Rustikale Landpartie


Berlin empfängt mich mit der knackigen Kälte eines in massige Häuserschluchten gefangenen Kontinentalklimas. Am Bahnhof Zoo wechsel ich in ein schnelleres Auto, an dem zwei Reifen just am Morgen noch aufgestochen wurden (nü, das ist Berlin). Die jüngere Kollegin holt mich ab. Wir kennen uns nicht wirklich und machen Smalltalk, während Blutengel aus den Lautsprechern sickert. Sie kommt aus dem rauhen Osten und erzählt ein paar noch rauhere Geschichten, während sie sich nu aber icke an verhuschten Kleinwagenfahrerinnen auf dem nachgerade überschmückten Ku'damm vorbeidrängt. Ich taste nach dem Haltegriff der Beifahrertüre.

"Nü, dann hup' halt!" grient sie ungerührt, als sich auf der Stadtautobahn drohend ein Tanklaster am Heckfenster aufbaut. "Hier ist 60, ich fahr doch schon 100", schüttelt sie den Kopf. Ich fische nach meiner Reisetablette.
"... fährt der Typ meine Katze tot!" dringt plötzlich an mein Ohr.
"Ist ja frech", antworte ich geistesabwesend.
"Nü, hatte der aber sonne gebrochene Nase", ruft sie fröhlich.
"Nü? Äh, wie jetzt?"
"Na, icke zu dem hin, feixt der mich an und sagt, er hätt' es mit Absicht getan."
"Unverschämter Kerl!"
"Nü. Hab' ich halt rot gesehen. Hatte der meine Faust im Gesicht."
"Du bist anscheinend recht impulsiv."
"Na ja", fügt sie nach einer kleinen Pause nachdenklich hinzu. "Ich hab mittlerweile einiges gelernt..." - wohlwollend blicke ich zu ihr rüber - "... wie man Menschen wehtut."

Ich sage nichts und überprüfe nervös, ob es noch ein Mobilfunknetz gibt. Wir sind jetzt weit außerhalb Berlins, fahren durch ein stockdunkles Wäldchen. "Gestern war hier ein schwerer Wildunfall. Sah häßlich aus", erzählt sie.
Es gibt kein Mobilfunknetz.

Schließlich sind wir da, ein rustikales Wochenendhäuschen irgendwo an einem Spreeseitenkanal. Eine Hölle aus dunkelgebeiztem Holz, Kuckucksuhren und ererbten Möbeln. "Wie ich immer sage, hier hört einen keiner schreien, haha. Du hast hoffentlich keine Angst," fragt sie und schaut mich auf einmal an.
"Nein", lüge ich. "Ich mache mir nur Sorgen um meine Nase, haha." Es ist eisig kalt. Fröstelnd klappe ich den Mantelkragen hoch und versuche, die Dunkelheit mit meinen Blicken zu durchdringen. Irgendwo dahinten liegt der Bootssteg. "Nachts schleicht hier einer ums Haus. Der hat mir auch die Reifen zerstochen. Was bin ich froh, daß ich heute nicht alleine hier schlafen muß!" Aufmunternd schaut sie mich an. "Ich brech dem die Nase", beruhige ich sie und huste, weil meine Stimme nach oben gerutscht war.

Nach überstandener Nacht in einem eiskalten Bett erledigte ich schnell noch das Pflichtprogramm. Russische Avantgarde im Gropius-Bau, Topographie des Terrors, dann eine kleine interessante Schau von biologischen Modellen an der Humboldt-Universität. Überdimensionierte Kartoffelkäferlarven (die amerikanische Krankheit, man erinnert sich) und Glasmodelle von filigranem Tiefseeweichgetier. Hübsch und zerbrechlich. So war meine Kollegin auch.

Homestory | 23:00h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
ker0zene - Donnerstag, 16. Dezember 2004, 12:14
Wunderbar geschrieben ...
... aber deshalb komme ich ja auch hier her.
Was ich mich nun noch frage: Was war denn nun der Grund für die Reise in die tiefen Wälder?

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kid37 - Donnerstag, 16. Dezember 2004, 19:20
Oh, ab und an mache ich schon mal Hausbesuche für die Gartenzwergfabrik. Da werden dann ganz individuelle und spezielle Modelle angefertigt. Brad Pitt, Weihnachtsengel, Frauen in hohen Stiefeln... so was halt.

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yvonnesonne - Donnerstag, 16. Dezember 2004, 12:31
ja, diese glasmodelle! ich hab die mal in london gesehen - wenn es die gleichen sind, schon eher älter und einfach wunder wunderschön. darf ich sie um ein foto anbetteln? haben sie eines gemacht? *schwärm*

bin ich froh, daß ihre nase noch ganz ist. wie ich immer sag: frauen sind auch gefährlich.

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kid37 - Donnerstag, 16. Dezember 2004, 16:17
Ich schaue gleich mal, was ich noch für Bilder habe. Das waren Modelle aus dem Fundus der Uni dort. Ich könnte mir aber denken, daß die aus derselben Quelle stammen, wie die in London. Sie erinnerin sich, als wir die Wachsmodelle aus dem 18. Jhd. im Josephinum gesehen haben? Die wurden ja in Florenz gefertigt, wo es noch heute eine große Sammlung gibt. Mir fielen neulich noch die tollen Schaukästen mit dem gewölbtem Glas ein.

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yvonnesonne - Donnerstag, 16. Dezember 2004, 18:46
cool, danke!

an das josephinum hab ich auch unlängst gedacht, eine freundin von mir war dort. ihr lehrer in anatomie hat zu ihr gesagt, daß diese alten wachsmodelle viel echter aussehen als echte menschen, auch wenn das paradox klingt.

wenn ich mal nach hamburg komme nehme ich ihnen den glassturz mit, bei mir verstaubt er am dachboden und sie können ihn vielleicht als requisite verwenden. zusammen mit barbie, die immer noch wartet ;)

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kid37 - Donnerstag, 16. Dezember 2004, 19:14
Die Wachsmodell sind wirklich verblüffend. Ich fand die auch besser, anschaulicher als die Präparate auf der "Körperwelten"-Ausstellung. Auch wenn ich nur Laie bin, was die medizinisch-anatomischen Details angeht.

Beeilen Sie sich mal mit Hamburg. Sonst bin ich hier schon weggezogen. ;-)

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yvonnesonne - Freitag, 17. Dezember 2004, 11:07
echt, ziehen sie um? das klingt romantisch. aber ich fahre demnächst nach deutschland. muß mal hier raus.

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juniorprofi - Freitag, 17. Dezember 2004, 04:20
Auch ich
habe in Berlin die Hölle gesehen. Im organischen Supermarkt nämlich: wo die Anthroposophin ihre geistig behinderte Schwester herumgescheucht, die ehemalige Autonome Wein gekauft, die Limonade schlecht geschmeckt und der Fruchtsaft fünftausend Euro gekostet hat.
Weh mir!

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kid37 - Freitag, 17. Dezember 2004, 19:39
Man sollte sich das Gebahren dieser Stadt nicht zum Beispiel nehmen. Ich hab's versucht, wollte großmännisch tun. Aber mir herrscht da zuviel Terror. Ich bleibe ein Junge aus der Provinz.

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