Sonntag, 19. Dezember 2004
Sometimes, I feel I gotta get away
Bells chime, I know I gotta get away
And I know if I don't, I'll go out of my mind
Better leave her behind with the kids, they're alright
(The Who, "The Kids Are Alright")
Als ich noch jünger und energetischer war, fühlte ich mich wie The Who in den mittleren 60ern. Ich besaß zwar keine Vespa oder Lambretta, sondern nur ein Hollandrad, dafür konnte ich aber Luftgitarre spielen wie Pete Townshend. Ich schredderte auch keine Marshall- oder Orangeboxen kaputt, dafür aber die ein oder andere Hängelampe. Große Teenage-Revolution!
Lärm, Feedback und Aufbegehren! Bleichgesichtig, hypernervös und kurzhaarig in der Schule sitzen, während den Pink-Floyd-Fans um mich herum das Öl aus den schmantigen Spaghettizotteln tropfte. Sich natürlich unendlich überlegen fühlen. Und allein. Große Sache. Lange her. Jetzt nur noch allein. Egal.
Entzückt war ich daher, die "Tales of Townshend and Wilson" zu entdecken. (via MP3/Antville):
The Who Boys stricken ein wüstes D'n'B-Gemisch aus zwei der einflußreichsten Bands der 60er zusammen. Unter dem Motto: Come on, children of the apocalypse! Join in the destruction! This is the end of the world! gibt es jede Menge freie Downloads auf der Seite.
Anspieltips: Feedback & Destruction und Magic In My Eyes.
Freitag, 17. Dezember 2004
Meine Stimmung schwankt seit ein paar Tagen zwischen, sagen wir mal, Robbie Williams und, sagen wir mal, GBH. Deshalb höre ich lieber Nouvelle Vague, da ist alles drin, aber von allem weniger. Gut, GBH vielleicht nicht. Aber dafür Dead Kennedys und vor allem The Clash ("Guns Of Brixton"). Joy Division auch, XTC, Undertones (natürlich "Teenage Kicks", das nehme ich noch mal als Tribut für John Peel), The Cure... und noch so'n paar.
Das ganze Bossanova-Style, große Sache. Grande. Paßt alles gut, denn ich bin ein wenig Außer Atem diese Tage. Le Fou-mäßig, bißchen draußen von allen und allem. Am liebsten wäre ich allerdings Der Eiskalte Engel, denn ich habe noch ein paar auf der Liste.
Im Plus-Geschäft
Mit meiner Lebenspfandflasche
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"Und eine neue, bitte."
Mittwoch, 15. Dezember 2004
Berlin empfängt mich mit der knackigen Kälte eines in massige Häuserschluchten gefangenen Kontinentalklimas. Am Bahnhof Zoo wechsel ich in ein schnelleres Auto, an dem zwei Reifen just am Morgen noch aufgestochen wurden (nü, das ist Berlin). Die jüngere Kollegin holt mich ab. Wir kennen uns nicht wirklich und machen Smalltalk, während Blutengel aus den Lautsprechern sickert. Sie kommt aus dem rauhen Osten und erzählt ein paar noch rauhere Geschichten, während sie sich nu aber icke an verhuschten Kleinwagenfahrerinnen auf dem nachgerade überschmückten Ku'damm vorbeidrängt. Ich taste nach dem Haltegriff der Beifahrertüre.
"Nü, dann hup' halt!" grient sie ungerührt, als sich auf der Stadtautobahn drohend ein Tanklaster am Heckfenster aufbaut. "Hier ist 60, ich fahr doch schon 100", schüttelt sie den Kopf. Ich fische nach meiner Reisetablette.
"... fährt der Typ meine Katze tot!" dringt plötzlich an mein Ohr.
"Ist ja frech", antworte ich geistesabwesend.
"Nü, hatte der aber sonne gebrochene Nase", ruft sie fröhlich.
"Nü? Äh, wie jetzt?"
"Na, icke zu dem hin, feixt der mich an und sagt, er hätt' es mit Absicht getan."
"Unverschämter Kerl!"
"Nü. Hab' ich halt rot gesehen. Hatte der meine Faust im Gesicht."
"Du bist anscheinend recht impulsiv."
"Na ja", fügt sie nach einer kleinen Pause nachdenklich hinzu. "Ich hab mittlerweile einiges gelernt..." - wohlwollend blicke ich zu ihr rüber - "... wie man Menschen wehtut."
Ich sage nichts und überprüfe nervös, ob es noch ein Mobilfunknetz gibt. Wir sind jetzt weit außerhalb Berlins, fahren durch ein stockdunkles Wäldchen. "Gestern war hier ein schwerer Wildunfall. Sah häßlich aus", erzählt sie.
Es gibt kein Mobilfunknetz.
Schließlich sind wir da, ein rustikales Wochenendhäuschen irgendwo an einem Spreeseitenkanal. Eine Hölle aus dunkelgebeiztem Holz, Kuckucksuhren und ererbten Möbeln. "Wie ich immer sage, hier hört einen keiner schreien, haha. Du hast hoffentlich keine Angst," fragt sie und schaut mich auf einmal an.
"Nein", lüge ich. "Ich mache mir nur Sorgen um meine Nase, haha." Es ist eisig kalt. Fröstelnd klappe ich den Mantelkragen hoch und versuche, die Dunkelheit mit meinen Blicken zu durchdringen. Irgendwo dahinten liegt der Bootssteg. "Nachts schleicht hier einer ums Haus. Der hat mir auch die Reifen zerstochen. Was bin ich froh, daß ich heute nicht alleine hier schlafen muß!" Aufmunternd schaut sie mich an. "Ich brech dem die Nase", beruhige ich sie und huste, weil meine Stimme nach oben gerutscht war.
Nach überstandener Nacht in einem eiskalten Bett erledigte ich schnell noch das Pflichtprogramm. Russische Avantgarde im Gropius-Bau, Topographie des Terrors, dann eine kleine interessante Schau von biologischen Modellen an der Humboldt-Universität. Überdimensionierte Kartoffelkäferlarven (die amerikanische Krankheit, man erinnert sich) und Glasmodelle von filigranem Tiefseeweichgetier. Hübsch und zerbrechlich. So war meine Kollegin auch.
Montag, 13. Dezember 2004
Noch lacht ihr und wißt nichts vom schlimmen Schicksal:
Forced to make love to beautiful women!
Weitere tolle moralisch bedenkliche Cover, von deren Botschaft ich mich hiermit ausdrücklich und rückhaltlos distanziere. (Das Leben ist aber so, man muß den Tatsachen ins Gesicht sehen. Nützt ja nix.)
Freitag, 10. Dezember 2004
Nachtigallen erfreuen uns Menschen mit ihrem Gesang.
Sie tun nichts Böses, sie picken weder die Saat
aus dem Boden noch nisten sie in Maisschuppen,
sie singen sich nur für uns das Herz aus der Brust.
Darum ist es eine Sünde, auf eine Nachtigall zu schießen.
(Harper Lee. Wer die Nachtigall stört. 1962.)
Atticus Finch lebt nach einer "einfachen" Moral: Nur seinem Gewissen verpflichtet. Ein friedfertiger Mensch, der nur zur Waffe greift, um den tollwütigen Hund zu erschießen. Der seinen Kindern rät, wenn schon, dann auf Blauhäher anzulegen. "Vergiß nicht, daß es Sünde ist, auf eine Nachtigall zu schießen."
Atticus Finch ist allerdings eine Idealfigur, die außerhalb von Romanseiten kaum existieren könnte. Ein altes Sprichwort sagt, wer sich mit den Hunden schlafen legt, wacht mit Flöhen wieder auf. Vielleicht ist er auch selbst ein Hund und wußte es nur vorher nicht. Sicher, auf ihn wird mit Fingern gezeigt. Sicher, er wird von seiner Gemeinde, der Community, verspottet und für seine "Tat" verachtet. Ein moderner Atticus aber würde auch wirkliche Fehler machen, gebrochener sein.
Um eines wäre er jedenfalls bemüht: Die Unschuldigen zu schonen.
Mittwoch, 8. Dezember 2004
Seit Wochen nerve ich die mit mir sozial interagierenden Menschen damit, daß ich neue Schuhe brauche. Ungünstigerweise weiß ich genau, was ich will, besser aber noch, was ich nicht will. Derbe, klassische Schuhe (keine Halbschuhe), aber nicht zu schwer, gern auch mit Haken, statt mit Ösen. Schuhe, die auf der Bühne trüge, wenn ich in Linz im Aturo Ui spielen würde. Aber keine Docs oder Rangers. Die sehen nur mit Stahlkappe gut aus, aber dann wiegen sie Tonnen. Und außerdem habe ich ja davon bereits ein Paar.
Nun ist es in Hamburg sozusagen unmöglich, vernünftige Herrenschuhe zu kaufen. In dieser durchnüchterten Hansestadt liebt mann das Unauffällige. Schnullianzug und Schnullischuhe, so sieht es aus in der Stadt der gepfefferten Kaufmannsseele. Es gibt entweder Schühchen - Slipper mit Troddeln vorne dran, ab dem 15. März dann ohne Socke drin, um Weltläufigkeit zu demonstrieren. Oder den rustikalen Allwetterschuh mit wasserabweisender Spezialbeschichtung und Sohlen aus Monstertruckreifen. Wer aus der Reihe tanzen oder im Rotlicht wirken will, auf den wartet der sogenannte Ludenschuh. Winklepickerspitze Treter aus vielfarbigem Schlangenleder, deren Sohlen sich wie von selbst mit dem Pflaster rund um die Reeperbahn verbinden. Man sieht sie aber auch in den Außenbezirken - und beim Großfilialisten in der Jugendabteilung.
Heute dachte ich mir, kaufe ich also lieber eine Hose. Nun geht ein Vorurteil so: Die Norddeutschen sind alle schlank und hochgewachsen. Das trifft sich gut, glaubte ich immer. Denn ich bin schlank und hochgewachsen. In der Hosenabteilung einer bekannten Modekette fand ich auch eine hübsches, derbes Modell, das vorzüglich zu meinen noch zu erwerbenden Schuhen passen würde. Der Preis - ein Geschenk. Aber was hingen da für Größen? 39/26 beispielsweise. Oder 52/32. Wer trägt so was? Werden hier kurzbeinige Pfeffertonnen bekleidet? In meiner Größe jedenfalls hing dort nichts.
Spaßeshalber also mal rüber zu den Schweden und auf jugendlicher Maxe gemacht. In der Herrenabteilung weiß ich ja nie, ob ich nicht doch bei den Frauen gelandet bin, wenn ich die rosafarbenen Pullöverchen oder angetuschelten Fransenjäckchen sehe. Aber gut, die Zielgruppe geht bis ungefähr 23einhalb, und ich bin hier nur Gast. Also Maul halten und Hose suchen. Als ich eine anprobiere, die angeblich meine Größe haben soll, trifft mich kurzzeitig ein schneidender Schmerz, wie morgens, wenn ich mir Japanöl in die Augen träufel, um schneller wach zu werden.
Der Schnitt heißt "Slim Fit", ist aber kein Diät- sondern offenbar ein Kastrationsprogramm. Wie zum Teufel bekommt man da etwas unter, was über die Größe eines Tamagotchis hinausgeht? Was haben die Schweden vor? Eines ist jedenfalls klar: Diese Jugend pflanzt sich nicht mehr fort.
Die anschließende Magenschwäche bekämpfte ich mit einem Teller Linsensuppe auf dem Weihnachtsmarkt. Ein Linsengericht, genau das richtige. Lecker, nahrhaft, günstig. Mehr kann ich mir ab 2005 sowieso nicht mehr leisten, wenn ich die Wirtschaftsmeldungen für meine Branche richtig interpretiert habe.
Auf dem Rückweg - nach wie vor ohne neue Hose - erspähe ich plötzlich ein Paar Schuhe. Der Preis - wahrlich kein Geschenk. Aber nun bin ich es leid. Ich schlage zu, obwohl ich fortan sozial geächtet sein werde. Denn sie sind - nun ja, braun. Fatal: Jetzt brauche ich also noch Schuhe für nach 18 Uhr.
Montag, 6. Dezember 2004
Als ich heute am Kanal entlang durch die Kleingartenanlage flanierte, bemerkte ich durch eine subtile Lichtführung, daß ja bald Weihnachten ist. Zum Nikolaus widme ich meinen Lesern also dieses dokumentarische Bild meines Nachmittagspaziergangs.
Ich hoffe, ihr ward alle brav. Wer es nicht war, darf sich dann privat bei mir melden.
PS: Das Reh, das da irgendwo in diesem Bild versteckt ist, kann sogar automatisch den Kopf senken und heben. Ganz groß.
Die schöne Geliebte vergiftete ihn mit der Unlogik ihrer Liebe, mit der intermittierenden Veränderlichkeit ihrer Zärtlichkeit, mit der kalten Bosheit ihrer unter Starkstromspannung stehenden Nerven. Heute stieß sie ihn mitleidlos zurück, nachdem sie ihn mit den herzlichen Worten der einfachen Geliebten zu sich gerufen hatte; morgen peinigte sie ihn mit der ins einzelne gehenden Schilderung eines an ihm begangenen Verrats, und wenn sie sah, wie die Anzeichen einer ausbrechenden Raserei seinen Blick trübten, heilte sie ihn mit perfider Weicheit: "Kind! Ich habe dich nicht betrogen. Warum bist du nicht gekommen? Ich habe dich erwartet."
(Pitigrilli. Die Jungfrau von 18 Karat. 1927.)