnell. Die Kollegen haben mir auch verboten, meine Funde im Kühlschrank der Fabrik zwischenzulagern. (Das waren natürlich die "harten" Gesellen aus der Splatter-Gartenzwergabteilung, mir so rechte Wichte, die immer von Mord und Toschlag hinterm Gartenzaun fantasieren, aber einknicken, sobald das wahre Leben seinen Schnabel zum Fenster hereinhält.)

Normalerweise nehme ich solche guterhaltenen Exemplare mit nach Haus. Der Gesellschaft wegen, aber auch um zu schauen, ob man noch etwas reparieren kann. Vielleicht fehlt ja nur eine Kleinigkeit, winselten die Kunden nämlich früher, als ich noch im Werkstattbereich eines Rundfunk- und Fernsehgeschäfts aushilfsarbeitete. Mir ist da bislang nicht viel geglückt, auch wenn ich zu den Menschen gehöre, die einfach nicht einsehen wollen, daß eine Sache tot ist, wenn es heißt, "du, ich möchte dich lieber nicht mehr sehen, glaube ich, und außerdem ist da jetzt der Mike (oder Sven oder Piet oder Falk oder Rico)."

Dieser forsche Rabenvogel hätte sich bestimmt auch in meinem Reliquienschrein mit Bloggerzähnen gut gemacht. Nun, dann beim nächsten Mal. Jedenfalls sollten wir auch dieses Memento mori zum Beginn des Wochenendes im Geist und im Herzen bewahren. Seid nett zueinander. Es könnte das letzte Mal sein.


 


Mittwoch, 2. März 2005


And the Winner is...


Hinter diesem schönen Ohr steckt es faustdick

Am Wochenende schleppte mich die spektakuläre Frau in die Hamburger Kammerspiele. Dort fiel nämlich der letzte Vorhang für "Live!" - gespielte Werbespots auf den Brettern, die immer noch die Welt bedeuten. Ob Focus, McDonald's oder Sparda-Bank, bekannte TV-Spots bewiesen erstmals ihre Bühnentauglichkeit. Mein Favorit: Der subtil selbst-persiflierende Perwoll-Spot ("Mit einer Flasche Weichspüler auf 'ner Vernissage? Alles klar." - "Darüber wundert sich doch heutzutage keiner mehr.")

Ein wenig spröde moderiert von uns Ulla Kock-am-Beee gab es einen munteren Reigen mehr oder weniger gut inszenierter Mini-Stücke. Fast Beckett'sche Qualitäten erreichten dabei die stummen Kühe von Wüstenrot. Die kamen aber beim unterhaltungshungrigen Publikum nicht so gut an. Kinder auf der Bühne reißen ja immer was, so daß der VW- Direktgetriebe-Spot einige Elternherzen höher und -hände lauter klatschen ließ.

Wer weiß, vielleicht wird man so etwas bald öfter sehen. Ein gespielter Werbespot in der Umbaupause von "Macbeth". Für Küchentücher zum Beispiel.

(Bilder im Kommentar)


 


Dienstag, 1. März 2005


Do the Bambi

Nur die, die mit uns Liebe machen
Sehen ES in der Iris unserer Augen

(Stereo Total, "Mars Rendezvous")


Beim Stöbern in der CD-Abteilung (Hm, wo ist die Kaizer's Orchestra? Hm, die neue Patrick Wolf? Kann ich auch gleich Morrissey hören.) fehlten meine beiden Zielobjekte, aber zum Glück fiel mir die neue Stereo Total in die Finger. Ein bißchen älter geworden, ein bißchen nachdenklicher schaut mein Lieblingspaar des Pop-Punk-Chansons vom Cover. (Es gibt das Album übrigens auch in einer rein französischen Fassung.) Coverten sie früher Gainsbourg, sind es jetzt Velvet Underground ("Chelsea Girls"). Geschichten von gefolterten Partymädchen, Kids vom Babystrich (das böse Berlin), Hunger und dem neurotischen Europa spiegeln unsere unbloggbare Gesamtsituation:
Das Un- oder Halbbeschwerte ist vorbei.

Hier ist heute die Heizung ausgefallen. Das kommt noch dazu.

Radau | von kid37 um 19:44h | 12 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 



Wir stechen in See!

Herr LeTeil hat was eingeworfen träumt einen schönen Traum, mit Musik, Tanz, Geraufe und tollen Piratenbräuten. Ganz nach meinem Geschmack.

Tentakel | von kid37 um 01:34h | 6 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Montag, 28. Februar 2005


Teenage Lobotomy

"Das betäuben wir lokal?" fragt sie. "Besser wäre es wohl oder schlagen Sie eine Alternative vor?" - "Wir haben noch einen Hammer für schwierige Fälle." - "Den kenne ich schon von daheim", behaupte ich und tue so, als würde sich dort jemand um mich kümmern.
"Der wirkt bestimmt bei mir nicht mehr, daran bin ich gewöhnt." Sie lacht und strahlt mich mit ihren blauen Augen an. Sie weiß, gleich werde ich kein dummes Zeug mehr reden können. Der Doktor schweigt. Ich weiß, er sehnt sich nach einer Zigarette. Dann legt sie mir das Tuch über das Gesicht, und ich höre für eine geraume Weile nur noch das Geräusch des Bohrers in meinem Kopf.

Wozu habe ich einen Dremel, denke ich und merke, das irgendetwas mit meinem Kreislauf ist. Das Adrenalin aus der Betäubungsspritze wirkt. Mit vielem Zubehör und - am Allerwichtigsten - einer biegsamen Welle. Die kann man für alles gebrauchen. Aber heute morgen lag überall Schnee, eine frische, blütenweiße Decke, und meine Finger waren klamm.

Als sie mir Tuch wieder wegzieht, streicht sie mir mit einer beinahe zärtlichen Geste eine Strähne verschwitzten Haars aus der Stirn. Dann setzt sie mir fürsorglich die Brille auf. Ich kann wieder ihre Augen sehen. "Wie kommen Sie denn jetzt heim?" fragt sie. "Ich nehme mir ein Taxi", lüge ich.

Auf der Treppe denke ich, vielleicht sollte ich wirklich mal eins nehmen. Aber dann nimmt man mir in der Apotheke 35,- Euro für Antibiotika und Schmerzmittel ab, von denen ich zuhause selbst genug habe. Bleibt es also doch bei der U-Bahn. Als ich die Ohrhörer einsetzen will, merke ich, daß ich kein linkes Ohr mehr habe. Irgendwie bekomme ich aber doch den kleinen Knopf in dieses Loch an der Seite meines Kopf gestopft. Autolux, "Here Comes Everybody" oder Xiu Xiu, "Crank Heart". Irgendetwas.

Draußen liegt Schnee. Er sieht gar nicht mehr so weiß und unberührt aus. Auf meinem Gesicht liegt eine Kühlkompresse. Ich wünschte, es wären die kühlen zarten Hände der OP-Schwester. Vorsichtig taste ich mit dem, was mal meine Zunge war, nach der Schraube in meinem Mund.


 


Sonntag, 27. Februar 2005


Jeder nur einen tüchtigen Schluck!

Angesichts des Winterwetters draußen all überall, gibt es Gelegenheit, die alten unschuldigen Kinderfreuden noch einmal auszuprobieren.

Tentakel | von kid37 um 23:33h | 8 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 



We are already in hell

Mit Strindberg im Park. (via Wurzeltod, woher sonst.)

Haha, noch besser: Mein Name ist Kid. Kid37. Von gestern abend, sozusagen.

Und am Ende gibt es, wenn man Glück hat, einen Muffin.

Sehr!


 



1. Bloggebot

Ich habe irgendwann einmal beschlossen, nachts (und mit einem gewissen Promillewert) nicht mehr öffentlich zu schreiben. (via Evasive)

Tentakel | von kid37 um 14:44h | 6 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 



Das eine ist nicht wie das andere

I've never done good things
I've never done bad things
I never did anything out of the blue

(David Bowie, "Ashes to Ashes")

"Und dann hast du mich mit meinem neuen Freund auf der Straße getroffen, Gott, war das peinlich." - "Ja, das lief wohl zwei, drei Wochen parallel..." "Höchstens eine Woche! Und außerdem hatte ich mich da sowieso nicht gemeldet." Sie strahlt mich an mit ihrem entwaffnendem Lächeln und ich strahle zurück, und ich weiß, in diesem Moment sind wir uns sehr nah, und ich weiß, ich mag sie wirklich sehr, sehr gern. "Gab es da nicht noch so ein Gerangel zwischen euch Typen?" Haha. Wir lachen, schwelgen in Erinnerungen.
Wie lange ist das her? 15 Jahre? Wir zucken mit den Achseln.

Und dann so viele Gedanken. Ashes to Ashes. Damals, kaltes Licht der Frühe. Man kehrte heim aus der Nacht, entlang endloser S-Bahn-Gleise, durch die dunklen Wuppertaler Treppenstiegen und Unterführungen. Blaues Licht in den Discos und die kalte Musik. Und einmal, Silvester, auf so einer Hippieparty, zogen sich plötzlich die Mädchen aus und tanzten, und ich weiß, ich fand das damals sehr bizarr, ich war so 17, 18, und eine fremde, extraterrestrische Welt, the shrieking of nothing is killing/just pictures of jap girls in synthesis.

Und dann, zwanzig Jahre später, ein Silvester, verließ meine Freundin um Viertel vor Zwölf das Haus, keine Minute früher. Und zog sich später wohl aus, auf irgendeiner Hippieparty, keine Ahnung, ich war ja nicht dabei, aber ich weiß, ich fand das sehr bizarr und extraterrestrisch. Und es war auch nicht so ganz schön, daß Tage später ihr Name rund um unser Haus und an die S-Bahnstation gesprüht war, mit Herzen drumherum und Initialen, die ich nicht kannte. They got a message from the action man/I'm happy, hope you're happy too. Und ich habe, glaube ich, ein wenig geschrien. Ist ja schon was her.

Dann am Hafen entlangfahren, durch das kalte, gefrorene Licht. Manchmal ist es einsam, und im Player singt David Bowie want an axe to break the ice/want to come down right now, und ich ahne, dieses Eis bricht keiner mehr.

Was danach besprochen wurde, war bloßes Entgegenkommen, eigentlich nicht die Spucke wert. Heute weiß ich, dieses Silvester war nur der Auftakt, das nächste Mal wurde höchstens wilder. Heimlich war sie stolz, exaltiert, berauscht. Heute weiß ich, daß sie wie ein Junkie nur noch die Droge sah. Daran schmerzt heute nur eins: die endgültige Desillusionierung. Strung out on heaven's high/hitting an all time low.

Das sind Geschichten anderer Menschen. Denn meine eigene werde ich nicht mehr erzählen. Genau drei Menschen wissen davon. Dieser Freundin erzählte ich sie auch, damals nach diesem Silvester. Sie hat sie kurz darauf vergessen. "Erzähl es halt noch mal", meinte sie, eher genervt. Und strahlte mich nicht an mit einem entwaffendem Lächeln, auf eine Art, die Entschuldigungen überflüssig macht, weil die implizit sind und weil darin eine Wärme liegt, in der man sich geborgen fühlt. In ihrem Blick lag nur das Achselzucken des Junkies, der sich nach dem nächsten Schuß sehnt. One flash of light, but no smoking pistol.

Zu Hause wartet eine eMail. "Herr Kid, Sie haben schon soviel Zeit verschwendet. Verschwenden Sie nicht noch sich." Ich zucke mit den Achseln.